1914-11-04-DE-004
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Quelle: DE/PA-AA/R 22403
Zentraljournal: 1914-A.H.-2075
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Telegramm-Abgang: 11/04/1914 02:30 PM
Telegramm-Ankunft: 11/04/1914 06:10 PM
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 927
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt (Zimmermann) an das Große Hauptquartier (Jagow)

Telegraphischer Bericht



Nr. 927.

Berlin, den 4. November 1914

Der K. Botschafter in Konstantinopel telegraphiert unter Nr. 1205. [Datiert vom 3. November 1914, aufgegeben am 2. November]

„Nach Ausbruch der Feindseligkeiten im Schwarzen Meer war die erwartete Kabinettskrise ausgebrochen. Großwesir warf seinen Kollegen und auch österreichischem Botschafter und mir vor, ohne sein Wissen die Aktion gegen Rußland begonnen zu haben. Er erklärte in keinem Fall die Verantwortung für das Geschehen übernehmen zu können und deshalb demissionieren zu müssen. Said Halim hatte sich in der ersten Erregung verleiten lassen, dem englischen Botschafter zu erklären, daß er im Fall der Abreise des letzteren zurücktreten müsse. Mallet hatte noch kurz vor seiner Abreise den Großwesir ausdrücklich an dieses Versprechen erinnern lassen.

Gestern erscheint bei mir Talaat Bey, Halil und Enver, um mit mir die nunmehr eingetretene Situation zu besprechen. Sie führten aus, daß sie mit ihren näheren Anhängern unter allen Umständen an dem Bündnis mit Deutschland festhalten würden und dafür einträten, daß das Comité und das Volk uns und sie nicht im Stich lassen würden. Bedauerlich sei aber die Rücktrittsabsicht des Großwesirs, die zu einer Spaltung des Comités führen, Interpretationen in der Türkei und im Ausland hervorrufen könnte. Sie wollten versuchen Großwesir umzustimmen, obwohl dieser kurz vorher dem österreichischen Botschafter auf das bestimmteste versichert hatte, daß er zurücktreten und das Land der Anarchie überlassen würde.

Heute suchte mich Halil auf, um mir die Mitteilung zu machen, daß in der vergangenen Nacht eine Besprechung sämtlicher Minister und des Ausschusses des Comités bei Großwesir stattgefunden habe. Talaat Bey habe namens Partei dem Großwesir gesagt, daß, nachdem er den Vertrag mit Deutschland unterzeichnet habe, er auch die Verantwortung für alle Folgen dieser Unterzeichnung zu tragen habe. Die Majorität des Ministeriums würde zurücktreten, wenn Großwesir sich weigere, seinen Pflichten gegenüber dem Vaterland und dessen Verbündeten nachzukommen. Said Halim erklärte darauf, bleiben zu wollen. Halil führte weiter aus, es komme jetzt alles darauf an, die Harmonie im Komitee wieder herzustellen und den Gegnern der jetzigen Politik der Türkei den Wind aus den Segeln zu nehmen. Von Djavid, der Großwesir beherrsche und den näheren Freunden Djavids werde behauptet, daß der mit Deutschland und Oesterreich geschlossene Vertrag der Türkei garkeine Vorteile biete, da in jedem Fall nach Beendigung des Krieges die Türkei während der Dauer des Vertrages von keiner der erschöpften Großmächte angegriffen würde. Die Gefahr für die Türkei beginne erst nach 5 Jahren, dann aber stehe die Türkei ihnen schutzlos gegenüber. Außerdem biete der Bündnisvertrag nur Garantien gegen Rußland, nicht aber gegen England, Frankreich und eine Koalition kleinerer Mächte. Um der Partei Djavids entgegentreten zu können, bitten Talaat Bey, Halil, Helfferich und Djemal, daß unserem Vertrag ein Annex beigefügt werde, der den Vertrag auf zehn Jahre verlängert und für diesen Zeitraum die Türkei auch gegen Frankreich, England und die Koalition kleinerer Staaten sicherstellt. Ferner wird gewünscht, daß Deutschland sich verpflichte, seinerseits nicht die Initiative zur Wiedereinführung der Kapitulationen zu ergreifen. Dafür wolle die Türkei sich verpflichten, Deutschland als meistbegünstigte Nation zu behandeln, falls von anderen Mächten die Kapitulationen wieder eingeführt werden würden. Außerdem werde die Türkei sich verbindlich machen, Deutschland und Oesterreich in jedem Konflikt, in den dieselben verwickelt werden würden, mit ihren gesamten Streitkräften als Bundesgenosse zur Seite zu stehen.

Markgraf Pallavicini und ich sind der Ansicht, daß die Homogenität des Kabinetts hergestellt und der Großwesir vorläufig bleiben muß, damit die Aktionskraft der Türkei nicht lahmgelegt wird, daß Bündnisvertrag keine Macht ultra posse engagiert, daß anderernfalls wir siegen, wir auch die Kraft besitzen werden, die Türkei zehn Jahre lang vor Angriffen zu behüten und daß wir alles daran setzen müssen, die türkische Regierung für die bevorstehende Wahrscheinlichkeit schwerer Zeiten so widerstandsfähig wie möglich zu machen. Wir haben aber Bedenken, der Türkei eine Sicherung gegen England zuzusagen, da wir im Falle eines englisch-türkischen Konflikts wahrscheinlich materiell nicht in der Lage sein würden, der Türkei militärische Hilfe zu leisten. Möglich wäre dagegen, uns der Türkei gegenüber auch bezüglich Englands für den Fall zu engagieren, daß England mit Frankreich, Rußland oder einer Balkankoalition gegen die Türkei losschlägt. Da der Vertrag sowieso nur mit unserer Einwilligung veröffentlicht werden könnte, so würde er zunächst nur im engsten Kreise des Komitees zur Beschwichtigung der Bedenken verwendet werden können und eine Genugtuung für den Großwesir bedeuten, der sich von uns hintergangen fühlt.

Markgraf Pallavicini und ich befürworten daher die Ausdehnung des Vertrags mit der gedachten Einschränkung. Da es darauf ankommt, die Unstimmigkeit im Kabinett, die vorläufig stark hemmend wirkt, so schnell wie möglich zu beseitigen, erbitte um Beschleunigung Instruktion.“

Nach Lage der Verhältnisse glaube ich den Vorschlag des Botschafters befürworten zu müssen. Darf direkte entsprechende Instruktion nach Konstantinopel anheimstellen.


[Zimmermann]

[Bethmann Hollweg 4.11.an Zimmermann (No. 97)]


Auf Tel. No. 927.

Jetziger Weltkrieg ist nicht zum wenigsten durch Uebertreibung und Ausbreitung des Bündnißsystems hervorgerufen. Nach Friedensschluß wird man suchen müssen, sich vom cauchemar des coalitions möglichst zu befreien. Unter diesen Umständen haben wir uns an sich nur schwer entschlossen, formelles Bündnis mit Türkei einzugehen und erachten weitere Ausdehnung desselben für principiell bedenklich.

Ausdehnung des Bündnisses gegen alle Staaten würde neue Grundlage zu neuem allgemeinem Coalitionssystem bilden, was wir principiell vermeiden möchten.

Die Erhaltung und der Schutz der Türkei ist uns durch unsere Interessen geboten und gehört zu den leitenden Prinzipien unserer Politik, die wir wie bisher auch ohne erweitertes Bündniß befolgen müssen. Die jetzige Waffenbrüderschaft verdichtet zudem diese Interessensolidarität. Geht unsere Gruppe aus dem jetzigen Krieg siegreich hervor, so hat Türkei in absehbarer Zeit auch von England nichts zu fürchten, denn der Kampf geht um die Vernichtung der Weltherrschaft Englands. Sollten wir unterliegen oder geschwächt werden, so würden wir trotz Bündniß voraussichtlich nicht in der Lage sein Türkei gegen alle Coalitionen & Eventualitäten zu schützen. Aber auch die Türkei würde dann durch erweitertes Bündnis nur unerfüllbare Pflichten übernehmen.

Angesichts Entwicklung Unterseebootwesens ist englische Seeherrschaft bereits jetzt erschüttert; schafft Türkei selbst U-Boot-Flotte, hat sie von keiner Mittelmeermacht mehr etwas zu fürchten. Unser Bündniß mit Türkei läuft für 5 plus 5 Jahre (nach Analogie unserer anderen Bündnisse) ist also schon jetzt auf 10 Jahre vorgesehen, falls nicht ganz besondere Ereignisse Kündigung nach 5 Jahren erforderlich machen. Bedenken Djavids daher nicht stichhaltig.

Jetziges Losschlagen der Türkei ist nur Erfüllung ihrer Bündnißpflicht, Großwesir hat Vertrag unterschrieben, damit würde er auch bei Rücktritt vor seinem Land wie vor der Welt und England verantwortlich für Ereignisse bleiben. Mit Zusicherung bezüglich Capitulationen einverstanden.

Bitte entsprechend an Botschaft Constantinopel telegraphieren.



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