1914-11-13-DE-006
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Quelle: DE/PA-AA/R 19923
Zentraljournal: 1914-A-30783
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 11/14/1914 a.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Chef des Admiralstabs der Marine (Henning von Holtzendorff) an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt (Zimmermann)

Schreiben


Berlin, den 13. November 1914

Sehr verehrter Herr Unterstaatssekretär!

In der Anlage schicke ich Ihnen Abschrift eines Briefes aus Konstantinopel, der von einem Verwandten von mir, welcher unten bei der Marine ist, stammt und den ich natürlich ganz vertraulich zu behandeln bitte. Er wird Sie aber sicher interessieren, da er ein ganz gutes Stimmungsbild gibt.

In alter Verehrung mit herzlichsten Empfehlungen,

Ihr aufrichtig ergebener


Holtzendorff.
Anlage
Therapia, 26. Oktober 1914.

„Deine Ausführungen über unser Verhältnis zu Liman und die Operationen gegen Russland und Egypten führen mich dazu, Dir nachstehend kurz meine Ansicht der hiesigen Lage zu schreiben, mit der Bitte, vom Inhalt Capelle, und soweit es Dir angezeigt erscheint, auch Müller gegenüber vorsichtig und vertraulich Gebrauch zu machen. Lotte, die mir in ihrer klarblickenden Art von törichten Gerüchten über Usedoms Zögern schrieb, erhält Abschrift hiervon.

Die Verzögerung in der Entwicklung der Dinge hier im Orient beruht, wie ich schon schrieb, in erster Linie auf dem Fehlschlag der Wangenheimschen Hoffnung, ein Bündnis Türkei-Bulgarien-Rumänien zustande zu bringen. Dazu kommen innerpolitische Widerstände, die jetzt aber zum Teil überwunden sind. Das Ziel für das türkische Eingreifen kann - von unserem deutschen Standpunkt aus betrachtet - eine direkte Entlastung unserer eigenen Kriegsführung oder eine Schädigung unserer Gegner im weiteren Sinne sein; es muss aber unter allen Umständen auch ein türkisches Ziel sein. Andernfalls, d.h. wenn die Türkei in den Krieg gezogen würde in einer Weise, die ihren Interessen nicht in erster Linie dient, würden wir mit dem ersten Fehlschlag nicht nur die augenblickliche Mitwirkung des Islams, sondern die ganze zukünftige deutsche Orientpolitik aufs Spiel setzen. Man darf nicht vergessen, dass sowohl England wie Russland jederzeit, auch nach noch so viel Verlusten, eine reuig in die Arme der Triple-Entente fallende Türkei mit Freuden aufnehmen und mit so viel Milliarden ausstatten würden, wie verlangt werden.

Für die türkische Kriegsführung kommen folgende Ziele in Frage

1. Auf dem Balkan der Angriff auf Serbien, der Oesterreich entlasten, aber voraussichtlich Griechenland zu den Waffen rufen würde.

2. Die Unterstützung des rechten österreichischen Flügels, falls ein Durchstoss durch Serbien oder ein friedlicher Durchmarsch durch Bulgarien u. Rumänien oder eine Landung an der rumänischen od. russischen Küste möglich sind.

3. Vorgehen gegen Russland im Kaukasus, von besonderer Bedeutung wegen der Befreiung der dortigen Mohamedaner und der damit verbundenen Wirkung auf den gesamten Islam, dagegen von geringerer direkter Bedeutung für den europäischen Krieg.

4. Sperren des Suezkanals und Vorgehen gegen Egypten, von grösster Bedeutung für die Erschwerung der englischen Verbindungen und damit für die Erschütterung des englischen Ansehens; ferner für die erhoffte Erhebung des Islams.

5. Der Kampf gegen die russische Schwarze-Meer-Flotte und gegebenen Falls kleine Unternehmungen gegen die feindlichen Streitkräfte vor den Dardanellen.

Im hiesigen Grossen Hauptquartier war als Hauptoperation ausgearbeitet der Gedanke einer Landung in der Nähe von Odessa. Eine solche Landung ist nur möglich, wenn Rumänien damit einverstanden ist, d.h. mit der Türkei verbündet oder zum mindesten freundlich neutral, denn Bessarabien ist das ausgesprochene Interessengebiet Rumäniens. Ist Rumänien aber nur schwankend oder gar unfreundlich, wie dies tatsächlich der Fall ist, so muss eine solche Landung den Keim des Misslingens in sich tragen, da die gelandeten Streitkräfte hinsichtlich ihrer rückwärtigen Verbindungen ausschliesslich auf den Seeweg angewiesen und von der Macht, in deren Interessengebiet sie vorgehen wollen, flankiert sind. Die „Seeherrschaft“ in einem solchen Sinne zu gewinnen, dass der Transport mehrerer Armeekorps zu verantworten ist, wird mit den zur Verfügung stehenden Streitkräften jedenfalls nicht auf einen Schlag gelingen; es ist auch zu bedenken, dass die Landungsmöglichkeit an dieser Stelle der Küste recht ungünstig ist und bei dieser Jahreszeit mit tagelangem untätigem Liegen der Transportflotte am Ausschiffungsort gerechnet werden muss. Diese Unternehmung ist m. E. nur möglich, nachdem das Vorgehen der Türkischen Flotte wenigstens eine gewisse Sicherheit gegen Angriffe aller Art auf die Transportflotte (Unterseeboote) geschaffen hat. Aber wenn auch dies erreicht wäre, so bleibt doch das Mitgehen oder garantierte Dulden Rumäniens die Vorbedingung - und von der ist keine Rede.

Es besteht zwischen Wangenheim, Souchon und Usedom völliges Einverständnis darüber, daß diese Operation wenigstens zu diesem Zeitpunkt nicht erwünscht ist, dass dagegen das Vorgehen gegen Egypten von höchstem Wert ist. Dies Vorgehen ist leider nicht entsprechend vorbereitet. So stehen wir heute vor der Tatsache, dass die Türkei, dem fortwährenden Drängen der deutschen Regierung folgend, und durch Envers Versprechungen und seine Loyalität gewissermassen gebunden, bereit ist, gegen Russland loszuschlagen, was aber rebus sicstantibus nur bedeuten kann: Vorgehen im Kaukasus und im Schwarzen Meer, während bis zum Beginn wirksamer Operationen gegen Egypten noch rund 4-5 Wochen vergehen werden, und für einen Krieg gegen Serbien noch das bulgarische Einvernehmen fehlt. Dass dies ein nicht sehr glücklicher Zeitpunkt für den Beginn des Krieges ist, bedarf hiernach wohl keiner Betonung. Wenn unsere Regierung das sofortige Losschlagen dennoch dringlich verlangt, so muss das entweder an zu optimistischer oder nicht erschöpfender Berichterstattung der hiesigen Stellen liegen oder an politischen oder militärischen Gründen, die wir hier nicht kennen. Soweit sich die Verhältnisse hier übersehen lassen, wäre es entschieden besser gewesen, mit dem Losschlagen zu warten, bis es überall gleichzeitig losgehen kann. Die Tatsache, dass die Vorbereitungen gegen Egypten noch so weit im Rückstande sind, ist uns (Usedom und mir) bisher nicht bekannt gewesen; hier liegt m.E. auch ein Missgriff Envers vor, denn er müsste das grösste Interesse daran haben, die Möglichkeit wirksamen Vorgehens in Egypten für die Gesamtaktion abzuwarten, hat dies aber - wenigstens uns gegenüber - nie zur Sprache gebracht.

Die Rolle der deutschen Militärmission bedarf einer kurzen Beleuchtung. Der Wunsch, unmittelbar der deutschen Kriegsführung zu helfen, überwiegt bei ihr das Verständnis für die Notwendigkeit, der türkischen Kriegsführung türkische Ziele zu setzen. Dazu kommt ein unverkennbar persönlicher Ehrgeiz des Chefs dieser Mission und ein bedauerlicher Mangel an Fühlung zwischen ihm und der Botschaft.

Für die persönliche Behandlung dieser so überaus wichtigen Fragen in ernstester Zeit ist die Tatsache charakteristisch, dass hier, und wie ich höre auch in Berlin, das Gerede verbreitet wurde, die Marine hielte das ganze auf und speziell Usedom sei zu vorsichtig und zu zurückhaltend. Demgegenüber möchte ich feststellen, dass Admiral v. Usedom, der in denkbar loyalster Weise dauernd mit allen massgebenden deutschen Stellen Fühlung gesucht und gehalten hat (bezeichnend für die Einschätzung der Militärmission in Deutschland ist übrigens, dass Usedoms Instruktion ausdrücklich auf Zusammenarbeit mit Wangenheim und Souchon hinwies, Liman aber gar nicht erwähnt), wie jeder von uns den Krieg dringend wünscht.

Usedom hat aber in richtiger Erkenntnis der hiesigen Verhältnisse von vornherein konsequent dazu geraten, das türkische Eingreifen in solche Bahnen zu leiten, die dem eigenen Interesse der Türkei dienen; er hat aus den oben erwähnten Gründen von der Durchführung des Odessaplans in diesem Zeitpunkt abgeraten, als er in dieser Angelegenheit um seinen Rat befragt wurde; er hat andererseits den Botschafter stets in der Richtung der hier einmal eingeschlagenen Politik unterstützt und, was die Hauptsache ist, in seinem Befehlsbereich alles Menschenmögliche zur Sicherung der Meerengen getan; und diese Sicherung ist die Vorbedingung für ein Eingreifen der Türkei in den Krieg. Admiral v. Usedom hat in seiner Berichterstattung den nüchternen u. vorsichtigen Ton angeschlagen, der den hiesigen überaus unklaren Verhältnissen gegenüber der einzig richtige ist; wenn sich hier ein Unterschied gegen die sonstige Berichterstattung ergeben haben sollte, so kann das nur daran liegen, dass dort mitunter der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen ist. Usedom selbst hat keine offensive Aufgabe u. auch keinerlei Einfluß auf den Träger der Offensive, den Admiral Souchon. Es liegt ihm auch nichts ferner als Flaumachen. Ich kann mit aller Bestimmtheit behaupten, dass er niemals auch nur den Versuch gemacht hat, sich in die Absichten oder Pläne Souchons einzumischen. Infolge seiner Stellung und seines Ansehens und der glücklichen Hand, die er gerade in der Behandlung der türkischen Angelegenheiten gehabt hat, ist er aber gerade vom Botschafter häufiger befragt worden und ist dann immer für nüchterne Bewertung aller militärischen und politischen Chancen eingetreten, ohne im geringsten zu vergessen, dass es unsere Aufgabe hier ist, die Türkei zum Kriege gegen die Entente zu bewegen; aber doch zu einem möglichst aussichtsreichen Kriege, nicht zu einem blossen Abenteuer, bei dem alles mit vieler Mühe Erreichte hier aufs Spiel gesetzt würde. So sehr wir alle darauf brennen, endlich an den Feind zu kommen, muss ich meinem Admiral doch gerade in dieser, seiner von allem persönlichen Ehrgeiz freien Stellungnahme durchaus recht geben.

Wenn dieser Brief in Eure Hände gelangt, ist voraussichtlich der Stein längst im Rollen, wie gesagt, der Zeitpunkt zum Losschlagen ist für hiesige Verhältnisse nicht sehr günstig gewählt; dennoch hoffe ich das Beste und vertraue auf die Kraft des Gedankens einer Befreiung der Welt von England und Russland. Mir lag aber daran, Euch ausführlich meine Auffassung der Lage darzulegen, damit Ihr daraus erseht, wie schwierig unsere Stellung hier draussen ist und wie - im Gegensatz zu dem dummen Gerede - gerade Usedom seinen Posten hier vorzüglich ausfüllt. Die Situation ändert sich hier ja täglich und jede Nachricht, die man bekommt, ist unzuverlässig. Wären wir, wie uns anfangs geraten wurde, selbst in eine Meerenge gegangen, so hätten wir nichts erreicht; nur durch unsere Zugehörigkeit zum Gr. Hauptquartier und die enge, stete Fühlung mit Enver haben wir die wesentlichen Dinge erreicht, über die ich in No. 6 schrieb, das ist alles Usedoms Verdienst. Weiss Gott, wir hätten alle lieber ein Gewehr in der Hand und gingen irgendwo aktiv mit vor, Usedom ebenso wie wir alle. Aber wir stehen hier einmal auf Befehl unserer Kriegsleitung, und das Einzige, was uns hochhält, ist das Gefühl, unsere Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen zu tun.

Mit geht es sonst gut; ich war 8 Tage in den Dardanellen, teils mit Torpedobooten tätig, teils zu Pferde auf Erkundigung neuer Geschützstellungen und an der Küste. Ich bin jetzt zum dritten Mal als „Commandant remplaçant“ für ein türkisches Schiff von Souchon angefordert, aber wieder als unabkömmlich von Usedom abgelehnt. Für mich persönlich ist das nicht angenehm, denn natürlich möchte ich aufs Wasser, aber ich kann es Usedom nicht verdenken.

Noch eins: persönlich stehen wir mit den Offizieren der deutschen Militärmission sehr gut; ich halte Fühlung, wo es geht, wie Du auch aus meinem freiwilligen Bericht an Bronsart ersiehst. Es sind aber nicht durchweg taktvolle Leute, sie haben meist gar keine Auslandserfahrung und wenig Verständnis für den Verkehr mit Leuten einer anderen Nation. Wenn sie in Gegenwart der Türken laut über die Türkei schimpfen und über die bevorstehende Teilung Oesterreichs (sic!) reden, (dies herrliche Thema wurde nicht von einem Offizier der Militärmission, sondern einem andern Armee-Offizier ventiliert), oder raisonnieren, dass der „Kaiser sie nicht haben wolle und sie dafür in diesem Lauseland sitzen müssten“, so scheint mir das nicht sehr glücklich. Es tut mir oft geradezu weh, dass unser herrliches Heer hier eine Reihe wenig glücklich gewählter Vertreter hat.“



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