1914-11-30-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 20173
Zentraljournal: 1914-A-32823
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Telegramm-Abgang: 11/30/1914 08:45 PM
Praesentatsdatum: 11/30/1914 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 8
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Reichskanzler (Bethmann Hollweg) an den AA-Vertreter im Großen Hauptquartier (Treutler)

Telegraphischer Erlaß



Nr. 8.

Berlin, den 30 November 1914.

Sofort!

Euer pp. ist bekannt, dass die Türkei empfindlich an Munitionsmangel leidet und zur Sicherung der Dardanellen Nachschub von Minen erforderlich ist. Das nötige Material liegt hier und in Ungarn bereit, kann aber nicht nach der Türkei befördert werden, da der Seeweg ausgeschlossen ist, Rumänien der Durchfuhr einen nur mit Gewalt zu brechenden Widerstand entgegensetzt und die Benutzung der Donau sich wegen der serbischen Batterien bei Orsowa verbietet. Ein Transportweg nach dem Südosten kann, solange nicht Serbien bezwungen ist, nur durch Besetzung der serbischen Nordostecke geschaffen werden. Hierzu sind 30 - 40000 Mann erforderlich. Da Österreich-Ungarn behauptet, diese Truppen allein nicht stellen zu können, müssen wir zur Hilfe kommen. Schicken wir nur 20000 Mann, so dürfte unser Verbündeter schon wegen seines Prestige alsbald die gleiche Zahl verfügbar machen, im Notfall müsste er Bosnien oder die italienische Grenze vorübergehend entblössen. Ist die Wegnahme von Truppen aus dem Osten oder Westen nicht möglich, so müsste das für Serbien bestimmte Detachement aus älteren Jahresklassen der Landwehr oder des Landsturms oder aus Truppen zusammengestellt werden, die sich noch in der Ausbildung befinden. Ist erstklassiges Material nicht verfügbar, so müssen wir uns mit zweitklassigem behelfen. Der geringfügige Einsatz von 20000 Mann würde sich glänzend bezahlt machen:

Erstens die Türkei und die Perspektiven auf Egypten, Indien und die islamitische Bewegung blieben uns erhalten,

zweitens Bulgarien würde sich uns anschliessen,

drittens Rumäniens Neutralität wäre gesichert, seine schliessliche Kooperation nicht ausgeschlossen,

viertens der russische Transport von Mannschaften und Kriegsmaterial nach Serbien wäre unterbunden ,

fünftens Lebensmittel und Rohstoffe für Deutschland könnten aus Bulgarien und der Türkei bezogen werden,

sechstens Rumänien verlöre die Lust, uns bei der Durchfuhr seiner Produkte nach Deutschland Schwierigkeiten zu bereiten.

Andererseits wären die Folgen weiteren Zögerns unabsehbar. Ohne Munitionsnachschub kann die Türkei den Krieg nur noch wenige Wochen fortsetzen. Schon jetzt macht sich in türkischen Kreisen lebhafte Beunruhigung und die Auffassung bemerkbar, dass die Pforte Frieden schliessen müsse, wenn die Transportfrage nicht in kürzester Frist geregelt sei. Auch der hiesige türkische Botschafter hat sich vertraulich einem Bekannten gegenüber in diesem Sinne geäussert und von einer Frist von 10 Tagen gesprochen. Schon wegen der zahlreichen Reichsangehörigen und unseren großen wirtschaftlichen Unternehmungen im Orient können wir es nicht darauf ankommen lassen, dass die Türkei sich in Unfrieden von uns trennt. Verharrt die Heeresleitung auf dem bisher trotz aller Vorstellungen vertretenen Standpunkt, dass keine Truppen verfügbar seien, so müssen wir das Praevenire spielen und selbst der Türkei zum schnellen Friedensschluss raten. Jetzt würden unsere Gegner die Türkei noch in Gnaden wiederaufnehmen, wenn sie „Goeben“ und „Breslau“ ausweist, die Militär- und Marinemission entlässt und sich auf der ganzen Linie von Deutschland lossagt. Verpassen wir den Zeitpunkt, so würde sich der Zorn des enttäuschten Islams gegen uns wenden und verhängnisvollsten Schaden anrichten. Unsere wirtschaftliche und politische Stellung im Orient, insbesondere das von seiner Majestät inaugurierte Werk der Bagdadbahn wäre in beiden Fällen schwer gefährdet.

Sofortiges Handeln ist ferner wegen der zur Zeit noch neutralen Balkanstaaten erforderlich.

Gestern erschien hier der deutschfreundliche Vertrauensmann des mazedonischen Komitees Dr. Totchkoff aus Sofia. Er erklärte, dass seine Partei die gegenwärtige Krise unter allen Umständen zur Verwirklichung ihres Ideals, der Befreiung Mazedoniens, benützen wolle. Das Komitee wünsche sein Ziel an der Seite der Zentralmächte zu erreichen, da so das ganze serbische Mazedonien befreit und der Bulgarischen Regierung ein ernsthafter Krieg erspart würde. Ausser Waffen und Geldmittel zur Ausrüstung mazedonischer Banden forderte er die sofortige Besetzung der serbischen Nordostecke durch Deutschland und Österreich-Ungarn. Denn er könne und wolle seine Regierung nur dann durch eine Erhebung in Mazedonien zum Eingreifen gegen Serbien zwingen, wenn der Nachschub von Kriegsmaterial sichergestellt sei. Erhalte er von Deutschland dieserhalb keine Garantien, so müsse das mazedonische Komitee die Bedingungen der Entente akzeptieren. Die Entente biete nur einen Teil von Mazedonien, die Linie Enos-Midia, und eventuell Rückerwerb des an Rumänien abgetretenen Gebiets bei Silistria, verlange aber Krieg gegen Österreich-Ungarn und die Türkei, eventuell gemeinsam mit Rumänien, das den Russen den Durchmarsch gestatten solle.

Zeigen wir uns weiter in der Transportfrage ohnmächtig, so dürfte es den Anstrengungen der Triple Entente (Gebrüder Buxton in Sofia, Reise des Fürsten Trubetzkoy dorthin) allerdings in Kürze gelingen, Bulgarien zu sich hinüberzuziehen und einen neuen Balkanbund gegen uns ins Feld zu führen. Der Ausgang des Weltkrieges wäre dann zu unseren Ungunsten entschieden. Die sofortige Einleitung der Aktion gegen die Nordostecke Serbiens ist daher für Deutschland ein Gebot der Selbsterhaltung. Dies würde, wenn mit ausreichenden Kräften unternommen, voraussichtlich zugleich die Beendigung des serbischen Feldzuges bedeuten und womöglich auch Russland zum Einlenken veranlassen.

Euer pp. bitte ich Seiner Majestät dem Kaiser und König tunlichst ohne Verzug im vorstehenden Sinne Vortrag zu halten und mir die Allerhöchste Entscheidung zu drahten.


B[ethmann] H[ollweg]



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