1915-03-29-DE-005
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Quelle: DE/PA-AA/R 13441
Zentraljournal: 1915-A.S.-1344
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Telegramm-Abgang: 03/29/1915 08:10 AM
Telegramm-Ankunft: 03/29/1915 09:48 AM
Praesentatsdatum: 03/29/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 764
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an das Auswärtige Amt

Telegraphischer Bericht



Nr. 764.

Pera, den 29. März 1915

Antwort auf Telegramm Nr. 586 {A.S. 1107}.

ad 1. Voraussetzung der russisch-türkischen Verständigung wäre, daß Rußland für das Weiterbestehen der Türkei als vollkommen unabhängiger Staat eintritt, während die Türkei anerkennt, daß ihre eigenen Interessen an der Benutzung der Meerengen und an deren Schutz sowie an demjenigen des Schwarzen Meeres durch eine starke Befestigung der Dardanellen mit den russischen identisch sind. Ich glaube, daß die Türkei heute soweit ist, die russischen Ansprüche auf die militärische Mitbenutzung der Meerengen unter Ausschluß dritter Mächte rückhaltlos anzuerkennen. Sie ist gewillt, die russischen Wünsche zu erfüllen, sobald sie Garantien erhält, daß Rußland alle Ansprüche auf das Land zu beiden Seiten der Meerengen fallen läßt. Praktisch würde sich die Sache so gestalten, daß Rußland mit dem Einverständnis der Türkei und Deutschlands das Londoner Protokoll vom 13. März 1871 ebenso umwerfen, wie es 1870 den Pariser Frieden durchbrochen hat. Daß Rußland zu seiner solchen Gewaltmaßregel bereit ist, ergibt sich aus der Tscharykow’schen Forderung, die Meerengen möchten für die Passage russischer Kriegsschiffe geöffnet werden. Frhr. v. Marschall hat s.Zt. den Tscharkow’schen Vorschlag mit gewichtigen Gründen bekämpft. Die Lage hat sich seitdem aber verändert. Die mit Deutschland verbündete Türkei ist gegen russische Übergriffe besser gerüstet. Aber selbst wenn die Gefahr bestände, daß Rußland sich von den Meerengen aus Konstantinopels bemächtigen sollte, so kann dieselbe gegenwärtig für unsere Beschlußfassung kaum in Betracht kommen. Es handelt sich vielmehr für uns darum, den gegenwärtigen Krieg siegreich zu Ende zu führen und jedes mögliche Mittel dazu anzuwenden. Gelänge es uns, eine Verständigung der gedachten Art zwischen der Türkei und Russen herbeizuführen, so würden wir die russisch-englische Freundschaft mitten durchschneiden. Daß diese Freundschaft bereits ins Wanken gekommen ist, beweisen die russischen Preßstimmen über das Dardanellen-Bombardement. Nach Ansicht unserer Seeoffiziere läßt sich die Durchfahrt neutraler russischer Schiffe sehr wohl ermöglichen, auch wenn die Dardanellen von einer dritten Macht blockiert oder angegriffen werden. Admiral Schack wollte bereits gänzlich auf die Minenlegung verzichten und die Sicherung ausschließlich durch Verstärkung der Landbefestigungen und durch Torpedo-Batterien erreichen. Möglicherweise müssen in dem breiten westlichen Ausgang der Dardanellen trotzdem Minen gelegt werden. Die Herstellung einer Fahrstraße durch dieselbe ohne Gefahr abtreibender Minen läßt sich technisch leicht bewirken. Daß die Durchfahrt neutraler Schiffe von feindlicher Flotte zur Forcierung benutzt werden kann, halten unsere Seeoffiziere für fast ausgeschlossen. Im übrigen ist wohl damit zu rechnen, daß nach dem Abkommen das russische Interesse an der Verteidigungsfähigkeit der Dardanellen ebenso stark ist wie das türkische, und daß daher die Türkei wohl sicher auf die Unterstützung Rußland bei jedem Forcierungsversuche rechnen kann. Nach fachmännischer Ansicht sind die Dardanellen mit nicht allzu hohen Ausgaben leicht so stark zu machen, daß kein Gegner an ihre Forcierung mehr danken kann.

ad 2. In früheren Zeiten hat allerdings dem russischen Volke der Besitz von Konstantinopel als politisches Ziel vorgeschwebt. Die neueren russischen Politiker haben aber Konstantinopel nur ausschließlich deshalb in Besitz nehmen wollen, weil sie sich nicht denken konnten, daß ohne Konstantinopel die freie Durchfahrt garantiert sein würde. Die neueste Anschauung, wie sie Herr v. Giers vertrat, ging dahin, daß das Türkenreich einschließlich Konstantinopel ruhig weiterbestehen könnte, wenn Rußland nur Verfügung über die Meerenge erhielt. In der Tat hat Rußland als Grenznachbar der Türkei ein starkes Druckmittel in der Hand, jeden Versuch der Türken, die Meerengen den Russen zu verschließen, von Armenien aus zu bekämpfen. In einem geheimen Zusatzvertrag zu dem zu schließenden türkisch-russischen Abkommen könnte die Bestimmung aufgenommen werden, daß im Falle einer willkürlichen Schließung der Meerenge durch die Türkei Rußland das Recht erhält, gewisse Teile Armeniens zu besetzen. Vielleicht könnte auch Rußland das Recht eingeräumt werden, bei einer etwa notwendig werdenden Schließung der Meerenge von den Türken gehört zu werden. Äußersten Falls würde sich die Türkei sogar herbeilassen, sich wegen der Ausstattung der Landesverteidigung an den Dardanellen jeweils mit Rußland zu verständigen. Unerreichbar wäre bloß die Einräumung eines Besatzungsrechts Rußlands bezüglich der Befestigungen oder eine Schleifung der Bosporusforts.

ad. 3. Kompensationsforderungen der Türken für die Realisierung der hundertjährigen russischen Wünsche wären durchaus berechtigt; sie werden sich indes im wesentlichen auf Garantien für die selbständige Existenz des osmanischen Reichs beschränken. Hauptsache wäre, daß Rußland ein für alle mal auf sämtliche Kapitulationen verzichtet und einen Handelsvertrag mit der Türkei schließt.

Zweifelhaft ist es mir geworden, ob es sich für uns empfehle, dem russisch-türkischen Abkommen offiziell als Garanten beizutreten. Die Garantie könnte etwas Verletzendes für Rußland haben, und auch die Türkei könnte an ihr im letzten Moment als an einem Ausdruck des Zweifels an der eigenen Verteidigungskraft der Türkei Anstoß nehmen. Tatsächlich besitzt ja die Türkei in dem deutsch-türkischen Bündnis einen ausreichenden Schutzwall gegen russische Übergriffe. Dieser wird noch verstärkt durch den dann neu entstandenen russisch-englischen Gegensatz. In je geringerem Maße wir verpflichtet sind, das russische Verhalten in den Meerengen zu kontrollieren, umsomehr wird die Türkei bemüht, sich unsere Freundschaft im Hinblick auf etwa russische Velleitäten zu erhalten.


[Wangenheim]
[Jagow am 30.3. an Wangenheim (Nr. 628)]

Geheim. Antwort auf Tel. Nr. 764.

ad 3.

Beruhen EE. Überlegungen ad 1 & 2 über Bereitwilligkeit der Türkei auf gelegentlichen Äußerungen der türkischen leitenden Staatsmänner oder auf persönlicher Ansicht? Bitte etwaige Sondierungen vor der Hand noch unterlassen.

Garroni gegenüber größte Vorsicht geboten, da Italien an Verständigung mit Rußland keinerlei Interesse hat solange italienische Wünsche hinsichtlich Trentino nicht erfüllt sind.

Garantie Deutschlands für eventuelle türkisch-russische Abmachungen erscheint auch uns unerwünscht. Behalten wir jedoch wie beabsichtigt Militärmission und beratende Rolle für Ausbau und Instandsetzung der Befestigungen an Meerengen so können wir tatsächlich mitwirken damit eine Vertragspartei vor Übergriffen der anderen bewahrt bleibt.



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