Da hieß es, für neue Flammenherde sorgen. Die Minderung des deutschen Ansehens in der Welt ist einer der wichtigsten Faktoren in den Berechnungen unserer Feinde. Und sie haben diesen Faktor, wie wir zu unserem großen Leidwesen erfahren mußten, nicht erst seit dem Kriegsbeginn wirksam ausgestaltet. Seit Jahrzehnten geht diese Wühlarbeit vor sich; ihre stärksten Werkzeuge sind der Konsularbericht und die Zeitung. Namentlich die Zeitung, das heißt die öffentliche Meinung, deren ungeheure Bedeutung wir so lange übersehen haben, bis uns die Augen gewaltsam geöffnet wurden.
Die Engländer, auf dem von uns gering geachteten Instrument unübertroffene Meister, haben den Erlaß für die ”deutschen Greuel” bald gefunden. Ohne sonderliche Anstrengung. Sie griffen auf ein altes, bewährtes Repertoirestück zurück, das vor gar nicht langer Zeit eine sehr erhebliche Zugkraft auf die öffentliche Meinung ganz Europas ausgeübt hatte. Sie holten es aus ihren Archiven hervor und modernisierten es ein wenig. Nur ganz wenig, wie später eingehend nachgewiesen werden wird. Sie haben sich wirklich nicht in große Unkosten gestürzt. Wir kennen die Weise, wir kennen den Text, wir kennen auch die Herren Verfasser. Ganz genau kennen wir sie.
Man hat lediglich die ”armenischen Greuel” aus den Geheimkammern der englischen Orientpolitik hervorgezogen und sie den Zeitumständen entsprechend appretiert.
Die Kennzeichen dieser armenischen Greuel sind jetzt ganz genau dieselben wie in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Hier das Rezept:
Die revolutionären Armenier werden von England oder Rußland zu Aufständen, zu Empörung und Landesverrat aufgestachelt. Die von tiefster Erbitterung erfüllten Türken, die seit Jahrzehnten diese Zettelungen vergebens zu unterdrücken suchen, nehmen furchtbare Rache. Im Orient reißt man die entfesselte Volkswut alle Schranken der Menschlichkeit, ja oft des Menschlichen nieder; die Rache fordert ungezählte Opfer, darunter viele Schuldlose. Und diese Ausbrüche einer wahnwitzigen Wut werden von den armenischen Verschwörern vorsätzlich und planmäßig provoziert, um die Aufmerksamkeit Europas auf die ”türkische Bestialität” zu lenken und Europa zum Einschreiten zugunsten der Armenier, das heißt zur Lostrennung eines erheblichen Gebietes der asiatischen Türkei von der ottomanischen Herrschaft, zu veranlassen.
Das ist in der Regel der Ausgangspunkt, der Inhalt und der Zweck der ”armenischen Greuel” gewesen.
Die jetzigen haben einen womöglich noch ernsteren Hintergrund. Und sie beleuchten womöglich noch schärfer die englisch-russische Infamie.
Es wird in nicht allzu ferner Zeit aktenmäßig dargelegt werden, daß England mit Hilfe Rußlands und Frankreichs in Armenien eine weitverzweigte Verschwörung angelegt hat zu dem Zwecke, einen allgemeinen Aufstand in dem Augenblick hervorzurufen, in dem die Verbündeten in die Dardanellen eingedrungen wären. Die Engländer hatten den Aufruhr sehr sorgfältig vorbereitet. Die Armenier waren mit Waffen und Munition in großen Mengen, ja sogar mit Polizei-Uniformen für die von den Armeniern zu errichtende provisorische Regierung versehen. Es war die größte Verschwörung, die England je im Orient angezettelt hat, und das will viel sagen. Es war eine Verschwörung, die den Bestand des türkischen Reiches bedrohte, denn ihr Zweck war, Konstantinopel den Verbündeten in die Hände zu spielen. Zum Unglück für die Armenier brach der Aufstand vorzeitig los; gleichzeitig wurde die Verschwörung der türkischen Regierung verraten. Das Strafgericht war furchtbar, traf aber nicht ausschließlich die armenischen Verschwörer. Die Führer des Aufstandes in Arabien, sämtlich Mohammedaner, wurden ebenso grausam bestraft. Der Scheich Abdul Kerim und 21 seiner Anhänger wurden gehängt, 100 andere gepeitscht und zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt.
Es wird in nicht allzuferner Zeit gleichfalls bewiesen werden, daß armenische Revolutionäre in diesem jetzigen Kriege eine Zeitlang die größten Städte des armenischen Hochlandes besetzten und sie den Russen auslieferten. Daß diese armenischen Banden überall mit russischen Waffen ausgerüstet waren, am Van-See mit russischen Truppen gegen die Türkei kämpften, so daß diese Kämpfe sogar in den amtlichen Petersburger Kriegsberichten als ”Siege” verzeichnet wurden. Daß die Mehrzahl der armenischen Bevölkerung in der Asiatischen Türkei sich in diesem Kriege neutral erklärte (!), anstatt für die Türkei gegen Rußland zu kämpfen.
Es wird unter Beweis gestellt werden, daß der englische Konsul in Mersina den Armenier-Aufstand im Vilajet Adana im April 1909 angezettelt hat. Ebenso daß einige Jahre zuvor 40000 Armenier, die an einem Aufstande beteiligt waren, mit Erlaubnis und Hilfeleistung der russischen Regierung nach Kaukasien flüchteten.
Es war die selbstverständliche Pflicht der ottomanischen Regierung, gegen die Landesverräter und Reichsfeinde mit der größten Schärfe vorzugehen. Daneben sind freilich viele, sehr viele Unschuldige mit getroffen worden. Die asiatische Tradition ist aber auch in diesen Dingen anders, als die europäische. Das weiß man in – Rußland ganz genau. Ebenso in England. Die Türken werden mit den armenischen Revolutionären nicht viel grausamer umgegangen sein, als die Engländer in ihrer Kolonialgeschichte häufig genug in Indien und Afrika, als die Russen noch bis in die jüngsten Tage mit den politischen ”Verbrechern” und den Juden verfahren sind. Und die Amerikaner, die eben jetzt wieder den Engländern behilflich sind, eine neue ”armenische Greuel”-Kampagne ins Werk zu setzen, täten besser, an das Märtyrertum ihrer Indianer, Neger und an ihre Sklavenschlächtereien zurückzudenken, an die Bestialität ihrer Lynchgerichte, an die Tausende von Arbeitern, die in den riesigen Lohnkämpfen, die sich drüben abspielten, von Polizei, Miliz und gedungenen Hilfstruppen unbarmherzig niedergeknallt wurden.
In der türkischen Gegenerklärung heißt es:
Diese ständigen Umtriebe haben sich seit Beginn der Feindseligkeiten zwischen dem ottomanischen Reiche und den genannten Regierungen noch verstärkt. So haben ihre Konsuln und anderen Agenten in Bulgarien auf dem Weg über Barna, Sulina und Konstanza Banden junger ottomanischer Armenier nach dem Kaukasus entsendet, und die russische Regierung hat diese jungen Armenier in ihre Armee eingestellt oder sie in die armenischen Zentren des Reiches eingeführt, nachdem sie sie mit Waffen und Bomben, sowie mit revolutionären Proklamationen und Programmen versehen hatte. Sie hatten die Aufgabe, in den Zentren eine geheime revolutionäre Organisation zu schaffen und die Armenier dieser Gebiete, namentlich die Armenier von Van, Schatak, Havassur, Kewasch und Timar zu veranlassen, sich mit bewaffneter Gewalt gegen die kaiserliche Regierung zu erheben. Sie stachelten gleichzeitig zu einem Massaker der Türken und der Kurden auf. In dieser Hinsicht mag folgendes Beispiel angeführt werden:
Infolge der Eröffnung der Feindseligkeiten zwischen dem ottomanischen Reich und Rußland schloß sich der ehemalige ottomanische Deputierte Karakin Pasdirdschjian, der unter dem Namen Garo bekannt ist, der von den Führern der armenischen Komitees ”Tro” und ”Hetscho” gebildeten Bande an. Er überschritt im Einvernehmen mit den beiden genannten armenischen Führern an der Spitze armenischer Freiwilliger, die von Rußland bewaffnet worden waren, die ottomanische Grenze. Bei der Besetzung von Bajasid durch die Russen zerstörte er muselmanische Ortschaften, die auf seinem Wege lagen, und massakrierte ihre Einwohner. Als die Russen aus diesen Gebieten vertrieben wurden, wurde er verwundet und Suren, der Delegierte der revolutionären Verbindung Taschnatzutiun von Erzerum, wurde an seiner Seite getötet. Pasdirdschjian ist jetzt an der Grenze des Kaukasus tätig. Das in Amerika erscheinende Organ der Taschnatzutiun ”Asbasez” bringt seine Photographie, die ihn im Verein mit den Führern des ”Tro” und Hetscho” darstellt, wie sie die religiöse Feier der Eidesleistung vor ihrem Abmarsch in den Krieg begehen.
Diese separatistische Bewegung trat aber in noch schmählicherer Weise hervor durch die Aktion der Armenier, darunter des Toros Oghallou Aghop, bei dem man Papiere fand, die in unbestreitbarer Weise ihre verbrecherischen Ziele bezeugen, welche die englischen Behörden von Zypern unterstützten. Die auf diese Weise verbreitete Agitation hatte unter anderem den Erfolg, die Entgleisung von Eisenbahnzügen hervorzurufen.
Andererseits traten die Befehlshaber der englischen und französischen Seestreitkräfte mit den Armeniern aus der Gegen von Adana, Dentyol, Yumurtalik, Alexandrette und anderen Ortschaften an der Küste in Verkehr und reizten sie zum Aufstand auf.
Was insbesondere die Armenier von Zeitun betrifft, so trat gerade infolge dieser Propaganda die armenische revolutionäre Organisation in Zeitun in Aktion. Schon im Februar hatten die Armenier dieser Stadt die Waffen gegen die kaiserlichen Behörden erhoben und die Residenz des Gouverneurs eingeschlossen. Angesichts dieser Tatsache hatte die kaiserliche Regierung die Pflicht, den Aufstand zu untersuchen und die öffentliche Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Befugnis der Regierung zur Ergreifung aller Maßnahmen, welche die Unterdrückung einer derartigen revolutionären und separatistischen Bewegung notwendig macht, fließt unmittelbar aus den Souveränitätsrechten, was ihr niemand bestreiten kann. Übrigens haben in Kriegszeiten solche Maßnahmen einen besonders wichtigen und dringenden Charakter. Die kaiserliche Regierung sah sich daher genötigt, einerseits die Bewegung mit Truppengewalt zu unterbinden, andererseits die aufrührerischen Armenier zu verhaften, die mit den revolutionären Komitees im Auslande und mit den Agenten der Dreiverbandmächte in Verbindung standen.
Entgegen den Behauptung der drei genannten Regierungen erfolgte die Repressivaktion der kaiserlichen Regierung ohne die geringste Teilnahme irgendwelcher Elemente der Bevölkerung. Die in den Wohnungen der armenischen Revolutionäre vorgenommenen Hausdurchsuchungen führten zur Entdeckung revolutionärer Fahnen und wichtiger Schriftstücke, aus welchen das separatistische Ziel dieser Bewegung hervorgeht. Diese Schriftstücke beweisen überdies, daß die revolutionären Komitees, welche gegenwärtig in Paris, London und Tiflis ihren Sitz haben, den tatsächlichen Schutz der englischen, französischen und russischen Regierung genossen. Die gleichzeitig in der Provinz vorgenommenen Hausdurchsuchungen führten auch zur Entdeckung von Tausenden von Bomben und russischen Gewehren, die sich im Besitz der Armenier befanden. Diese wurden selbstverständlich verhaftet und dem zuständigen Gerichte überwiesen, ebenso wie jene, welche auf Betreiben der englischen und französischen Agenten sich dem Heeresdienst entzogen und zu diesem Behufe auf die Gendarmen geschossen hatten. Die kaiserliche Regierung ist heute auch im Besitze von Schriftstücken, welche beweisen, daß diese Bewegung unter den Auspizien der russischen, englischen und französischen Regierung vorbereitet worden war, und daß der letzte revolutionäre armenische Kongreß in Konstanza beschlossen hatte, in geeigneten Momenten vorzugehen, obwohl er sich öffentlich den Schein geben wollte, als ob er auf die Aufstandsbewegung verzichtet hätte. Die Hohe Pforte wird seinerzeit alle diese Dokumente veröffentlichen, um die öffentliche Meinung aufzuklären.
Dank den von der Regierung ergriffenen Maßnahmen konnte die revolutionäre Bewegung der Armenier unterdrückt werden, ohne daß ein Massaker erfolgte. Diese Maßnahmen bedeuten keineswegs eine Bewegung gegen die Armenier, was daraus hervorgeht, daß von den 77834 Armeniern, welche in Konstantinopel wohnen, bloß 235, die der Teilnahme an der genannten Bewegung beschuldigt sind, verhaftet wurden, während alle übrigen ruhig ihren Geschäften nachgehen und die größte Sicherheit genießen. Wenn gewisse Armenier von ihren Wohnorten entfernt werden mußten, so geschah dies, weil sie Örtlichkeiten bewohnten, die in der Kriegszone gelegen sind, wo ihre Anwesenheit mit Rücksicht auf die angeführten Vorgänge der kaiserlichen Regierung berechtigte Besorgnisse hinsichtlich der Landesverteidigung einflößten.
Die Hohe Pforte betrachtet als ihre Pflicht, jene Maßnahmen zu ergreifen, welche sie für die Sicherung ihrer Grenzen zu Lande und zur See für notwendig hält, und über die sie keiner auswärtigen Regierung Rechenschaft zu geben hat. Ist es nicht paradox, wenn man hört, daß die englische, französische und russische Regierung an die Gefühle der Menschlichkeit appellieren, während die Kommandanten der englisch-französischen Seestreitkräfte vor den Dardanellen die Ambulanzen und Spitäler beschießen und die russische Regierung ihrerseits von den Armeniern tausend friedlich Muselmanen in der Umgebung von Kars massakrieren und sie unbarmherzig verhungern und verdursten oder die im Kaukasus gemachten türkischen Gefangenen von denselben Armeniern durch Kolbenschläge töten läßt? Nicht in der Türkei, sondern in Rußland wurden die Konsuln der kriegführenden Staaten den ärgsten Mißhandlungen ausgesetzt.
Die englischen, französischen und russischen Staatsmänner begnügen sich nicht, den Aufstand der Armenier auf diese Weise vorzubereiten, sie unternahmen auch Versuche, daß muselmanische Element zum Aufstand gegen die Regierung Sr. Majestät des Sultans zu verleiten. Um ihr Ziel zu erreichen, haben sie sogar Verbrechen gegen Personen angestiftet, worüber die Beweise in die Hände der Hohen Pforte geraten sind. Diese unqualifizierbaren Umtriebe wurden selbst in den ältesten Zeiten, welche am meisten durch Greueltaten befleckt sind, nicht erlebt. Die englische, französische und russische Regierung, welche bei den Aufständen und Agitationen im Kaukasus, in Marokko, Ägypten, Indien usw. diese auf die gewaltsamste Weise, durch ein ungewohntes, unmenschliches Verfahren zu unterdrücken sich bemüßigt sahen, sind nicht berechtigt, der ottomanischen Regierung jene Unterdrückungsmaßnahmen vorzuwerfen, welche sie zu ergreifen sich gezwungen sah. Die ottomanische Regierung hat somit in diesen Maßnahmen nur die elementarste ihrer Herrscherpflichten ausgeübt. Die Drohung, daß die Mitglieder der Regierung und die anderen Beamten des Reiches für die erwähnten Unterdrückungsmaßnahmen haftbar gemacht würden, verdient keine Antwort. Viel eher lastet auf den Mächten der Tripelentente die große Verantwortung für die Ereignisse, über die sie glauben sich beklagen zu müssen, da es gerade diese Mächte selbst sind, welche die revolutionäre Bewegung organisiert und geleitet haben. Ihre Erklärung bedeutet nichts anderes als eine offene Unterstützung und Begünstigung der armenischen Unruhestifter.”
Die Ereignisse geben unsern Militärbehörden täglich neue Beweise für das Vorhandensein eines seit langem vorbereiteten und geschlossenen Planes, den die Armenier pünktlich auszuführen fortfahren, indem sie auf der Seite der Russen gegen uns kämpfen.
Diese gesetzwidrige und umstürzlerische Losreißungsbewegung, die bis in die letzte Zeit nur bei der Front und in den benachbarten Gebieten festgestellt wurde, hat sich kürzlich bis in unsere Etappenlinien ausgedehnt. So überfielen am 2. Juni a. St. 500 bewaffnete Armeniern, denen sich Fahnenflüchtige desselben Stammes angeschlossen hatten, die Stadt Charki-Karahissis und griffen die muselmanischen Viertel an, wo sie sämtliche Häuser ausplünderten. Sie verbarrikadierten sich dann in der Zitadelle der Stadt und beantworteten die versöhnlichen Ratschläge der Behörden mit Gewehrfeuer und Bomben, wodurch 150 Zivil- und Militärpersonen getötet wurden. Der letzte Vorschlag der Regierung, der auf die Unterwerfung ohne Blutvergießen abzielte, ist erfolglos geblieben. Unter diesen Umständen sahen sich die Behörden gezwungen, Geschütze gegen die Zitadelle zu wenden, und dank dieser Zwangsmaßnahmen ist es gelungen, dieser Rebellen am 20. Juni Herr zu werden. Ähnlich revolutionäre Bewegungen, die hier und da ausbrechen, zwingen uns, an unseren verschiedenen Grenzen unseren Armeen Kräfte zu entnehmen, um sie zu unterdrücken. Um diese Unannehmlichkeit zu vermeiden und die Wiederholung von Ereignissen zu verhindern, bei denen neben den Schuldigen auch die unschuldige und friedliche Bevölkerung bedauernswerten Schaden erleidet, mußte die Kaiserliche Regierung gegen die revolutionären Armenier gewisse vorbeugende und einschränkende Maßnahmen treffen.
Infolge der Ausführung dieser Maßnahmen sind diese Armenier aus den Grenzzonen und den Gebieten, wo Etappenlinien eingerichtet sind, entfernt worden. Somit sind sie dem mehr oder weniger wirksamen Einfluß der Russen entzogen und dadurch außerstand gesetzt, den höheren Interessen der Landesverteidigung zu schaden und die innere Sicherheit zu gefährden.”
Es handelt sich um nichts weniger als die systematische Ausrottung eines ganzen christlichen Volkes, der Armenier, welche jetzt ins Werk gesetzt wird, weil die vollständige Herrschaft des Islam im türkischen Reich durchgeführt werden soll.
Schon Hunderttausende von Armeniern sind entweder hingemordet, oder müssen, aus ihrer Heimat verschleppt, in den Steppen Mesopotamiens oder anderer Gegenden elend verderben. Eine große Zahl namentlich von Frauen und Kindern ist gezwungen worden, den Islam anzunehmen.
Diese Tatsachen sind festgestellt durch bestimmte Aussagen und Berichte von in jeder Hinsicht einwandfreien Personen, welche ihre Kenntnisse aus eigener Anschauung haben.
Die Unterzeichneten wollen nicht nur das Schweizervolk um Gewährung tatkräftiger Hilfe bitten zur Linderung der Not, welche unter den Überlebenden des unglücklichen armenischen Volkes herrscht. Sie fühlen sich auch verpflichtet, vor aller Welt auf diese Vorgänge aufmerksam zu machen und sich an die öffentliche Meinung aller Länder zu wenden, damit zum Schutz der überlebenden Armenier unverzüglich getan wird, was gegenwärtig in Konstantinopel noch getan werden kann.”
Nicht nur der Aufruf an sich, auch die besondere Art, wie auf das Gefühl der Massen eingewirkt, wie mit groben Pinselstrichen ein Schreckensbild entworfen wird, von dessen Wirklichkeitswert die Unterzeichner keine Ahnung haben, weisen auf England als den intellektuellen Urheber dieser Kundgebung hin. Woher wissen diese Herren das, was sie öffentlich behaupten? Aus welchen Quellen haben sie geschöpft? Wer und wo sind die ”einwandfreien Personen”, die das alles erzählen? Haben die Unterzeichner sich die Mühe genommen oder auch nur Gelegenheit gehabt, sich von der ”Einwandfreiheit” dieser Personen zu überzeugen? Und warum schenken die Unterzeichner dieses Aufrufs den Behauptungen unkontrollierbarer Persönlichkeiten mehr Glauben, als den amtlichen türkischen Erklärungen? Warum reden sie gedankenlos den Unsinn nach, daß es sich um die Ausrottung eines christlichen Volkes handle, daß also die Armenier-Greuel einen religiösen (oder besser gesagt konfessionellen) Hintergrund haben und lediglich dem Zwecke dienen, im ottomanischen Reich alles, was christlich ist, zu vertilgen? Wie viele der Unterzeichner haben von der Geschichte des Armeniertums in der Türkei hinlänglich Kenntnis, um sich ein Urteil erlauben oder gar um Europa gegen die Türkei aufwiegeln zu dürfen?
Ich glaube, alle diese Fragen summarisch beantworten zu können. Diese Herren – und nicht nur sie – stehen, ohne es zu wissen, unter dem Einflusse der raffinierten englischen Stimmungsmache, die seit dreißig Jahren von Zeit zu Zeit einsetzt, so oft England eine türkenfeindliche Bewegung zu irgendwelchen politischen Zwecken braucht. Die ”armenische Frage” ist ein englisches Erzeugnis. Das hat sogar der berüchtigte Lepsius indirekt zugegeben. Der englischen Meisterschaft in der Kunst, in weitesten Kreisen auf das Gefühl und das religiöse Empfinden zu wirken, sich ”Beweise” für alles, was es gerade beweisen will, zu verschaffen, sich gerade in der Psyche der Gebildeten einzunisten und dort eine Saat des Mißtrauens und der Abneigung gegen das jeweilige Objekt auszustreuen: dieser Kunst sind schon vor den Unterzeichnern des Schweizer Aufrufes viele Tausende ausgezeichneter Männer erlegen. England, das den weitaus besten Geheim- und Kundschafterdienst in der Welt hat, verfügt auch über den weitaus besten Apparat zur eindringlichen, zähen und wirksamen Beeinflussung der Gemüter im Mutterlande und in der übrigen Welt. Kalten Herzens und berechnenden Sinnes entwirft es packende, flammende Aufrufe für diesen, gegen jenen, mit nie versagender Sicherheit des Ausdrucks, der Steigerung, der Beschwörung. Seine unzähligen Helfer auf dem ganzen Erdenrund, seine Diplomaten, Konsularbeamten und nichtetatmäßigen Werkzeuge liefern ihm Material für alles, was es braucht. Seine Presse, seine Ausland-Korrespondenten sind ein mit tausend Gehirnen ausgestatteter Kopf, dessen kolossale Gedankenenergie stets auf das jeweilige englische Interesse gerichtet ist, stets den Freund des Tages fördert, den Feind mit dem Arsenal von tausend Intelligenzen bekämpft, schmäht, in der Meinung der ganzen Welt herabsetzt. Und wenn gar, wie es in den Anfängen der pro-armenischen Agitation der Fall war, eine Bewegung von einer so überragenden Persönlichkeit wie Gladstone geleitet und mit gedanklichem Inhalt versehen wird, so begreift es sich, daß diese Bewegung Hunderttausende mit sich fortreißt, die, ohne zulängliche Kenntnis der Materie, die aufreizende Rhetorik und das Truggold einer falschen Sachlichkeit auf sich wirken lassen. Diese englische Meisterschaft hat nicht nur den Türken unermeßliche moralische Schädigung zugefügt. ...
Ein politisches Armenien gibt es ebenso wenig wie ein geographisches. Geschichtlich gehörte Armenien den Mazedoniern, Seleuciden, Parthern, Römern, Persern, Byzantinern und Türken. Nur kurze Zeit war es von eigenen Königen regiert; im übrigen ist seine Geschichte die Leidensgeschichte eines stets unterjochten Volkes, das wie ein Spielball aus der Hand eines Herrschers in die eines andern fliegt. Zum weitaus größten Teil lag die Schuld daran an den unausgesetzten inneren Streitigkeiten, die das Volk zerfleischten. Der weitaus größte Teil des armenischen Volkes bekennt sich zum gregorianischen Christentum; weit geringer ist die Zahl der katholischen, und noch geringer die der protestantischen Armenier. Die gregorianischen Armenier, wie es häufig geschieht, als ”griechisch-orthodox” zu bezeichnen, ist nicht ganz zutreffend, Sie stehen mit den griechischen Kirchen in Konstantinopel oder Rußland in keiner Verbindung. Der Grieche oder Slawe betrachtet den Armenier nicht als einen christlichen Glaubensgenossen, denn die armenische Liturgie weicht in manchen – allerdings nicht sehr erheblichen – Punkten von der orthodoxen ab. Zur Zeit der bulgarischen Greuel in den siebziger Jahren waren die russischen Bauern entsetzt und empört über die Ermordung so vieler ”Pravoslavnis” (orthodoxer Christen); aber die armenischen Massaker von 1895-1896 riefen in Rußland keine größere Entrüstung hervor als etwa die Ermordung einiger katholischer Missionare in China. Auch von seiten des Ökumenischen Patriarchen oder sonst eines hochgestellten Würdenträgers der orthodoxen Kirche erfolgte damals keine Protestkundgebung.
Unter türkischer Herrschaft waren die Armenier bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit trotz drückender Feudalherrschaft und Steuerlast ganz zufrieden. Die Türkische Regierung erwies sich ihnen - wie auch den andern nicht-osmanischen Völkerschaften –- gegenüber sehr tolerant. Die Armenier hatten ihre eigenen Kirchen, Schulen und Hospitäler und waren bei den Türken sehr wohl gelitten. Diese ganze Zeit über waren die Armenier sehr treue und ergebene türkische Untertanen, und Rußland galt als der Erzfeind Armeniens. Die russische Herrschaft über die Armenier des eroberten Kaukasus war drückend, gewalttätig und unduldsam; sie ging auf die nationale Zerstörung des Armeniertums aus. ”Die Türken”, so pflegten die Armenier zu sagen, ”nehmen uns den Körper, die Russen aber die Seele.” Türken und Armenier vertrugen sich sehr gut. Die Armenier lebten sich ganz in türkische Gewohnheiten und Gedankengänge ein, weit mehr als die Griechen und Slawen der Türkei. Die Reicheren wurden Bankiers und Kaufleute und übten zum Teil einen beherrschenden Einfluß auf Handel und Wandel in der Levante aus; die ärmere fanden Beschäftigung in türkischen Haushaltungen, oder sie wurden Kapudjis (Portiers) oder Hamale (Lastträger). Die Türken sprachen von den Armeniern als dem ”millet-i-sadika”, der loyalen Gemeinde. Ein dunkler Punkt in diesem Bilde war freilich das Verhältnis zwischen Armeniern und Kurden, das sich im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts immer feindseliger gestaltete in dem Maße, wie der herrenmäßige Feudalismus in den kurdisch-armenischen Wilajets drückender auf dem armenischen Kleinbauer und Krämer lastete. Dieses wirtschaftliche und soziale Übergewicht der Kurden verschärfte sich unter Abdul Hamid zum Schaden der Armenier ganz ungemein. In seiner Angst und seinem Grimm gegen die armenischen Revolutionäre bot Abdul Hamid alles auf, um die Kurden gegenüber den Armeniern zu stärken. Die von im organisierten Kurden-Regimenter, die Hamidie, eine zügellose Bande, die sich um ihre türkischen Vorgesetzten nicht im geringsten kümmerten, trugen viel zur Verschärfung der Feindseligkeit zwischen den beiden Völkerstämmen bei. Abdul Hamid befolgte das unselige System, den räuberischen Kurden fast völlig freie Hand gegenüber den Armeniern zu lassen; er glaubte dadurch die Armenier von jeder Beteiligung an revolutionären Bewegungen abschrecken zu können. Bei den zahlreichen armenischen Aufständen der letzten fünfundzwanzig Jahre wiederholte sich jedesmal derselbe Vorgang: während die türkischen Truppen gegen die Revolutionäre kämpften, verübten die Kurden, in erster Reihe die Hamidie, an der armenischen Bevölkerung Raub und Mord. So vollzog sich unter Abdul Hamid immer wieder derselbe unheilvolle Kreislauf: Aufstände der Armenier, Unterdrückung der Empörung und strenge Bestrafung der Rädelsführer, Raub- und Mordzüge der Kurden, Ermordung Unschuldiger und, dadurch hervorgerufen, neue Aufstandsbewegungen. Das jungtürkische Regime hat mit den Missetaten der Kurden aufgeräumt; daß aber die armenischen Revolutions- und Hochverratsneigungen geblieben sind, haben die Ereignisse des gegenwärtigen Krieges gelehrt.
Selbst in der hamidischen Ära war das Treiben der armenischen Revolutionäre nicht nur dem türkischen Staat, sondern auch ihren eigenen Volksgenossen gegenüber in hohem Grade verwerflich. Ganz unter dem verhetzenden englischen Einflusse stehend, überhörten sie geflissentlich die Mahnungen wohlmeinender Freunde, insbesondere der Führer der jungtürkischen Bewegung, nicht dem wesenlosen Schatten eines selbständigen ”Königreichs Armenien” nachzujagen, sondern in Gemeinschaft mit dem ganzen türkischen Volke auf ein freiheitliches System hinzuarbeiten. Es wurden ihnen von vielen verständigen Leuten vorgehalten, daß keine europäische Macht ihnen helfen werde, ein Königreich Armenien zu gründen, weil keine Macht ein Interesse an einer solchen Staatengründung habe. Sie blieben hartnäckig bei ihrer Überzeugung, daß zum mindesten England ihnen helfen werde. Sie wußten, daß ihre Treibereien nur immer neue Härten gegen die Armenier, neue Metzeleien zur Folge haben würden. Das war aber, wie der armenische Revolutionär Garo einmal mit unvergleichlichem Zynismus offen bekannte, den Führern gerade recht; die Agitatoren erhofften von jedem Blutbade die Wirkung, daß Europa sich endlich tatkräftig der Armenier annehmen und ihnen zur Verwirklichung ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen verhelfen werde.
Es ist schon gesagt worden, daß Türken und Armenier sich bis vor wenigen Jahrzehnten recht gut miteinander vertrugen. In weit höherem Grade als die übrigen Christen in der Türkei haben die Armenier sich ihren türkischen Beherrschern anzupassen verstanden. Der Türke betrachtet den Armenier als eine Art Bindeglied zwischen sich und allen Nicht-Moslimen im osmanischen Reich, ein Verhältnis, das sich um so leichter gestaltete, als die Mehrzahl der Armenier die türkische Sprache bis zum Vergessen der eigenen angenommen haben. Die einzige feindselige Handlung, die die türkischen Behörden in früheren Jahrzehnten gegen einen Teil des armenischen Volkes vornahmen, geschah auf Veranlassung des – armenischen (gregorianischen) Patriarchen von Konstantinopel, der durch Bestechung der türkischen Behörden die Ausweisung von nicht weniger als 12000 katholischen Armeniern durchsetzte. Mitten im strengsten Winter wurden (1828) diese Zwölftausend, die aus der Umgebung von Angora stammten, mit Greisen, Kranken, Wöchnerinnen und Kindern gezwungen, nach Angora zurückzukehren; das Elend der Vertriebenen war grenzenlos. Es war dies derselben armenische Patriarch, der in einer Unterredung mit dem türkischen Staatsmann Pertew den römischen Papst als ”dieses Schwein” bezeichnete. An diese geschichtlichen Erinnerungen anknüpfend, könnte man mit Leichtigkeit ein ganzes Buch über die furchtbaren Fehden zwischen gregorianischen und katholischen Armeniern und unter den Gregorianern selbst schreiben, über die blutigen Verfolgungen der papistischen durch die ”nationalkirchlichen” Armenier, über die vielen Gegenpatriachate, die sich gegen das in Etschmiadzin residierende kirchliche Oberhaupt erhoben, über die erbitterten Kämpfe innerhalb dieser Patriarchate und Gegenpatriarchate um die ”rechte Hand des heiligen Gregor”, über die zahllosen Wanderungen dieser heiß umstrittenen Reliquie von einem Ende Armeniens zum andern und über manches andere, aus dem hervorgeht, daß die Armenier als christliches Volk weder unter sich noch gegenüber den Türken als geschlossene Einheit anzusehen sind. Der armenische Patriarch in Konstantinopel, der, wie eben erzählt, 1828 die türkischen Behörden gegen katholische Volksgenossen aufhetzte, ist beileibe keine vereinzelte Erscheinung gewesen. Eine ganze Anzahl gregorianischer Patriarchen haben ihre Machtstellung und ihren Einfluß bei der Pforte dazu mißbraucht, die türkischen Regierungsorgane gegen die katholischen Armenier scharf zu machen; von den furchtbaren Leiden, die diese letzteren auf Anstiften ihrer gregorianischen Landsleute von den türkischen Machthabern zu erdulden hatten, hat aber keine englische Propaganda, kein Schweizer Aufruf Europa unterrichtet. Wohlgemerkt: was hier gesagt ist, stellt nur die äußersten, dürftigsten Umrisse einer langen, schmerzensvollen Leidensgeschichte christlicher armenischer Opfer einer fanatischen christlich-armenischen Verfolgungswut dar. Und nun nochmals eine Frage an die hundert Unterzeichner des Schweizer Aufrufs: Was wissen Sie von allen diesen Dingen? Und warum faseln Sie von einem Vernichtungskampf der Türken gegen die christlichen Armenier, die sich im ganzen Verlauf ihrer nationalen Geschichte immer gegenseitig zerfleischt und dadurch zu Sklaven eines jeden Stärkeren herabgewürdigt haben?
Die Geschichte derjenigen Armenier-Greuel, von denen jetzt die Rede ist, geht zurück bis in die Zeit, da Englands politische Wühlarbeit in Armenien begann.