1913-06-10-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/R14079
Zentraljournal: 1913-A-11793
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 06/13/1913 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: No. 182
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



No. 182
Therapia, den 10. Juni 1913

Niemand wird behaupten können, dass es den Armeniern im Türkischen Reich besonders gut geht. Auf der anderen Seite aber wird kaum jemand zu beweisen vermögen, dass es den übrigen Bewohnern der Türkei und namentlich den Türken selbst besser geht als den Armeniern oder dass die Lage der Armenier heute schlechter ist, als zu irgend einem früheren Zeitpunkte der türkischen Geschichte. Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass die jetzige türkische Regierung von der Notwendigkeit, etwas für die Armenier zu tun, vollkommen überzeugt und gewillt ist, den armenischen Wünschen so weit entgegenzukommen, als dies ohne Sprengung des Zusammenhangs zwischen den einzelnen Teilen des Reiches überhaupt möglich ist. Die Armenier sind in der Türkei heute immer noch verhältnismässig besser dran, als die Juden, Polen und Finnen in Russland. Trotzdem ist heute eine mit den radikalsten Mitteln arbeitende Propaganda damit beschäftigt, überall auf der Welt den Eindruck hervorzurufen, als ob die Leiden der Armenier sich von Tag zu Tag steigerten und jetzt einen Höhepunkt erreicht hätten, der das Eingreifen Europas nötig machte. Delegierte der Armenier bereisen wehklagend die europäischen Hauptstädte, und hier ist ein Bureau errichtet, in welchem die Beschwerden der Armenier aus allen türkischen Provinzen zusammenlaufen, um dann geschickt redigiert in Tausenden von Bulletins über die ganze Welt verbreitet zu werden. Der Kaiserlichen Botschaft gingen solche gedruckte Anklagen früher etwa einmal wöchentlich zu. Jetzt erhalte ich sie ein- bis zweimal täglich. Es ist deutlich eine systematische Steigerung der Agitation zu bemerken, ohne dass aus anderen als aus armenischen Quellen irgend etwas über eine Zunahme türkischer Ausschreitungen verlautete. Die Gründe der Hochspannung der armenischen Agitation liegen ziemlich klar zutage. Die christlichen Stämme in der europäischen Türkei sind vom Türkenjoche befreit worden. Nunmehr wollen auch die kleinasiatischen Christen befreit werden. Speziell den Armeniern aber fehlt es an dem befreienden Bruderlande, das für sie zum Schwerte greifen könnte. Sie sind daher auf den guten Willen der Grossmächte angewiesen. Nach ihrer Ansicht darf der Moment, wo die Kabinette sich mit der Liquidation der europäischen und mit der Zukunft der asiatischen Türkei beschäftigen, nicht unbenutzt vorübergehen. Wären die Armenier vernünftig, so wäre eine Einigung zwischen den Mächten und der Türkei über eine Verbesserung ihres Loses bei den heutigen Verhältnissen leicht erzielbar. Nun gehen aber die armenischen Forderungen weit über das Mass desjenigen hinaus, was die Türkei, ohne ihre eigene Existenz zu gefährden, gewähren kann. Die Macht, welche die Ansprüche der Armenier in die Höhe schraubt, ist Russland. Mit Hilfe des Katholikos, des hiesigen armenischen Patriarchen und zahlloser Agenten in allen armenischen Gebieten, sowie unter Aufwand bedeutender Geldmittel schürt Russland seit Jahren die Unzufriedenheit der Armenier. Es verhindert, dass in Ostanatolien Wege und Eisenbahnen gebaut werden, ohne welche die türkische Regierung garnicht in der Lage ist, zwischen Kurden und Armeniern Ruhe zu stiften. Ja es unterstützt neben den Armeniern auch die Kurden mit Geld und Waffen, damit diese ihr Räuberleben auf Kosten der Armenier fortsetzen können. Auch das hiesige armenische Zentralkomitee empfängt Geld und Ratschläge von der russischen Botschaft. Die armenische Bewegung ist das Mittel, durch welches Russland die asiatische Türkei in steter Aufregung und in einem Zustande erhält, welcher es Russland in dem gegebenen Augenblicke gestattet, als interessierter Grenzstaat für sich das Recht der Intervention in Anspruch zu nehmen. Mit Hilfe der armenischen Frage will Russland sich den Weg nach Constantinopel offenhalten. Sie ist der Schlüssel, der dereinst die Meerengen öffnen soll. Meerengen und armenische Frage hängen für Russland zusammen, und man kann mit Bestimmtheit annehmen, dass, sobald von S. Petersburg aus über die Not der Armenier geklagt wird, ein neuer russischer Vorstoss in der Richtung auf Constantinopel bevorsteht. Ich vermag daher die Ansicht mehrerer meiner Kollegen nicht zu teilen, welche die jetzige Anregung Russlands auf den Wunsch dieser Macht zurückführen, das was ihr mit dem Scheitern des Balkanbundes an Prestige in Europa verloren gehen könne, in Kleinasien wieder zu erobern. Es handelt sich zweifellos nicht um eine spontane Regung der russischen Politik, sondern um die letzte Etappe einer sorgfältig vorbereiteten Aktion grössten Stils. Die Armenier wurden von Russland schon mit Hochdruck bearbeitet, als die Balkanvölker noch gemeinsame Siegesorgien feierten.

Russische Vorstösse auf Constantinopel wiederholen sich neuerdings in immer rascherer Folge. Der letzte war derjenige des Herrn Tscharykoff, den wir mit Österreich zum Scheitern gebracht haben. Herr Tscharykoff ist darauf hin entlassen worden. Vestigia terrent. Herr von Giers hat den Plan seines Vorgängers in grosszügigerer Form wieder aufgenommen und versucht nun auf dem Landwege, was vor zwei Jahren auf dem Wasserwege misslungen war.

Die Anregung des Petersburger Kabinetts kann daher zweifellos garnicht ernst genug aufgefasst werden. Wird Russland freier Lauf gelassen, so muss sich aus dem verhältnismässig anodinen Programme, welches es für die Konferenz aufstellt, eine grosse Aktion entwickeln, die zur Auflösung der Türkei führen kann. In den Armeniern hat Herr von Giers ein starkes Druckmittel auf seine Kollegen in der Hand. Gehen die Verhandlungen nicht vorwärts, so werden auf russischen Wink in allen Gebieten Unruhen ausbrechen, die auf die Entscheidungen der Konferenz nicht ohne Einfluss bleiben würden. Das erste Massakre an der russischen Grenze könnte Russland den Vorwand zum Einmarsch bieten.

Trotzdem teile ich nicht die Ansicht des Markgrafen Pallavicini, dass die Teilung der Türkei von der Tripelentente beschlossen sei, und dass der Vorhang über dem Schussakte des türkischen Dramas sich demnächst heben werde. Dass Russland und Frankreich mit der Türkei ein Ende machen möchten, ist hier allerdings ziemlich deutlich zu erkennen. Erst gestern wiederholte mir Herr von Giers die Bitte, ich möchte Euerer Exzellenz nahelegen, sich schleunigst mit der russischen Regierung über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessenzonen zu verständigen. Es sei die höchste Zeit dazu. Auch Herr Bompard bezeichnete es mir kürzlich als wünschenswert, dass wir uns mit Frankreich über eine räumliche Scheidung unserer Interessen auseinandersetzten. Russland und Frankreich möchten also Kleinasien teilen, ohne darüber mit uns in Händel zu geraten. Ob indes die dunklen Absichten dieser beiden Mächte zur Ausführung gelangen, und ob die Konferenz über die armenische Frage sich schliesslich in ein Erbschaftsgericht umwandeln wird, das hängt nicht nur von Frankreich und Russland, sondern in erster Linie von England ab. Geht die Tripelentente solidarisch vor, so steht Deutschland wie in der Inselfrage mit seinem Wunsche, die Türkei zu erhalten, so gut wie allein. Auf die Unterstützung seiner Verbündeten wird es nur in beschränktem Masse zählen können. Das scheint mir selbst die Ansicht meines Oesterreichischen Kollegen zu sein. Allein kann Deutschland die Türkei nicht retten. Soweit ich nun aber von hier aus die englische Politik in den letzten Monaten zu beobachten Gelegenheit gehabt habe, möchte ich nicht glauben, dass England so ohne weiteres Russland und Frankreich bezüglich der Türkei freie Hand lassen wird. England kann nach den Erfahrungen, die es in Persien gemacht hat, nicht wünschen, mit Russland ein Teilungsgeschäft zu machen, dessen Vorteile lediglich auf russischer Seite lägen. Es muss mit der Möglichkeit rechnen, dass Deutschland sich bei der Teilung nicht ausschliessen lässt. Alles, was England in der letzten Zeit getan hat, lässt eher darauf schliessen, dass es "der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb" sich für die Erhaltung der Türkei einsetzen will und nur zu diesem Zwecke eine gewisse Annäherung an Deutschland gesucht hat. Es würde sich kaum entschlossen haben, der Türkei Reformer für Armenier in Aussicht zu stellen, wenn es mit dem Übergange Ostanatoliens in russischen Besitz ernsthaft rechnete.

Ich möchte daher, Euerer Exzellenz Einverständnis vorausgesetzt, meine Haltung bei der bevorstehenden Botschafterkonferenz nach diesem Gesichtspunkte einrichten. England wird voraussichtlich wünschen, dass Deutschland sich extremen russischen Wünschen widersetzt, damit dieses Geschäft nicht von England selbst besorgt werden muss. Es wäre nun zweifellos ein Fehler, wenn wir die Kastanien für England aus dem Feuer holen wollten. Ich möchte mich deshalb bei den Verhandlungen in Reservestellung hinter England halten, solange nicht feststeht, dass letztere Macht sich in dem Fahrwasser extremer russischer Wünsche befindet. Will England den Untergang der Türkei, dann bleibt uns allerdings nichts übrig, als unsere Erbschaftsansprüche offiziell anzumelden. Vorläufig dürfte die bisher befolgte Methode, durch konkludente Tatsachen unsere Interessen an gewissen Teilen der Erbschaftsmasse zu bekunden, genügen, um England für die Erhaltung der Türkei zu interessieren.


Wangenheim



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