Russische Vorstösse auf Constantinopel wiederholen sich neuerdings in immer rascherer Folge. Der letzte war derjenige des Herrn Tscharykoff, den wir mit Österreich zum Scheitern gebracht haben. Herr Tscharykoff ist darauf hin entlassen worden. Vestigia terrent. Herr von Giers hat den Plan seines Vorgängers in grosszügigerer Form wieder aufgenommen und versucht nun auf dem Landwege, was vor zwei Jahren auf dem Wasserwege misslungen war.
Die Anregung des Petersburger Kabinetts kann daher zweifellos garnicht ernst genug aufgefasst werden. Wird Russland freier Lauf gelassen, so muss sich aus dem verhältnismässig anodinen Programme, welches es für die Konferenz aufstellt, eine grosse Aktion entwickeln, die zur Auflösung der Türkei führen kann. In den Armeniern hat Herr von Giers ein starkes Druckmittel auf seine Kollegen in der Hand. Gehen die Verhandlungen nicht vorwärts, so werden auf russischen Wink in allen Gebieten Unruhen ausbrechen, die auf die Entscheidungen der Konferenz nicht ohne Einfluss bleiben würden. Das erste Massakre an der russischen Grenze könnte Russland den Vorwand zum Einmarsch bieten.
Trotzdem teile ich nicht die Ansicht des Markgrafen Pallavicini, dass die Teilung der Türkei von der Tripelentente beschlossen sei, und dass der Vorhang über dem Schussakte des türkischen Dramas sich demnächst heben werde. Dass Russland und Frankreich mit der Türkei ein Ende machen möchten, ist hier allerdings ziemlich deutlich zu erkennen. Erst gestern wiederholte mir Herr von Giers die Bitte, ich möchte Euerer Exzellenz nahelegen, sich schleunigst mit der russischen Regierung über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessenzonen zu verständigen. Es sei die höchste Zeit dazu. Auch Herr Bompard bezeichnete es mir kürzlich als wünschenswert, dass wir uns mit Frankreich über eine räumliche Scheidung unserer Interessen auseinandersetzten. Russland und Frankreich möchten also Kleinasien teilen, ohne darüber mit uns in Händel zu geraten. Ob indes die dunklen Absichten dieser beiden Mächte zur Ausführung gelangen, und ob die Konferenz über die armenische Frage sich schliesslich in ein Erbschaftsgericht umwandeln wird, das hängt nicht nur von Frankreich und Russland, sondern in erster Linie von England ab. Geht die Tripelentente solidarisch vor, so steht Deutschland wie in der Inselfrage mit seinem Wunsche, die Türkei zu erhalten, so gut wie allein. Auf die Unterstützung seiner Verbündeten wird es nur in beschränktem Masse zählen können. Das scheint mir selbst die Ansicht meines Oesterreichischen Kollegen zu sein. Allein kann Deutschland die Türkei nicht retten. Soweit ich nun aber von hier aus die englische Politik in den letzten Monaten zu beobachten Gelegenheit gehabt habe, möchte ich nicht glauben, dass England so ohne weiteres Russland und Frankreich bezüglich der Türkei freie Hand lassen wird. England kann nach den Erfahrungen, die es in Persien gemacht hat, nicht wünschen, mit Russland ein Teilungsgeschäft zu machen, dessen Vorteile lediglich auf russischer Seite lägen. Es muss mit der Möglichkeit rechnen, dass Deutschland sich bei der Teilung nicht ausschliessen lässt. Alles, was England in der letzten Zeit getan hat, lässt eher darauf schliessen, dass es "der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb" sich für die Erhaltung der Türkei einsetzen will und nur zu diesem Zwecke eine gewisse Annäherung an Deutschland gesucht hat. Es würde sich kaum entschlossen haben, der Türkei Reformer für Armenier in Aussicht zu stellen, wenn es mit dem Übergange Ostanatoliens in russischen Besitz ernsthaft rechnete.
Ich möchte daher, Euerer Exzellenz Einverständnis vorausgesetzt, meine Haltung bei der bevorstehenden Botschafterkonferenz nach diesem Gesichtspunkte einrichten. England wird voraussichtlich wünschen, dass Deutschland sich extremen russischen Wünschen widersetzt, damit dieses Geschäft nicht von England selbst besorgt werden muss. Es wäre nun zweifellos ein Fehler, wenn wir die Kastanien für England aus dem Feuer holen wollten. Ich möchte mich deshalb bei den Verhandlungen in Reservestellung hinter England halten, solange nicht feststeht, dass letztere Macht sich in dem Fahrwasser extremer russischer Wünsche befindet. Will England den Untergang der Türkei, dann bleibt uns allerdings nichts übrig, als unsere Erbschaftsansprüche offiziell anzumelden. Vorläufig dürfte die bisher befolgte Methode, durch konkludente Tatsachen unsere Interessen an gewissen Teilen der Erbschaftsmasse zu bekunden, genügen, um England für die Erhaltung der Türkei zu interessieren.