1913-07-31-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/R 14081
Zentraljournal: 1913-A-15902
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 08/05/1913 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: No. 236
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Therapia, den 31. Juli 1913

Im Anschluß an die anderweitige Berichterstattung über die armenischen Reformen möchte ich noch auf eine bereits in dem Berichte No. 217 vom 14. d. M. besprochene und von Eurer Exzellenz neuerlich berührte Frage eingehen, die mir für die künftige Gestaltung der Verwaltung in Armenien von grundsätzlicher Wichtigkeit zu sein scheint. In fast allen bisherigen Plänen, welche sich mit den Reformen in Armenien beschäftigen, steht mit an erster Stelle die Frage, in welcher Weise bei der Zusammensetzung des Beamtenkörpers sowie bei der Vertretung der Bevölkerung in den Provinzialversammlungen, in den Verwaltungsräten der Provinzen, Sandjaks und Kazas usw. das Verhältnis der beiden Hauptreligionen des Landes, der muhammedanischen und der christlichen zu berücksichtigen sei.

Der Reformplan von 1895 hatte, ebenso wie das gegenwärtig vorliegende russische Projekt, eine absolute Gleichheit in der Vertretung der beiden Elemente vorgesehen. Demgegenüber ist unsererseits bei den Vorbesprechungen über das russische Projekt bisher an dem Grundsatz der Proportionalität festgehalten, und zwar aus folgenden Gründen:

Der Grundsatz der absoluten Gleichheit in der Vertretung der beiden Bevölkerungselemente läßt sich mit den tatsächlichen Verhältnissen nur dann allenfalls in Einklang bringen, wenn der unseren Interessen, wie in Bericht No. 208 dargelegt, diametral zuwiderlaufende russische Plan einer Zusammenfassung ganz Armeniens zu einer einzigen Verwaltungszone verwirklicht wird, da das numerische Verhältnis der beiden Religionen sich nur dann ungefähr die Waage halten dürfte, wenn es bestimmt wird unter Zugrundelegung ihrer in ganz Armenien vorhandenen Anhängerzahlen. In diesem Falle würde aber auch das Proportionalitätsprinzip zu ungefähr demselben Ergebnisse führen müssen. Der Grundsatz der Stimmengleichheit wäre aber auch dann nur bei denjenigen Behörden und Bevölkerungsvertretungen annähernd gerechtfertigt, deren Tätigkeit sich auf das gesamte Armenien erstreckt.

In den einzelnen Teilen des Landes dagegen ist das Zahlenverhältnis zwischen Muhammedanern und Christen außerordentlich verschieden. Während die Christen in manchen Bezirken, wie in Van oder Kharput, über 60 % der Einwohnerschaft ausmachen, dürfte ihr Anteil an der Bevölkerung beispielsweise der nördlichen Teile des Vilajets Aleppo 20 % nicht übersteigen. Wollte man bei der Zusammensetzung der lokalen Behörden oder Vertretungen auch dieser Bezirke die Fiktion der absoluten Gleichheit aufrechterhalten, so müßte dies notwendig zu einer Zurücksetzung der Bevölkerungsmehrheit gegenüber der Minderheit führen, ein Verfahren, das mit mathematischer Sicherheit die heftigsten Nationalitätskämpfe entfesseln würde.

Die gleiche Erwägung führt dahin, daß bei jeder Kombination, die nicht den Zusammenschluß ganz Armeniens zu einer Provinz vorsieht, der Gedanke der absoluten Gleichstellung des christlichen und des muhammedanischen Elements von vornherein ausgeschaltet werden muß, da die Bewilligung gleicher Stimmenzahl in diesem Falle mit dem obersten Reformgrundsatze des gleichen Rechtes für alle Bevölkerungsteile nicht zu vereinigen ist. Wie jede Forderung der politischen Gleichheit, absolut genommen, ein Nonsens ist und erst dann Sinn erhält, wenn sie im Lichte der relativen Bedeutung des einzelnen Subjektes betrachtet wird, so muß auch im vorliegenden Falle die absolute Gleichstellung zweier ungleichen Größen zu einer falschen Formel führen.

Dieselben Gründe lassen sich mit verstärkter Kraft gegen den Vorschlag des Schlüssels 3 zu 2 anführen. In den einzelnen Verwaltungsbezirken (Sandjaks, Kazas, Gemeinden), wo dieses Verhältnis nicht in der tatsächlichen Zusammensetzung der Bevölkerung begründet wäre, - und dies dürften bei Weitem die meisten sein –würden sich dabei noch größere Unzuträglichkeiten ergeben, als bei einer absoluten Gleichstellung der beiden Bevölkerungsgruppen; denn es ist klar, daß z. B. in einem Sandjak mit 40 % Muhammedanern und 60 % Christen bei dem vorgeschlagenen Verhältnis von 3 : 2 die Machtverteilung unter der Fiktion erfolgen würde, daß in diesem Sandjak 40 % Christen und 60 % Muhammedaner wohnten. Wohin diese Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse führen müßte, kann für jemanden, der den Charakter der Bevölkerung Armeniens kennt, und der die bisherigen Ereignisse dieses Landes überblickt, keinem Zweifel unterliegen.

Aber auch auf größere Verwaltungseinheiten, auf Provinzen angewandt, müßte der Schlüssel 3 : 2 das Tor der Arena öffnen, in der sich jene blutigen Szenen zwischen Muhammedanern und Christen wiederholen würden, welche als Feuermale die bisherige Entwickelung der armenischen Frage kennzeichnen. Gerade der in dem numerischen Verhältnis nicht begründete überwiegende Einfluß der Muhammedaner auf die Lokalregierungen ist als der Hauptgrund aller armenischen Unruhen anzusehen. Die Einführung des Schlüssels 3 : 2 hieße diesen für die Entwickelung des Landes so unheilvollen Einfluß zum Grundsatz erheben und die dauernde Majorisierung des christlichen Elements durch die kulturell rückständigere und wirksamen Reformen feindliche muhammendanische Bevölkerungsschicht als System adoptieren. Es bedarf nach den bisherigen Erfahrungen wohl keines Nachweises, daß diese Methode allen eher als der Pazifizierung des Landes dienen würde, und daß sie das sicherste Mittel wäre zur Einhaltung der offenen Tür für den russischen Einmarsch. Daß wir außerdem durch Vertretung des Schlüssels 3 : 2 das Vertrauen und die Sympathien der christlichen Bevölkerung Armeniens einbüßen würden, ist mit Sicherheit vorauszusehen.

Sobald man, wie es unser Interesse erfordert, von der Schaffung einer ganz Armenien umfassenden Reformzone absieht und das Land in zwei oder mehrere getrennte Verwaltungsgebiete zerteilt, ist im Interesse der Ruhe unbedingt die proportionale Vertretung des muhammedanischen und des christlichen Elements in der Beamtenschaft und den legislativen oder administrativen Körperschaften erforderlich, da nur auf diese Weise der oberste Grundsatz des gleichen Rechts für alle Bevölkerungsteile erfüllt werden kann.

Gegen die Festlegung der beiden Bevölkerungselemente auf ein festes Zahlenverhältnis spricht ferner auch die in Armenien besonders starke Fluktuation der Bevölkerung infolge der Aus- und Einwanderung. Während bisher die Auswanderung überwog und in manchen Gegenden die Zahl der christlichen Bevölkerung geradezu dezimierte, ist mit der Eröffnung der Reformära ein starker Rückstrom der nach Amerika und Rußland ausgewanderten Armenier zu erwarten. Auch muß mit einer verstärkten Ansiedelung der aus der ehemaligen europäischen Türkei sowie aus Rußland zurückflutenden muhammedanischen "Muhadjirs" in Armenien gerechnet werden. Diese Momente dürften das gegenwärtige Bild der ethnographischen Zusammensetzung Armeniens in nicht zu langer Zeit wesentlich verschieben. Selbst wenn daher jetzt ein annähernd richtiges Zahlenverhältnis festgestellt werden könnte, so würde dasselbe nach einiger Zeit dem wirklichen Zustande nicht mehr entsprechen, und die oben angedeuteten Folgen würden alsdann gleichfalls nicht ausbleiben.

Das stärkste Argument gegen die Einführung eines einheitlichen, für alle Teile Armeniens anwendbaren festen Schlüssels ergibt sich aus Erwägungen praktischer Natur. Die genaue Verteilung der christlichen und der muhammendanischen Bevölkerung auf die einzelnen Gebiete Armeniens ist mangels einer brauchbaren Statistik zur Zeit Niemandem bekannt. Erst die in den Kazas vorzunehmenden Wahlen zu den Provinzialversammlungen werden ein erstes einigermaßen klares Bild der wirklichen Bevölkerungsverteilung in Armenien liefern, das als Grundlage dienen wird für die Zusammensetzung der Volksvertretungen in den Kazas, Sandjaks und Vilajets sowie der in diesen Verwaltungsbezirken tätigen Behörden. Auf diese Weise wird erreicht, daß für die Dauer jeder Wahlperiode und jeden einzelnen Verwaltungsbezirk ein fester Schlüssel für das Verhältnis der beiden Bevölkerungselemente gewonnen wird; zugleich aber wird auf diese Weise die Möglichkeit geschaffen, diesen Schlüssel nach Ablauf der Wahlperiode, also nach vier Jahren, einer Korrektur zu unterziehen und so allen inzwischen vor sich gegangenen Verschiebungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung Rechnung zu tragen, ein Vorteil, der bei der Einführung eines einheitlichen festen Schlüssels für ganz Armenien wegfiele, da die Türkei alsdann zur Durchführung eben dieses Schlüssels in allen Verwaltungsbezirken den Mächten verpflichtet wäre. Der Widerspruch zwischen den Berichten No. 208 vom 3.d.M. und No. 217 vom 14.d.M. erklärt sich dadurch, daß der in dem Berichte No. 208 enthaltene Vorschlag einer ständigen gemischten Kontrollkommission lediglich eine unter Zugrundelegung des Reformprojekts von 1895 zustande gekommene persönliche Anregung darstellt. Die in der Folge bei den anderen interessierten Botschaften in dieser Richtung vorgenommene Sondierung ließ alsbald erkennen, daß dort eine Kontrolle in dieser Form nicht für ausreichend angesehen wurde, sondern daß man der schärferen Ueberwachung der Reformaktion durch direkte Korrespondenz der Botschaften mit den Generalinspektoren, wie sie in dem Berichte No. 217 befürwortet worden ist, den Vorzug gab.

Ein Eintreten unsererseits für die schwächere Kontrollform kam nach dieser Feststellung nicht in Frage, da es uns den anderen fünf Botschaften gegenüber isoliert und in armenischen Kreisen einen für uns äußerst ungünstigen Eindruck erweckt hätte. Ich habe daher, sobald ich über die Meinung der übrigen 5 Botschafter orientiert war, den diesseitigen Delegierten angewiesen, von der Befürwortung der Kommissionskontrolle abzusehen und sich für die Form der diplomatischen Kontrolle auszusprechen, zumal diese, trotzdem sie dem Wesen nach wirksamer ist, nach außen nicht so stark hervortritt, wie die erstere und daher auch, wie im Bericht No. 217 dargelegt ist, gegebenenfalls mehr Aussicht haben dürfte, von der Pforte angenommen zu werden.


Wangenheim



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