1916-02-14-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R14090
Zentraljournal: 1916-A-04240
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 02/15/1916 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Direktor des Deutschen Hülfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient Friedrich Schuchardt an das Auswärtige Amt

Schreiben



Frankfurt a. Main, den 14. Februar 1916

Zur Vervollständigung Ihrer Akten erlauben wir uns, Ihnen die zuletzt hier eingegangenen Berichte in Abschrift (doppelter Ausführung) zukommen zu lassen. Falls eine Copie derselben schon dort von Ihnen genommen worden wäre, so würden wir Ihnen dankbar sein, dies bei der Vermittlung unserer Berichte gleich vermerken zu wollen.

Mit vorzüglicher Hochachtung zeichnet ergebenst


F. Schuchardt

Anlage 1


[Abschrift]

Bericht eines Predigers in Aleppo
Aleppo, im Dezember 1915

Die Not der weggeführten Armenier ist eine derartige, dass es unmöglich ist, sich davon eine Vorstellung zu machen, oder sie zu beschreiben. In der Winterkälte sind die Tausende von Frauen, Kindern, Kranken hungrig und nackt in den Wüsten und auf den Landstrassen. Die türkische Regierung hilft nur sehr wenig für ihren Unterhalt. In den Monaten September und Oktober waren nach Hama, in der Nähe von Aleppo, circa 20000 Ausgewiesene gekommen. In dieser Zeit wurde seitens der Regierung 2000 Pfund türkisch für sie verausgabt, d.h. pro Person 13 Paras sind 4 Pfennig. Dreitausend Menschen starben am Hunger, zweitausend an ansteckenden Krankheiten allein in jenen 2 Monaten. Ueber 500 Kinder starben auf den Strassen, wo sie auf den Kehrichthaufen Abfälle gesucht hatten. Diese Zahlen sind genaue Tatsachen, statistisch festgestellt.

Nach diesen zwei Monaten ist kein Pfennig mehr gegeben worden und demnach ist die Zahl der Todesfälle unheimlich gestiegen.

In einem Dorfe der Umgegend von Homs starben in einer Woche hundert Personen hungers; sie gehörten einer unserer evangelischen Gemeinden an. Aus dieser einen lokalen Tatsache kann man leicht schliessen, wie Hunger und Krankheit an anderen Orten wüten. Von allen Seiten kommen die Hülferufe, Bitten um Brot und Geld. An vielen Orten sind die von der Regierung eingerichteten Hilfsstationen für die Ausgewiesenen längst aufgelöst. Die Strassen, Dörfer, Steppen von Konia bis Mossul & Aleppo bis Kâan (bei dem Toten Meer) sind mit Gräbern und unbegrabenen Leichen besät. Die Geier und Schakale sind des Aufräumens müde. Am Anfang hatten die Leute noch manches bei sich, aber sie wurden unterwegs ausgeraubt, sogar die Leibwäsche wurde manchen abgenommen. Vieles haben sie auch selbst verkauft und verzehrt. Jetzt ist ihnen nichts geblieben. Jemand sagte mir: “Wir haben unsere Decken verkauft und das Stück Teppich auf dem wir sassen oder lagen, alles bis zu unseren Trinkgefässen. Wir baten unterwegs Bauern, uns zu helfen, aber sie wiesen uns ab mit der Bemerkung, sie würden uns Brot geben, wenn wir ihnen unsere Kinder verkauften.” Viele haben dies auch getan, es wurden Kinder verkauft zu 2 medjidije. Die Zahl der kranken verhungernden Kinder ist Legion. Die Leute auf der Strasse, ohne Heim, ohne Nahrung, ohne Kleidung, ohne jede ärztliche Hülfe; dabei ist alles furchtbar teuer; kann ein Volk so weiter existieren? Sogar hier in Aleppo gibt es Leute, die verhungern. Ein Mann sagte: “Wir waren eine Familie von elf Personen und ich bin allein am Leben.” Ein kleines Mädchen erzählte: “Wir waren unserer zehn, ich bin allein übrig.” Eine Mutter sagte bitterlich weinend: “Ich hatte sechs Kinder, davon sind vier Hungers gestorben und die anderen zwei liegen in den letzten Zügen.”

Ich möchte nicht mehr Tatsachen aufzählen. Die erwähnten genügen, um einem Mann der Barmherzigkeit und des Gewissens ein Bild zu geben von dem, was hier vorgeht. Im Namen der Menschlichkeit, im Namen des Christentums erbarmt euch dieses unglücklichen, hungernden, niedergetretenen Volkes, eines sterbenden Volkes. Wenn möglich gebt ein Stück Brot in die Kinderhände, die sich hungrig ausstrecken; wenn nicht gedenkt ihrer wenigstens in Mitleid und Erbarmen.


Anlage 2

Bericht von Schwester Beatrice Rohner.


Abschrift.


Aleppo den 29. Dezember 15.

Am Donnerstag den 16. 12. verliessen Paula [Schäfer]und ich Marasch. Wir gingen über Sarylar nach Intilli und von dort bis Islahije, wo wir die Bahn erreichten. Wenn der Wagenweg Marasch – Islahije fertig ist, kann man in 1½ Tagen in Aleppo sein. Hier wohnten wir zunächst im Hotel Frank und hatten bald Gelegenheit Dschemal Pascha zu sprechen. Wir baten ihn um die Erlaubnis, in der Umgegend von Aleppo reisen zu dürfen, indem wir besonders die Notwendigkeit der Arbeit vom sanitären Standpunkt aus betonten. Seine Excellenz war sehr nett, erklärte aber, uns diese Erlaubnis nicht erteilen zu dürfen; dafür bot er uns an, hier in Aleppo zu helfen. Das zweite Mal sprach ich ihn allein, da Paula bereits nach Harunije und Marasch zurückgereist war. Er bat, das grosse armenische Waisenhaus in der Stadt übernehmen zu wollen, das sehr vernachlässigt sei und dringend der Aufsicht bedürfe. Auf meine Frage den Unterhalt der Kinder betreffend, sagte er, sie würden für alles aufkommen und er werde den hiesigen Wali beauftragen, mir alles Nötige zu verschaffen, wenn dies nicht geschehe, möchte ich ihm telegrafieren. Den Tag darauf reiste er nach Damaskus ab; er hatte mich noch mehrere Male im Hotel suchen lassen, um mich zu sprechen, aber ich war leider ausgegangen. Nachher war ich beim Vali, der sich auch sehr entgegenkommend zeigte.

Heute nun kam das Telegramm mit der Einwilligung; ich glaube, wir müssen in dieser Sache tun was wir können, so unangenehm das Zusammenarbeiten mit der Behörde sein mag; vielleicht bedeutet es einen wichtigen Schritt für die Zukunft der Arbeit hier im Lande.

Das Haus in dem die Kinder – gegenwärtig 311 an der Zahl – untergebracht sind, liegt im Innern der Stadt und gehörte einem französischen Orden; beim Ausbruch des Krieges wurden die Schwestern ausgewiesen und das Gebäude requiriert. Demnächst hausten monatelang Soldaten darin, dann wurde es den durchkommenden Ausgewiesenen zur Verfügung gestellt.

Tausende kamen und gingen, wurden krank und starben, oder genasen dort. 50 % der Kinderchen sind gestorben; die noch lebenden sind in einem jammervollen Zustand. Das ganze Haus ist verseucht, beschmutzt, halb demoliert. Wir sahen uns nach einem anderen vergeblich um; alle besseren Gebäude sind als Lazarette und Schulen eingerichtet. Dr. 1.....den Vorschlag machen, die Kinder nach Dscherablus am Euphrat ( 3 Stunden Bahnfahrt von hier) zu überführen, und in den leer gewordenen Baracken der Gesellschaft unterzubringen, aber wie wir hören, wütet dort der Flecktyphus noch mehr als hier. Wenn die Kinder gerettet werden sollen, müssen wir die Arbeit sofort in Angriff nehmen; in 1-2 Wochen erwarte ich Paula mit 1-2 Mädchen; inzwischen kriege ich die Beamten zu den nötigen Reparaturen heran und richte mich dort notdürftig ein.

Jetzt ist Bab, südöstlich von hier das Centrum für neue Ausgewiesene; dort sterben sie zu Tausenden an Hunger und Seuche. Den ganzen Tag wird begraben. Von Aintab werden die letzten Armenier ausgewiesen; ich fürchte, dann kommt das arme Marasch noch einmal an die Reihe.

Anbei ein Bericht des hiesigen Predigers.


[Auswärtiges Amt an Botschaft Konstantinopel 19.2.]

Die anliegenden vom Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient mitgeteilten Abschriften von Berichten über Armenierverfolgungen werden dem – tit – Botschafter Pera No. 128 z. gfl. Information erg. übersandt.

[Auswärtiges Amt an Schuchardt 19.2.]

Ew. pp. darf ich den Empfang der mit dem gfl. Schreiben vom 14. d.Mts. übersandten Berichte aus Aleppo über Armenierverfolgungen dankend bestätigen. Die Berichte werden der Kaiserlichen Botschaft in Constantinopel zugänglich gemacht werden. Im übrigen darf ich bemerken, dass von den durch die hiesige Zensurstelle gehenden Schriftstücken Abschriften nicht genommen zu werden pflegen.



1Der folgende Satz ist durchgestrichen und schwer lesbar.



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