1916-05-10-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R14091
Zentraljournal: 1916-A-12420
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 05/11/1916 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Direktor des Deutschen Hülfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient Friedrich Schuchardt an das Auswärtige Amt

Schreiben



Frankfurt a. Main, den 10. Mai 1916

Wir gestatten uns, den uns zuletzt zugegangenen Bericht unserer Schwester Klara Pfeiffer Ihnen in Abschrift zu Ihren Akten zu überreichen.

Hochachtungsvoll
F. Schuchardt


Anlage

Kurze Mitteilung über das Ergehen der Armenier in Mamouret-ul-Asis


Als im Jahre 1914 der Krieg ausbrach & bei uns alle jungen Männer eingezogen wurden, gingen die armenischen jungen Männer auch, um sich der türkischen Regierung zu stellen, insoweit sie nicht imstande waren, sich vom Militärdienst loszukaufen. Wir ahnten damals nicht, was alles kommen würde. Die ersten Monate verliefen ganz gut, bis Anfang des Jahres 1915 Gerüchte von revolutionären Bewegungen unter den Armeniern der Wangegend zu uns herüberdrangen. Sofort wurden allen armenischen Soldaten bei uns die Waffen aus der Hand genommen, man sonderte sie ab vom Militärdienst und es hiess, sie sollten zu anderen Arbeiten, wie Wege bauen etc. verwandt werden. Die älteren Armenier, welche schon viel erlebt hatten, sprachen damals sehr ernste Befürchtungen aus.

In der Zeit hörten wir aus verschiedenen Gegenden von Ausweisungen der armenischen Bevölkerung; doch bei uns war es verhältnismässig immer noch ruhig, bis am 1. Mai plötzlich einige Männer, die meisten von ihnen gehörten zu der besseren Klasse, verhaftet wurden. (Einer von unsern Lehrern war auch darunter, doch gelang es Herrn Ehmann denselben nach einigen Tagen frei zu bekommen) Es wurden in verschiedenen Häusern Hausdurchsuchungen gehalten, weil man revolutionären Büchern & Schriften nachspürte. (Wir hörten damals, es seien auch gefunden worden.) Bald darauf wurde bekannt gemacht, alle Armenier müssten ihre Waffen bis zu einem bestimmten Tage abliefern. (Es waren das Waffen, welche in den meisten Fällen die einzelnen zu ihrem Schutz im Hause hatten oder auch auf Reisen mit sich führten.) Bemerkt sei noch, dass es von Regierungsseiten Erlaubnis gab, Waffen zu tragen. Soviel mir in Erinnerung ist, war es Anfang Juni 15, dass die Bekanntmachung gegeben wurde. Die Aufregung unter der armenischen Bevölkerung war darüber sehr gross. Jeder, der im Besitz einer Waffe war, wollte sie nicht gern abgeben, weil er das Schlimmste befürchtete. Eine Anzahl wurden abgegeben, aber auch viele wurden versteckt. So wurden von Seiten der Regierung Zwangsmassregeln angewandt. Einzelne Männer wurden eingesteckt, gepeinigt & geschlagen. Es wurde von ihnen verlangt, dass sie angeben sollten, wer Waffen hätte & wo solche versteckt seien. An den Folgen dieser Marter starben damals schon einzelne Männer. Ganze Dörfer wurden von Soldaten eingeschlossen, viele von den männlichen Dorfbewohnern angebunden & aufs entsetzlichste geschlagen, weil man nicht glaubte, dass alle Waffen abgegeben seien. Unter solchen Schlägen kamen denn auch noch viele zum Vorschein; auch einige Bomben wurden herausgegeben. Wo aber auch alles abgegeben war, bekamen die Leute meist doch keine Ruhe. Es wurde erzählt, dass manche von den Armeniern, wenn sie keine Waffe mehr hatten, solche kauften, damit sie von ihren Peinigern durch Abgabe derselben freigelassen würden. Was einzelne Personen & auch ganze Dörfer in jener Zeit gelitten haben, lässt sich mit Worten nicht ausdrücken. Wir deutschen Geschwister selbst suchten die Armenier zu ermahnen, doch ja, wenn noch irgend Waffen versteckt seien, dieselben herauszugeben, da wir hofften, dann nähme die Not ein Ende & die Bevölkerung würde am Ort gelassen. Herr Ehmann ist persönlich hin & her in die einzelnen Dörfer gegangen, um die Leute zu ermahnen, nichts zurückzuhalten. Er bekam sogar Erlaubnis ins Gefängnis zu gehen um den einzelnen zuzureden ja alles abzuliefern. Die ganze Zeit des Waffeneinsammelns wurden ununterbrochen Männer ins Gefängnis gesteckt. Oft wurden sie mitten in der Nacht aus den Betten geholt. Auch wurden immerfort junge Leute von den Armeniern als Soldaten eingezogen. Wie aber schon gesagt, wurde kein Armenier vor den Feind an die Front geschickt, sondern sie wurden zu Arbeiten verwandt. Was aus denselben würde, wusste damals keiner von uns. Lange blieben wir aber nicht im Unklaren darüber.

Es war wohl um die Mitte Juni, als es plötzlich eines Morgens hiess: ”Vergangene Nacht sind eine ganze Anzahl, ich glaube, es waren 600 Mann, von den Gefangenen, aus dem Gefängnis abgeführt worden. Wohin?“ Gott allein weiss es. Man hörte & sah nichts wieder von ihnen. Auch wurden um dieselbe Zeit Scharen von jungen Armeniern, welche als Soldaten eingezogen waren, um Wege zu bauen, nach Mesereh gebracht, in ein Gebäude eingepfergt & unter beständiger Bewachung festgehalten. Einige Tage später wurden sie, 1200 Mann an der Zahl, unter Begleitung von bewaffneten Soldaten abgeführt. Es hiess, sie sollten wieder Wege bauen. In Maden, 2 Tagereisen von Mesereh entfernt, sollen sie auch wirklich einige Tage gearbeitet haben, dann soll man sie weiter nach Diarbakir geführt, 4 und 4, oder 5 und 5 aneinander gebunden und getötet haben. Am 23. Juni wurden nachts wieder 300 Mann aus dem Gefängnis abgeführt. Am Morgen des darauffolgenden Tages war Weinen und grosse Not überall. Die Verwandten, welche bis dahin ihren Angehörigen Essen gebracht hatten, fanden das Gefängnis - - leer. Wo blieben die Männer? Es ist nicht anzunehmen, dass noch einer von ihnen lebt. Weil sie aneinandergebunden waren, war entfliehen ausgeschlossen & wenn sie geflohen wären, wohin? Das Nachstellen und Aufsuchen nahm eben kein Ende. Ich bin nicht imstande alle Schrecknisse, welche wir bis gegen Ende Juni erlebt haben, einzeln mitzuteilen, doch sollte es noch schlimmer kommen.

Am 24. Juni feierten wir mit unseren Leuten, wie wir oft zu tun pflegten, nach der Abendversammlung das Hl. Abendmahl. Was war das eine Feier. Keiner konnte sich des bangen Gedankens, dass es das letzte Mal sei, erwehren. Wirklich zwei Tage später, am Sonnabend den 26. Juni wurde bekannt gemacht, dass im Laufe der kommenden Woche die armenische Bevölkerung den Ort zu verlassen habe. Tags darauf, Sonntag den 27. Juni hatten wir die letzte Versammlung in unserem Lokal. Man hörte nur ein Weinen und Schluchzen.

In den darauffolgenden Tagen kamen Scharen von ausgewiesenen Armeniern aus der Gegend von Erserum, in einem unbeschreiblich, schrecklichen Zustande bei uns durch. Männer & erwachsene Söhne waren keine unter den Scharen und wenn die Frauen gefragt wurden, wo sind eure Männer, gaben sie zur Antwort: ”getötet.” Nun denke man sich das Entsetzen der Leute, welch auch ausziehen mussten. Viele von ihnen suchten sich durch Gebet und Gotteswort zu dem furchtbaren Wege zu stärken. Wir hatten in den Tagen Gebetsstunden, wie wir sie nie erlebt hatten. Jeden Morgen um 8 Uhr war unser Versammlungsraum voll. Es waren gesegnete Tage, wo viele ihrem Gott begegneten. Wir deutschen Geschwister & auch viele von den armenischen Christen hatten Hoffnung, da die Gemeinde sich so vor ihrem Gott beugte, der Herr würde dreinblicken und die Not abwenden; als aber der angesetzte Tag kam, mussten wir zusehen, dass in 2 Tagen 1800 Familien aus unserer Stadt, ihre Heimstätten und alles, was ihnen lieb war verlassen mussten, den Wanderstab ergreifen und einer grauenvoll, dunklen Zukunft entgegengehen. Sie sollten, so hiess es, in die Gegend von Urfa gebracht werden. Mesereh war wie ausgestorben, die Kaufläden auf dem Markt geschlossen und unser Versammlungssaal den darauffolgenden Sonntag fast leer.

Bald schon erreichten uns allerhand Nachrichten und Gerüchte. Unterwegs vor Malatia wurden eine Anzahl junger, hübscher Frauen & Mädchen von den ausziehenden Familien abgesondert & zurückgeschickt, damit sie als Frauen von Türken ihr Leben weiter fristen könnten. Die übrigen brachte man, mit Ausnahme von einigen Männern, welche in Isoli von den Familien getrennt wurden, nach Malatia. Dort wurden alle Männer & erwachsenen Söhne von den Familien getrennt & ins Gefängnis gesteckt. Die weinenden Kinder & Frauen wurden in Häuser eingepfercht und man versicherte ihnen, dass ihre Männer auf einem anderen Wege geschickt und am Ziel ihrer Reise wieder mit ihnen zusammentreffen würden. Aber nie haben die wenigen Frauen, welche einen Ort wo sie bleiben konnten, erreichten, irgend ein Lebenszeichen von ihren Männern erhalten. Zu uns in Mesereh drang das Gerücht, dass alle in der Nähe von Malatia getötet worden seien. Am 6. Juli kamen wieder grosse Scharen von Ausgewiesenen aus Keghi in entsetzlichem Zustande bei uns an. Man muss die Aermsten selbst gesehen haben um zu wissen, wie gross das Elend war. In einigen Häusern von ausgewiesenen Armeniern wurden sie zeitweise eingepfergt. Scharenweise starben die meisten an Krankheiten. Jeden Morgen fuhr der Totenwagen an den Häusern vorbei und die Gestorbenen wurden dann aufeinandergeworfen und weggefahren. Oft wurden auch ganze Herden von Ausgewiesenen direkt auf den Friedhof eingeschlossen. Tag & Nacht mussten sie zwischen den Gräbern zubringen, bis der Tod, als ein erlösender Freund, ihrem Elende ein Ende machte.

In den furchtbaren Wochen und Monaten schien es manchmal doch, als wollte die Regierung auch etwas helfen. So wurden z.B. Waisenhäuser eingerichtet. Eins hatten wir gerade in unserer Nähe. Die armen Kinder waren in grösstem Schmutz und Elend, schrieen Tag und Nacht und starben nur so dahin. Wir Waisenhausschwestern kochten oft abwechselnd Suppen für die Aermsten. Wenn wir damit ankamen, wurde das Geschrei meist noch grösser, da der Hunger so gross war, dass alle gern auf einmal haben wollten. Eines Morgens waren alle Kinder weg. Wo sie geblieben sind, weiss ich nicht, einige sah ich später einmal in einem ähnlichen Hause. Man erzählte, die übrigen seien ins Wasser geworfen worden. Obs so ist kann ich nicht bestimmt sagen, da ich es nicht gesehen habe, glauben kann ich es aber nach allem was ich gesehen habe.

Anfang September wurden wieder eines Morgens in aller Frühe einige Handwerksmeister, welche bei der grossen Ausweisung bleiben durften, da sie von Anfang das Krieges an für die Regierung gearbeitet hatten, aus den Betten geholt, einige Tage ins Gefängnis gesteckt und dann wie alle ihre Leidensgenossen, abgeführt & getötet. Wie Schlachtschafe wurden alle abgetan, da keiner von ihnen auch nur die kleinste Waffe in seinem Besitz hatte um sich vielleicht zur Wehr zu setzen.

Nun war kaum noch ein Mann in Mesereh zu finden, ausser einigen wenigen, welche als Handwerker für die Regierung nicht entbehrt werden konnten und zum Teil Muhamedaner geworden waren. Ein Ende nahm das Nachspüren und Aufsuchen aber nicht. Einige elende Frauen und solche welche von den Durchziehenden waren hängen geblieben, lebten noch in grosser Dürftigkeit. So ging es dahinter her. Wie konnte einem das Herz wehe tun, wenn man die Aermsten, vor bis an die Zähne bewaffneten Soldaten dahinwanken sah. Der 4. November brachte uns zum letzten Male meines Wissens solch entsetzlichen Tag.

Im obigen habe ich versucht ein kleines Bild zu geben von dem, was ich im vorigen Jahre in Mesereh erlebt habe. Ueber einzelne Sachen könnte ich noch viel ausführlicher berichten und bin, wenn es gewünscht wird, gern bereit dazu.

Am 7. März d.J. verliess ich Mesereh. Was seit dem Tage passiert ist, weiss ich nicht, da unsre Geschwister von dort aus nicht imstande sind, ihre Erlebnisse mitzuteilen.


[Schw. Klara Pfeiffer, Mesereh]



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