1916-08-23-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/Bokon/173
Zentraljournal: 1916-A-23530
Botschaftsjournal: A53a/1916/2525
Erste Internetveröffentlichung: 2000 März
Edition: Genozid 1915/16
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: BK Nr. 489
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2017


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Wolff-Metternich) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



BK Nr. 489
Therapia, den 23. August 1916
2 Anl. 1

Das von der Pforte erlassene Gesetz über das Armenische Katholikosat und Patriarchat trägt das Datum des 2 Schawwal 1334/19 Temuz 1332 ( =1. August d.Js.) und wurde im türkischen Reichsanzeiger (takvimi-vakaji) vom 10. d.Mts. No. 2611 veröffentlicht. Da das Gesetz nach § 38 mit dem Zeitpunkte der Veröffentlichung in Kraft treten sollte, begaben sich am Nachmittage des 10. August Baka bej, Vorsteher der Abteilung für Kultur im Justizministerium (mezahib müdiri) und der Polizeipräfekt von Stambul in das Patriarchatsgebäude in Kim Kapu und eröffneten dem Patriarchen, daß seine Funktionen beendet seien; gleichzeitig forderten sie ihn, übrigens in durchaus höflicher Form, auf, unter Mitnahme der ihm persönlich gehörenden Sachen, seinen bisherigen Amtssitz zu räumen. Der Patriarch, der beiläufig von dem Gesetze nur durch das am gleichen Tage erschienene türkische Abendblatt Terdaküman-Hakikat Kenntnis hatte, kam der Aufforderung ohne Widerstand nach. Nachdem die türkischen Beamten die Archive des Patriarchats gemeinschaftlich mit dem Patriarchen versiegelt hatten, wurde das Patriarchat gesperrt und der Patriarch zog sich in seine Privatwohnung zurück. Die in jenem Stadtviertel angesiedelten Armenier verhielten sich ruhig und die für etwaige Zwischenfälle aufgebotenen Polizeimannschaften fanden keinen Anlas um einzuschreiten. Ebenso hat die übrige armenische Bevölkerung der Hauptstadt unter dem Drucke der Verfolgungen des letzten Jahres den Umsturz ihrer Verfassung mit Gleichmut, um nicht zu sagen mit Gleichgiltigkeit hingenommen. Die hiesige Armenische Presse brachte kurze Artikel, in denen sie sich den halbamtlichen Auslassungen der Agence Milli und des Tanin anschließt.

Hauptsächlich hat die Pforte beschlossen den Ex-Patriarchen nach seinem Geburtsort Bagdad zu verschicken und ihm dazu eine Frist von acht Tagen gesetzt.

Zu dem Gesetze selber liegt außer dem bereits eingereichten Communiqué der Agence Milli ein mit Sachkunde geschriebener, offenbar amtlich inspirierter ausführlicher Leitartikel des Tanin vor. In dem ich diesen in deutscher Übersetzung sowie das Gesetz in einer - nichtamtlichen - französischen Übersetzung der Zeitung Hilal beifüge, darf ich meinem Vorberichte folgendes hinzufügen.

Zunächst ist zur Überschrift zu bemerken, daß, entsprechend dem bisherigen amtlichen Sprachgebrauche mit ”Armeniern” nur die s.g. Gregorianischen Armenier gemeint sind unter Ausschluß der katholischen und protestantischen Armenier. Es war schon wiederholt angeregt worden, die ersteren von den letzteren durch einen auf die Konfession bezüglichen Zusatz zu unterscheiden, aber das Patriarchat und die leitenden Kreise hatten alle dafür gehenden Vorschläge abgelehnt, weil nach ihrer Anschauung als Armenier nur der gelten konnte, der sich zu der vom Heiligen Gregorius, dem Erleuchter (arm. Lussarowitsch) begründeten nationalen Konfession bekannte.

Wie der erste § bestimmt, werden die beiden Katholikosate von Sis und Aghtamar mit den beiden Patriarchaten von Jerusalem und Konstantinopel zu einer einzigen Würde vereinigt und der Titular als ”Katholikos-Patriarch” zum geistlichen Oberhaupte der Osmanischen Armenier mit dem Sitze im Kloster Mar Jakub in Jerusalem eingesetzt; die hierarchischen und sonstigen Beziehungen zum Katholikos von Etschmiadzin werden gelöst.

Titel und Würde eines armenischen Katholikos entsprechen denen eines Patriarchen in den Griechich-orthodoxen Kirchen. Ursprünglich gab es nur den einen Katholikos von Etschmiadzin. Im Laufe der Zeit und in Folge der politischen Ereignisse wurden im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit noch die Katholikosate von Aghtamar (am Vansee) und Sis (Cilicien) errichtet. Das Patriarchat von Konstantinopel verdankt seine Entstehung dem Umstande, daß nach Begründung des Osmanischen Reiches die Armenier in grossen Massen im Gefolge der Eroberer nach Westen auswanderten, besonders nach der Hauptstadt, wo sie - nach einer übrigens schlecht beglaubigten Legende - schon im 15. Jhdt. einen Bischof hatten, der vom Eroberer von Konstantinopel mit denselben Privilegien ausgestattet wurde wie der Ökumenische Patriarch, und dessen Nachfolger den der Gregorianischen Kirche entlehnten Titel eines Patriarchen (patrik) annahmen. Das Patriarchat von Jerusalem besteht erst seit 1671. In diesem Jahre erwarb der bisherige Vartabet (Archimandrit) Eleazar von Jerusalem mittels eines Geschenkes von 45 Beuteln von der Pforte für sich und seine Nachfolger das Recht ebenfalls den Titel Patrik zu führen (nachdem er schon einige Jahre vorher sich von der Pforte die Erlaubnis erkauft hatte, das heilige Salböl zu bereiten und zu verschließen, was bis dahin Monopol des Katholikos von Etschmiadzin gewesen war)[Text in der Klammer von Mordtmann als "kann wegfallen" angemerkt.].

In Folge seines Sitzes im Zentrum der Regierung und der Ausdehnung seiner Jurisdiktion (Nach Osmanian, L’Eglise Arménienne, Paris 1910 umfaßte der Jurisdiktionsbezirk des Patriarchen von Konstantinopel 51 Diözesen mit rund 2 Millionen Seelen (davon 6 Diözesen mit 50000 Seelen im Ausland); der des Katholikos von Sis 15 Diözesen mit 284000 Seelen, der des Katholikos von Aghtamar 2 Diözesen mit 95000 Seelen, der des Patriarchen von Jerusalem 4 Diözesen mit 7000 Seelen. Der Katholikos von Etschmiadzin gebietet über 28 Diözesen mit über 2 Millionen Seelen, davon 17 Diözesen mit rund 1550000 Seelen in Rußland.) wurde der Patriarch von Konstantinopel zum administrativen Oberhaupte der Armenier unter türkischer Herrschaft, obwohl er den drei Katholikosen im Range untergeordnet war und den Katholikos von Etschmiadzin als geistliches Oberhaupt anerkannte. Auch hatten weder er noch der s.g. Patriarch von Jerusalem das Recht die höheren Weihen zu erteilen und das heilige Salböl zu bereiten: diese Befugnisse haben von jeher nur den Katholikosen zugestanden.

Etschmiadzin, bei Eriwan gelegen, ist i.J. 1827 im Frieden von Türkmen Tschai von Persien, zu dem es von jeher gehört hatte, an Rußland abgetreten worden; unter türkischer Herrschaft hat es nur vorübergehend gestanden (vom J. 1582 bis 1604 und von 1615 bis 1635).

Durch die Verschmelzung der Katholikosate von Aghtamar und Sis mit den beiden Patriarchaten hat der neue Katholikos-Patriarch von Jerusalem das Recht erworben sämtlichen Bischöfen in der Türkei die Weihe zu erteilen und ist hierarchisch unabhängig geworden. Die Auflösung aller Beziehungen zu Etschmiadzin dürfte die weitere Folge haben, daß den Osmanischen Armeniern künftighin die Beteiligung an der Wahl des Katholikos von Etschmiadzin nicht mehr gestattet ist.

Unstreitig hatte die Pforte ein großes politisches Interesse, das Zwitterverhältnis, in dem der Patriarch von Konstantinopel zur türkischen Regierung und zu dem von Rußland abhängigen Katholikos von Etschmiadzin stand, zu beseitigen, und hat jetzt von demselben Rechte Gebrauch gemacht wie Rußland, als es im Jahre 1836 die Palajenia erließ und dadurch die Stellung des Katholikos einseitig im Reichsinteresse regelte. Formell aber steht diese Maßregel im Widerspruch mit den Verpflichtungen, die sie durch Art. 62 Abs. 4 des Berliner Vertrages übernommen hatte, aucune entrave ne pourra être apportée soit à l'organisation hiérarchique des différentes communions, soit à leur rapports avec leurs chefs spirituels.

Die zweite tief eingreifende Veränderung ist die Beseitigung des "Grand Conseil de la Nation", des großen Volksrats der Armenier. Diese Körperschaft bestand aus 140 Mitgliedern, 20 Angehörigen des geistlichen Standes und 120 Laien. Erstere wurden vom Klerus der Hauptstadt gewählt; von den Laienmitgliedern waren 80 Abgeordnete der armenischen Bevölkerung der Hauptstadt, 40 wurden von den Provinzen entsandt. Der Volksrat wählte die Patriarchen von Konstantinopel und Jerusalem, die Mitglieder des Geistlichen Rats (Synode) und des Laienrats und vertrat die Osmanischen Armenier bei der Wahl des Katholikos von Etschmiadzin. Analoge Befugnisse standen den Gemeindevertretungen in den Provinzen gegenüber den Bischöfen zu.

Diese Verfassung entsprach dem ultrademokratischen Geiste, der von jeher unter den gregorianischen Armeniern geherrscht hatte, und dem geringen Ansehen, das die Geistlichkeit infolge ihres niedrigen Bildungsgrades in den Kreisen der s.g. Intellektuellen genoß; sie war im wesentlichen das Werk von zwei Armeniern, die in Paris studiert und dort die Ideen der ”Großen Revolution” vom peuple souverain eingesogen hatten. Sie wurde im Jahr 1863 von der Türkischen Regierung sanktioniert und hat im Laufe von 50 Jahren aus der Kultusgemeinde eine politische Einheit, einen Staat im Staate, geschaffen. Die Würdenträger dieser Gemeinde waren unter dem geistlichen Gewande Beamte der ”Nation”; der Patriarch von Konstantinopel hatte bei seinem Amtsantritt vor dem großen Volksrat zu geloben, ”dem Staate - d.h. der Türkischen Regierung - und der (Armenischen) Nation treu zu dienen und die (Armenische) Verfassung zu halten; als Volksfest der Gemeinde wurde am 5. Juni jedes Jahr mit großem Gepränge der Jahrestag der ”Konstitution” begangen. Der französischen und armenischen Ausgabe der Grundgesetze geht eine (im türkischen Abdruck der Gesetzsammlung weggelassene) Einleitung voraus, die sich bezeichnet als préambule consacré à sanctionner le principe fondamental de la constitution qui est la souveraineté nationale. Wie weit die Behauptung zutrifft, daß die Armenischen Umsturzparteien durch die demokratische Verfassung der Gemeinde großgezogen sind, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls arbeiteten sich Volksrat und Parteien in die Hände und bemühten sich in den letzten Jahren, gelegentlich sogar mit Unterstützung der Pforte, denselben demokratischen Geist unter den protestantischen und katholischen Armeniern zu verbreiten und die Verwaltung dieser Gemeinde entsprechend umzugestalten.

Das neue Gesetz hat durch die Aufhebung des Volksrats und andern Bestimmungen diesem nationalistisch-demokratischen Regimente ein Ende bereitet. Der zukünftige Katholikos-Patriarch und seine Suffragane sind nunmehr unabhängig von dem russisch-armenischen Kirchenfürsten von Etschmiadzin und von den Demagogen der Hauptstadt und haben den ihnen gebührenden Einfluß als Vorsteher der Gemeinde wiedergewonnen. Andrerseits aber ist damit eine empfindliche capitis deminutio verbunden. Der Patriarch der Armenier ist nicht mehr Oberhaupt des armenischen Millet "Nation" sondern einer djemaët, Kultusgemeinde; denn mit diesem Ausdruck, der im Kanzleistil der Hohen Pforte von den bescheidenen Gemeinden der protestantischen Armenier und karaitischen Juden gebraucht wird, während Griechen, Juden und bisher auch die Armenier ein Millet bildeten, werden diese letzteren im neuen Gesetz bezeichnet. Als einfache Gemeindevorsteher sind der Katholikos-Patriarch und die Bischöfe aller politischen Befugnisse entkleidet und, abgesehen von ihren kirchlichen Funktionen, auf die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten beschränkt. Der Sitz des Oberhauptes ist aus der Hauptstadt nach Jerusalem verlegt, wo er jeder politischen Tätigkeit entrückt ist; er ist nicht mehr das Exekutivorgan des Volksrats, sondern lediglich der Befehle der Regierung; überdies darf er fortan nur mit dem Kultusamte als vorgesetzter Behörde verkehren, während er früher Zutritt zu sämtlichen Behörden und zum Sultan hatte. Endlich ist die Zahl der Bischöfe dadurch erheblich verringert worden, daß solche in Zukunft nur noch für Distrikte mit über 15000 Seelen bestellt werden dürfen. Nach der Aussiedlung der Armenischen Bevölkerung aus Kleinasien und Rumelien dürften nur wenige Distrikte übrig geblieben sein, in denen die Armenische Bevölkerung diese Ziffer erreicht.

Das neue Gesetz vom 1. August d.Js. zieht das Fazit aus den Maßregeln der Regierung, durch die die osmanischen Armenier als lebensfähige Nation vernichtet werden sollen: auf die Massenaussiedlungen mit der Niedermetzelung der Männer, Islamisierung der Zurückgebliebenen und der Kinder ist die Vermögenskonfiskation auf diese nunmehr die Zertrümmerung der politischen Gemeinde gefolgt.


[Metternich]

Anlage

Leitartikel des Tanin vom 11. August 1916.


Die türkische Regierung hat, bedacht auf das Reichsinteresse und auf die Sonderinteressen der Armenier, ein neues Gesetz über das Armenische Patriarchat und Katholikosat ausgearbeitet und dieses Gesetz in dem gestrigen Reichsanzeiger (Takvime-Vekaji.) veröffentlicht. Wir wollen im folgenden, ohne auf die Einzelheiten einzugehen, kurz die wichtigsten Punkte des Gesetzes erörtern, durch das die Armenische Kirchenverfassung in ihren Grundlagen abgeändert wird.

Diese Abänderungen lassen sich im Grunde in zwei Punkten zusammenfassen: der erste besteht in der Verschmelzung des Armenischen Patriarchats mit dem Katholikosat, der zweite betrifft die Auflösung der Körperschaft, die auf dem Patriarch[at] den Namen des Generalrats (medschlissi-umumi) führte, im Volke aber der Volksrat (medschlissi-milli) hiess, und in Wirklichkeit eine Abgeordnetenversammlung darstellte, wie eine solche sonst nirgends in der Welt vorkommt.

Der Beweggrund zur Vereinigung von Patriarchat und Katholikosat braucht nicht besonders erläutert zu werden. Bekanntlich bedürfen die armenischen Patriarchen zur Bestätigung ihrer kirchlichen Autorität einer Art Weihe durch einen Katholikos; sie pflegten sich zu diesem Zwecke von jeher an das Katholikosat von Etschmiadzin zu wenden. Die Folge war, daß der Patriarch, der das geistliche Oberhaupt der Osmanischen Armenier war, genötigt war fortgesetze Beziehungen zum Katholikos von Etschmiadzin zu unterhalten, obwohl dieser Sitz schon seit geraumer Zeit auf Russischem Gebiete liegt und er daher dem Russischen Einflusse untersteht.

Um dies zu verstehen, müssen wir hierbei etwas verweilen.

Die Armenische Kirche (im Original: djemaël ”Gemeinde”) hat drei Katholikosate, nämlich geistliche Primate, von denen zwei, das von Sis und das von Aghtamar auf türkischem Gebiete liegen; das dritte ist Etschmiadzin in Rußland. Die beiden Patriarchen von Konstantinopel und Jerusalem werden aus der Zahl der Bischöfe gewählt; die Patriarchenwürde hat nur den Charakter eines Amtes und die Titulare erwerben dadurch nicht den Grad eines wirklichen geistlichen Oberhaupts; so z.B. können nur die Katholikose religiöse Zeremonien, wie die Weihung eines Geistlichen zum Bischof oder die Bereitung des Salböls vornehmen. In folge dessen müssen die Patriarchen in allen solchen Fällen und in Glaubensfragen, die sie nicht selber entscheiden können, sich an die Katholikose und deren Synoden wenden. Da die Patriarchenwürde nur ein Amt ist, so ist es vom kirchlichen Standpunkte unbedenklich, wenn der Patriarch von der Volksvertretung gewählt wird, während die Wahl und die Weihe eines Katholikos durch eine Synode von Bischöfen erfolgen muß. Von den oben erwähnten Katholikosaten ist das älteste das zu Etschmiadzin, dem Sitze des Kirkor (d.h. Gregorios, der Erleuchter), der Begründer der Armenischen Konfession. Bei der Eroberung von Kleinasien siedelte der Katholikos nach Sis über und das Katholikosat von Etschmiadzin ging ein, wurde aber später wieder hergestellt.

Nachdem die unter türkischer Herrschaft lebenden Armenier ein eigenes Patriarchat erhielten, wählte der Patriarch unter den drei Katholikosaten das von Etschmiadzin um mit ihm in engere Verbindung zu treten. Dieses Verhältnis, das zur Zeit entstand, wo Etschmiadzin noch in unsern Händen war, wurde fortgesetzt, auch nachdem dieser Ort unter Russische Herrschaft gelangt war, und es haben sich auch anfänglich keine ernsten Unzuträglichkeiten daraus ergeben. Denn die Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik der Russischen Regierung gegen ihre Armenischen Untertanen hatte in Etschmiadzin eine starke antirussische Strömung erzeugt. Seitdem aber Rußland in der Absicht in Ostanatolien armenische Politik zu machen, angefangen sich dem Katholikosat zu nähern, und nament. in den letzten Jahren, trat der Übelstand sofort zu Tage. Denn mit Hilfe der in Etschmiadzin gesponnenen Intriguen begann Rußland seine Ideen unter den Osmanischen Armeniern zu verbreiten und hat damit große Erfolge erzielt. Um diesem entgegenzutreten, gab es ein einfaches Mittel: die Auflösung der Beziehungen zwischen dem Patriarchat und Etschmiadzin. Denn, wie bereits bemerkt, gab es drei Sitze, die in den Augen der Armenier den gleichen Grad von Heiligkeit und geistlicher Autorität besaßen. Anfänglich hatte das Patriarchat wohl lediglich mit Rücksicht auf die Anciennität dem Katholikos von Etschmiadzin vor den anderen den Vorzug gegeben; nachträglich aber waren allerlei politische Erwägungen hierfür maßgebend, und das Patriarchat hat sogar die hierarchische Unabhängigkeit der andern Katholikosate bestritten und behauptet, daß sie zu seiner Einflußsphäre gehörten, obwohl aus den Urkunden, die sich auf die Organisation der Armenischen Kirche beziehen, sich kein ernster Beweis dafür beibringen läßt. Als Eriwan noch zur Türkei gehörte wurden die Berate (Investiturdiplome) für die Katholikose von Etschmiadzin auf Antrag des Patriarchen ausgefertigt und darin das Katholikosat als zum Bezirk des Armenischen Patriarchats gehörig bezeichnet; als dagegen im J. 1293 (1882) zwischen dem Katholikos Migkirditsch von Sis und dem Patriarchen ein Konflikt ausgebrochen war, hat die von der Pforte eingesetzte Kommission, in der auch das Patriarchat durch mehrere Beamte vertreten war, in ihren Berichten festgestellt, daß die behauptete Zugehörigkeit von Sis zum Armenischen Patriarchate sich urkundlich nicht belegen ließe und daß es daher der Pforte freistünde in dieser Frage nach eigenem Ermessen zu beschließen. Als daher das Katholikosat von Etschmiadzin in den Händen Rußlands zum Werkzeug geworden war, dessen es sich bediente, um mit Hilfe der Armenier das türkische Reich zu zerstückeln, und die Notwendigkeit vorlag, dieses Verhältnis zwischen Patriarchat und Katholikosat abzuändern, hätte dies ohne Bedenken dadurch geschehen können, daß man an Stelle des Katholikos von E. einen der anderen Katholikosse setzte. Das neue Gesetz hat diese Frage nunmehr in diesem Sinne erledigt, ohne dadurch irgendwie in die religiösen Verhältnisse der Armenier einzugreifen.

Der zweite wichtige Punkt, mit dem das Gesetz sich befaßt, ist die Auflösung des ”Generalrats”. Es ist bekannt, daß der türkische Staat schon im Zeitalter der Eroberung in seiner weitgehenden Auffassung der Gewissensfreiheit den nichtmohammedanischen Untertanen gewisse Vorrechte verliehen hat. Die wichtigsten Vorrechte sind die dem Griechischen Patriarchate verliehenen; sie beziehen sich im Grunde auf Glaubenssachen und die damit in Verbindung stehende Geschäftsführung. Wenn man von diesem Gesichtspunkte aus die Organisation des Griechischen Patriarchats betrachtet, sieht man, daß bei diesem Patriarchate zwei Körperschaften bestehen: die aus Mitgliedern des Klerus bestehende Synode und der aus 6 Mitgliedern der Synode und 8 Laien zusammengesetzte Laienrat; die Synode befaßt sich lediglich mit kirchlichen Angelegenheiten, der Laienrat mit den Finanzen, den Wohltätigkeitsanstalten und ähnlichen Angelegenheiten der Gemeinde. Das armenische Patriarchat besitzt außerdem noch einen medjlissi-umumi (Generalrat) von 140 vom Volke gewählten Mitgliedern, der vielmehr den Namen eines Nationalrats verdient. Es würde zu weit führen nach den Beweggründen zu forschen, die im J. 1279 (1863) den Großvezir leiteten, als er den Armeniern dies Sonderrecht verlieh. Was man sich auch damals dabei gedacht haben und welche Notwendigkeit dazu auch vorgelegen haben mag, dieser Zustand konnte nicht länger geduldet werden: es hätte geheißen, einen Staat im Staate zu bilden.

In der Tat hat der Nationalrat seit seinem Bestehen den Charakter einer politischen Köperschaft angenommen. Parteien entstanden unter den Armeniern, Programme wurden aufgestellt, Wahlkämpfe fanden statt, man schlug sich auf der Gasse und es kam zu Skandalen im Volksrat. Allmählich bekümmerte man sich nicht mehr um die Gemeindeangelegenheiten sondern nur um die politischen Parteiprogramme. Teile von den Parteien verfolgten direkt revolutionäre Ziele; einige von ihnen hielten es mit den Engländern, die andern mit den Russen, wieder andere hatten sich die völlige Unabhängigkeit der Armenier in den Kopf gesetzt. Um sich in ihrem Amte zu halten, mußten die Patriarchen mit den Parteien unterhandeln und ebenso wie die beiden vom Volksrat gewählten Konseils des Patriarchats sich mit politischen anstatt mit den eigentlichen Gemeindeangelegenheiten beschäftigen. Jeder von uns erinnert sich noch der Demonstrationen, die vor bald zwei Jahren aus Anlas des 50jährigen Jubiläums des Bestehens des Volksrats stattgefunden haben.

Es ist nicht nötig es besonders auszusprechen, daß nirgends in der Welt eine solche Körperschaft bestehen darf. Die ältesten Vorrechte, die bei uns verliehen sind, sind die des Griechischen Patriarchats; und es kann kein Grund geltend gemacht werden für die Verleihung eines außergewöhnlichen und unvernünftigen Rechtes an das armenische Patriarchat. Hält man sich aber die Folgen vor, so erkennt man aber, wie viel Schaden das vor 50 Jahren verliehene Recht sowohl dem Staate wie speziell den Armeniern zugefügt hat. Seitdem die Englische und Russische Agitation sich bei einigen Utopisten unter den Armeniern zu verbreiten begann, bildeten sich unter den Armeniern ausgedehnte Gesellschaften, die teils aus Überzeugung, teils zum persönlichem Nutzen ihrer Mitglieder revolutionäre Ziele verfolgten und denen das Patriarchat als Vermittler diente. Denn das Patriarchat gehörte nicht mehr dem Patriarchen, sondern befand sich unter dem Einfluß der politischen Agitatoren; diese spielten die Hauptrolle im Patriarchat, wählten aus der Geistlichkeit die ihnen dienlichen Persönlichkeiten aus und organisierten mit ihrer Hilfe die weitere Agitation.

Das Ergebnis war, daß nachdem der Staat den Armeniern im Vertrauen auf ihre Loyalität vor 50 Jahren so weitgehende Sonderrechte verliehen hatte, unter ihnen im vorigen Jahre einige Revolutionäre aufgestanden sind, die damit umgingen einen großen Brand zu entfachen; sie haben damit die Regierung und sich selber schwer geschädigt. Die Regierung durfte nicht länger zusehen; es handelte sich nur darum die Dinge auf ihre normale Basis zurückzuführen.

Man darf davon überzeugt sein, daß die Regierung bei der Schaffung der neuen Organisation ebenso sehr die Interessen der Armenier wie ihre eigenen im Auge gehabt hat. Denn das Patriarchat befand sich vollständig in Händen der politischen Agitatoren und die Armenische Gemeinde kann dadurch im Diesseits wie im Jenseits zu Schaden.


12. Anlage ist die französische Urschrift des Tanin-Artikels.



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