1917-02-16-DK-001
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Quelle: DK/RA-UM/Gruppeordnede sager 1909-1945. 139. D. 1, ”Tyrkiet - Indre Forhold”. Pakke 2, fra Jan. 1917 – 1. Jan. 1919
Erste Internetveröffentlichung: 2010 August
Edition: Dänische diplomatische Quellen
Telegramm-Abgang: 02/16/1917
Telegramm-Ankunft: 03/02/1917
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: No. 35
Übersetzung: Michael Willadsen
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/01/2012


Der Gesandte in Konstantinopel (Carl Ellis Wandel) an den Aussenminister (Erik Scavenius)

Bericht



Nr. 35

Konstantinopel den 16. Februar 1917.

Herr Außenminister,

In der ”Berlingske Tidende” [führende dänische konservative Tageszeitung] vom 30. Januar gibt es ein Interview mit dem türkischen Vali Mazhar Bey aus Syrien, der einige Punkte in den Berichten des heimgekehrten Missionar H. J. Mygind über die Zustände in Kleinasien und Syrien zu widerlegen sucht, und in der Ausgabe vom 1. Februars desselben Blattes nimmt Pastor Mygind zu den Behauptungen im Interview Stellung.

Pastor Mygind spricht Mazhar Bey das Recht ab, sich „Generalgouverneur“ zu nennen. Dieses ist jedoch die offizielle französische Übersetzung von „Vali“, wogegen „Gouverneur“ einen „Mutessarif“ bezeichnet.

Der springende Punkt bei der Diskussion ist jedoch, ob man sagen kann, dass es in der Türkei eine Hungersnot gibt oder nicht. Mazhar Bey wendet die in der türkischen Politik übliche Methode an, nämlich Äußerlichkeiten hervorzuheben um die Menschen, die die Verhältnisse in der Türkei nicht kennen, zu täuschen.

Er sagt, dass die Regierung durch die Einführung von „Vessikas“ Brot verteilen lässt, das nur 2 Piaster pr. Ok [1 Oka = 1,2829 kg] kostet, und das ist anscheinend auch so, weil die Regierung wirklich Brot zum Preis von 2 Piaster pro Kilo (nicht pro Ok) verteilen lässt, aber nur 167 Gramm pro Tag und Person und von sehr schlechter Qualität. Die Soldaten dagegen bekommen 1 Kilo Brot am Tag pro Mann, und das muss auch als normales Quantum angesehen werden, da die große Masse der Bevölkerung in Anbetracht der hohen Preise der übrigen Lebensmittel fast ausschließlich von trockenem Brot lebt. Sie muss sich darum die restlichen 5/6 des Brotes auf anderem Weg beschaffen (ohne Vessika), aber in diesem Fall kostet es zurzeit 15 Piaster pro Kilo, im Vergleich zu einem Piaster vor dem Krieg; und das weiße, nahrhafte Brot kostet zurzeit 30 Piaster. Aber weil Konstantinopel immer von den Regierungen begünstigt worden ist, und das Brot hier mindestens um 2000 Prozent im Preis gestiegen ist, wird der Preisanstieg in den Vilajets sicher viel größer gewesen sein, ein klarer Indikator dafür, dass der arme Teil der Bevölkerung von Hungersnot bedroht ist. Ich kann in diesem Zusammenhang daran erinnern, was ich in meinem Bericht Nr. XXIII [23] vom 30. vorigen Monats die Ehre hatte zu erwähnen: dass der Großrabbiner [Haim Nahum Effendi] mir gegenüber erklärt hat, dass nicht weniger als ca. 50 Personen täglich hier in der Stadt an Hunger und seinen Folgen sterben.

Das andere Nahrungsmittel, das Mazhar Bey erwähnt, ist Fleisch. Es kostet nicht, wie er sagt, 15 – 17 Piaster, sondern 28 – 30 Piaster, während es vor dem Krieg 10 – 12 Piaster kostete, aber das ist auch der einzige Artikel, dessen Preisanstieg verhältnismäßig gering ist.

Mazhar Bey bestreitet schließlich, dass diese Preissteigerungen künstlich hervorgerufen sind. Nun ist die Türkei ein Land, das vorwiegend Ackerbau betreibt, und es würde sich sicherlich selbst ernähren können, wenn die Behörden die Transporte zu den großen Zentren nicht monopolisiert hätten. Tatsächlich bestätigen Reisenden aus dem Innern des Reiches, dass große Mengen von Oliven an verschiedenen Orten herum liegen und verfaulen, während der Preis dieser Ware in Konstantinopel auf das Vierfache gestiegen ist, wo sie so wichtig für die Armen ist. Viele solcher Beispiele können angeführt werden.

Aber es gibt noch eine andere politische Maßnahme, die viel zur Verteuerung der Lebensmittel beigetragen hat und es in Zukunft noch weit mehr tun wird.

Die Revolutionen in der Türkei sind immer von der Armee organisiert worden, weil nur die Offiziere imstande waren, Staatsstreiche durchzuführen; und die jungtürkische Regierung weiß nur allzu gut, dass ihre Stellung prekär werden würde, wenn die Offiziere unzufrieden wären. Deshalb tut sie alles, was sie kann, damit die Offiziere von den Unannehmlichkeiten des Krieges – außerhalb des Kriegsschauplatzes - so wenig wie möglich spüren. So gilt für sie ein besonderer Preistarif, der sogar unter dem von vor dem Krieg liegt; z. B. bekommt ein Unterleutnant 2 Kilo Brot am Tag zum Preis von 2 Piaster pro Kilo, 15 Kilo Fleisch im Monat zu 4 Piaster pro Kilo, 8 Kilo Reis pro Monat für 3,5 Piaster - dieser Posten macht normalerweise 35 Piaster aus - und so fort; und diese Rationen (zu denselben Preisen) steigen mit dem Rang des Offiziers und es macht keinen Unterschied, ob der Offizier verheiratet oder ledig ist. Dass dies unzweckmäßig ist, weil viele Offiziere imstande sind, mit ihren Rationen Geschäfte zu machen und es praktisch auch tun, darauf nimmt die Regierung keine Rücksicht, wenn sie nur ihr Ziel erreicht, die Offiziere zufrieden zu stellen.

Gleichzeitig muss die Zivilbevölkerung das bis zum 20-Fache der üblichen Preise bezahlen, und je länger der Krieg andauert, desto schlimmer wird es natürlich werden.

Mozhar Bey hat auch die armenische Frage erwähnt und stellt sie als eine notwendige Maßnahme dar, aber Pastor Mygind bemerkt dazu sehr treffend: „Aber WO sind die Armenier?“.

Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich, Herr Minister, Ihr ergebenster


Wandel



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