1919-06-11-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14106
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/01/2014


"Vorwärts"

Die Akten über die Armenierfrage.



In der Zeit zwischen Frühjahr und Ende des Jahres 1915 spielten sich auf den verschiedenen mit Armeniern besiedelten Plätzen des türkischen Gebietes furchtbare Dinge ab. Große Teile des armenischen Volkes, Frauen und Kinder einbegriffen, wurden unter dem Vorwande von Kriegsnotwendigkeiten und als Strafe für das Verbrechen einzelner Armenier deportiert und sind in Massen getötet oder tödlich dem Hunger und den Strapazen ausgesetzt worden. Diese entsetzliche Tragödie der Armenier ist in Deutschland nicht bekannt geworden, weil die Zensur des alten Regimes jede Veröffentlichung darüber unterdrückt hat. Im Ausland wurde aus der erzwungenen Schweigsamkeit der deutschen Oeffentlichkeit hetzerisch eine Mitschuld des deutschen Volkes an den fürchterlichen Vorgängen konstruiert. Das danken wir den alten Gewalthabern.
Für die Ausrottung des größten Teiles des armenischen Volkes gibt es keine Beschönigung. Dieser in der neueren Geschichte unerhörte Vorfall ist ein Gewaltakt brutalster Art gewesen. Wenn wir das aussprechen, so wissen wir, daß damit nichts Böses gegen das türkische Volk selbst gesagt ist. Denn dieses mit uns heute noch durch warme freundschaftliche Gesinnung verbundene Volk hat über die Urheber und Organisatoren der Grausamkeiten gegen die Armenier stets ebenso geurteilt wie wir.

Jetzt hat Dr. Johannes Lepsius, ein bekannter Armenierfreund, eine Sammlung diplomatischer Aktenstücke (Deutschland und Armenien, Tempelverlag Potsdam) veröffentlicht, die uns nicht nur einen großen Ueberblick über die Summe von Scheußlichkeiten, durch die ein großer Teil des intelligenten Volkes im vorderen Orient vernichtet worden ist, verschaffen, sondern auch dartun, daß seitens der deutschen Regierung alles geschehen ist, was zum Schutze der Armenier von ihrer Seite aus möglich war. Diejenigen Armenier, für deren Rettung die deutsche Kraft nicht ausreichte, haben sich einer geradezu rührenden Fürsorge durch die deutschen Konsuln im Innern Klein-Asiens erfreut.

Als die Hauptschuldigen der Armeniermassakres werden allgemein die ehemaligen Großwesire Said Halim Pascha und Talaat Pascha, ferner der Kriegsminister Enver Pascha und der Marineminister Djemal Pascha angesehen. Sie hatten in der Provinz zuverlässige Freunde und Helfer, die ihrerseits einen Apparat korrumpierter Unterführer mit ausreichenden Scharen bedenkenloser Bewaffneter zur Hand hatten, um die geplanten Maßnahmen zuverlässig durchzuführen.

Der formale Gang der Ereignisse war in der Regel der: unter dem Vorwand der Gefährdung der militärischen Sicherheit der Türkei wurden zuerst die armenischen Notabeln verhaftet und meist für immer stumm gemacht. Dann wurde die Entwaffnung der männlichen Armenier durchgeführt und die dann waffenlose Bevölkerung in der Richtung auf Mesopotamien zu abtransportiert. In vielen Fällen wurden gleich bei Beginn des Transportes die Männer abseits getrieben und ermordet. Jüngere Frauen wurden vergewaltigt und in türkische Harems verkauft, die Kinder, soweit sie nicht schon umgebracht oder verhungert waren, wurden vielfach in mohammedanische Waisenhäuser geschleppt, um sie, wie ehemals die Janitscharen, zu islamisieren. Die Karawanen, die in der mesopotamischen Ebene ankamen, waren meist nur noch kümmerliche, verelendete Reste der früher aus ihren Heimatdörfern abgetriebenen Armenier. Man rechnet, daß mehr als zwei Drittel der türkischen Armenier in jenen Schreckensjahren ihr Leben lassen mußten.

Die deutsche Botschaft und alle deutschen Konsuln in der Türkei ohne Ausnahme haben ihr Bestes getan, um die gefährdeten Armenier zu schützen. Daß sie, als fremde Vertreter, das Fürchterliche nicht gewaltsam verhindern konnten, wurde zweifellos von niemand mehr beklagt, als von ihnen selbst. Freiherr von Wangenheim, der in der Hauptperiode jener Geschehnisse als deutscher Botschafter in Konstantinopel amtierte, ist dabei, wenigsten im Anfange der Deportationen, häufig von den türkischen Staatsmännern getäuscht worden. Seine Proteste lassen das ebenso erkennen, wie seine Berichte. “In Pera kennt man nur das europäische aber nicht das asiatische Gesicht der Türkei” sagt Lepsius indigniert. Wangenheim hat aber bald gelernt, auch das “asiatische Gesicht” zu sehen. Seine anfangs mit höflicher Zurückhaltung formulierten Proteste wurden immer eindringlicher und schließlich zu offenen Anklagen gegen die Pforte. Charakteristisch ist, daß seine Proteste häufig genug gerade die entgegengesetzte Wirkung des Gewollten ausgelöst haben. Als er gegen die Massenausweisungen in Cilizien vorstellig wurde, war “die ungewollte Folge dieses Schrittes die Enthebung des Walis Djelal Pascha von Aleppo, des einzigen Walis, der in seinem Wilajet sich den Maßregeln der Regierung mit Erfolg widersetzt hatte.”

Deutschland hatte bis zum Eintritt Bulgariens in den Krieg (5. Oktober 1915) keinerlei Machtmittel in der Türkei, um seinen Wünschen bei der Pforte Nachdruck zu verleihen. Im Innern von Anatolien gab es, von einzelnen Offizieren abgesehen, die den türkischen Oberkommandos zugeteilt waren, überhaupt keine deutschen Truppen.

Die verantwortlichen Männer in Konstantinopel kannten diese Schwäche sehr wohl und wußten auch, daß der Kriegszustand anderen Mächten eine Intervention unmöglich machte. Talaat Bey sagte damals, daß die Pforte den Weltkrieg dazu benutzen wolle, um mit ihren inneren Feinden - den einheimischen Christen - gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden. Die deutsche Botschaft in Konstantinopel sah die Folgen voraus, die die Ausrottung der Armenier für die Türkei haben mußte. Sie schrieb an das türkische Ministerium: “es sei vorauszusehen, daß mit dem Friedensschluß die armenische Frage von neuem zum Vorwand dienen wird, um sich in die inneren Angelegenheiten der Türkei zu mischen. Die Botschaft hält es für dringlich, den Provinzialbehörden peremptorische Befehle zugehen zu lassen, daß sie wirksame Maßnahmen treffen, um Leben und Eigentum der verschickten Armenier sicher zu stellen sowohl auf dem Transport als auch in den neuen Wohnsitzen.” Doch alles war in den Wind geredet. Es war unmöglich, die verbündete Regierung von dem verhängnisvollen Wege abzubringen. Man mußte ihr “die Verantwortung für die politischen und wirtschaftlichen Folgen dieser Maßregel überlassen”.

Das Buch Lepsius stellt einen sicheren Beweis dafür dar, daß Deutschland niemals mit den Greueln gegen die Armenier anders zu tun gehabt hat, denn als Beschützer der unglücklichen Opfer.

Aus diesem Buche geht auch hervor, daß jene Untaten, die letzten Endes als Verbrechen gegen das türkische Volk selbst wirken mußten, allein von den damaligen Herrschern der Türkei und von ihren Kreaturen zu verantworten sind. Das türkische Volk in seiner Gesamtheit hat sich niemals aktiv daran beteiligt. Es war allerdings auch zu schwach, um gegen die bewaffneten Banden der Plünderer und Räuber, die aus Habsucht die ihnen erteilten Befehle zur Tötung der Armenier ausführten etwas unternehmen zu können. Es gibt jedoch allenthalben europäische Zeugen, die von der Hilfsbereitschaft türkischer Einwohner gegenüber den Deportierten reden können.

Wenn man die Frage der Schuld genau fassen will, so darf man nicht über Bausch und Bogen urteilen. Man muß differenzieren. Fest steht zunächst, daß das deutsche Volk von den fürchterlichen Ereignissen des Jahres 1915 fast garnichts weiß. Die himmelhohe Mauer der deutschen Regierungszensur ließ keinerlei öffentliche Nachrichten durch. Durch die veröffentlichten Aktenstücke ist ferner dargetan, daß die diplomatischen Vertretungen Deutschlands alles getan haben, was in ihrer Kraft stand, um die Maßnahmen gegen die Armenier zu konterkarrieren und den Armeniern Schutz und Hilfe zu leisten. Das ist von maßgebenden armenischen Führern offen ausgesprochen worden. Weiterhin ist es ein großes Unrecht, das türkische Volk in seiner Gesamtheit für die Armeniervernichtung verantwortlich machen zu wollen.

Die Schuld liegt bei wenigen, damals mächtigen und allmächtigen Persönlichkeiten der Türkei. Aber auch hier muß noch unterschieden werden zwischen solchen, die aus politischem Fanatismus die Hand zum Verbrechen boten, und solchen, denen die nackte Habsucht, die Gier, sich an armenischen Gütern zu bereichern, die einzige Richtlinie zu ihren Handlungen war. Die letzteren waren die Schlimmsten und Unerbittlichsten. Wenn diese mit aller Rücksichtslosigkeit von der Faust der Vergeltung getroffen werden, wird sich im türkischen Volke selbst keine Stimme des Mitleids erheben. Denn sie sind es gewesen, die die Katastrophe für die nationale Selbständigkeit des türkischen Volkes vorbereitet haben.



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