1915-09-22-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R14087
Zentraljournal: 1915-A-27810
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 09/24/1915 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: J. Nr. 6867
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Konsul in Basel (Wunderlich) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



J. Nr. 6867
Basel, den 22. September 1915
12 Anlagen1

Seit einiger Zeit bringen die Basler Nachrichten und neuerdings auch die Neue Zürcher Zeitung Artikel über sogen. Armeniergreuel, worin die “Vernichtung eines christlichen Volkes” einer sehr abfälligen Kritik unterzogen wird. (vgl. die anliegenden Ausschnitte). Diese Artikel wirken zweifellos deutschfeindlich und es wäre sehr am Platze, wenn weiteren derartigen Veröffentlichungen Einhalt getan werden könnte. Die Haupttriebkraft dieser Agitation ist, wie ich erfahren habe, ein Herr Lepsius (Sohn des bekannten Ägyptologen) in Berlin. Dieser Herr soll kürzlich in der Schweiz gewesen sein und berichtet haben, im Auswärtigen Amt in Berlin sei man völlig unterrichtet über den Verlauf und Umfang der Armenierverfolgung. Das Auswärtige Amt habe versucht, diesen Verfolgungen Einhalt zu tun, aber die Türken (vor allem Enver Pascha) liessen sich in ihren inneren Angelegenheiten nichts sagen. Deutschland habe so wie so viele Schwierigkeiten mit der Türkei, da diese mitunter schwankend werde zufolge der Anerbietungen seitens der Entente.

Amerika habe sich bereits ernstlich mit dem Gedanken getragen die Armenierfrage so zu lösen, dass die Union Ansiedelungsland im Westen diesem Volk zur Verfügung stelle. Enver Pascha sei aber auch dies nicht genehm. Lepsius, der in Konstantinopel war, habe Enver Pascha vorgestellt, der ganze Handel in der Türkei liege in den Händen der Armenier. Seien diese vertilgt, so “hätte die Türkei keinen Magen mehr.” Enver Pascha habe erwidert, die Türkei werde einige Zeit auch mit schwachem Magen leben können.

Da sonach in Konstantinopel für die Armenier bisher nichts zu erreichen war, habe Lepsius es für gut befunden, in der neutralen Presse gehörig Lärm gegen Deutschlands Bundesgenossen schlagen zu lassen. Die schweizerischen Entrüstungsartikel sollen dann als Basis für einen neuen Interventionsversuch zu Gunsten der Armenier dienen. Mag das Verhalten des Herrn Lepsius seinem christlichen Herzen alle Ehre machen; sein Verstand sollte ihm sagen, dass er durch die, wie er weiss, ganz aussichtlose Agitation im neutralen Lande nichts anderes bewirkt als Schädigung Deutschlands.

Abschrift dieses Berichts nebst Anlagen lasse ich der Kaiserlichen Gesandtschaft in Bern und dem Kaiserlichen Generalkonsulat in Zürich zugehen.


Wunderlich


Anlage 1

“Basler Nachrichten” (29. 7. 1915)
Tagesbericht.28. Juli.


In der Türkei scheinen gegenwärtig Armenierverfolgungen im größten Maßstab stattzufinden.

In türkischer Beleuchtung stellen sich diese Vorgänge nach einem der schweizerischen Presse nicht übermittelten Wolff-Telegramm folgendermaßen dar:

“Konstantinopel, 16. Juli. Die Kaiserliche Regierung hatte seinerzeit die Maßnahmen bezüglich der Entfernung der Armenier aus den Gehöften bekanntgegeben, wo ihre Anwesenheit als schädlich und als gefährlich für die innere Sicherheit und Ruhe für die nationale Verteidigung betrachtet werde. Unsere Feinde haben darin einen Vorwand entdeckt, um die öffentliche Meinung gegen uns zu bearbeiten. Ihre Zeitungen, wie die der neutralen Länder, die sie für ihre Sache zu gewinnen vermocht haben, bemühen sich, die Wahrheit zu verschleiern, indem sie sorgfältig alle Tatsachen, welche die Maßnahmen betreffen, entstellen und behaupten, das armenische Element sei trotz seiner vollkommenen Unschuld in seinen elementarsten, natürlichsten und heiligsten Rechten geschädigt. Die dringende Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der Haltung, die die Kaiserliche Regierung gegenüber den revolutionären Armeniern einzunehmen sich gezwungen gesehen hat, ist jedoch nicht zu bestreiten.

Die Ereignisse geben unseren Militärbehörden täglich neue Beweise für das Vorhandensein eines seit langem vorbereiteten und beschlossenen Planes, den die Armenier pünktlich auszuführen fortfahren, indem sie auf der Seite der Russen gegen uns kämpfen. Diese gesetzwidrige und umstürzlerische Losreißungsbewegung, die bis in die letzte Zeit nur bei der Front und in den benachbarten Gebieten festgestellt wurde, hat sich kürzlich bis in unsere Etappenlinien ausgedehnt. So überfielen am 2. Juni a. St. 500 bewaffnete Armenier, welchen sich Fahnenflüchtige desselben Stammes angeschlossen hatten, die Stadt Charki Karahissis (Karahissar - Scharki im Vilajet Siwas? Die Red.) und griffen die mohammedanischen Viertel an, wo sie sämtliche Häuser ausplünderten. Sie verbarrikadierten sich dann in der Zitadelle der Stadt und beantworteten die väterlichen und versöhnlichen Ratschläge der örtlichen Behörden mit Gewehrfeuer und Bomben, wodurch 150 Zivil- und Militärpersonen getötet wurden. Der letzte Vorschlag der Regierung, der auf die Unterwerfung ohne Blutvergießen abzielte, ist erfolglos geblieben. Unter diesen Umständen sahen sich die Behörden gezwungen, Geschütze gegen die Zitadelle zu wenden, und dank dieser Zwangsmaßnahmen ist es gelungen, dieser Rebellen am 20. Juni Herr zu werden. Aehnliche revolutionäre Bewegungen, die hier und da ausbrechen, zwingen uns, an unsern verschiedenen Grenzen unsern Armeen Kräfte zu entnehmen, um sie zu unterdrücken. Um diese Unannehmlichkeiten zu vermeiden und die Wiederholung von Ereignissen zu verhindern, bei welchen neben den Schuldigen auch die unschuldige und friedliche Bevölkerung bedauernswerten Schaden erleidet, mußte die Kaiserliche Regierung gegen die revolutionären Armenier gewisse vorbeugende und einschränkende Maßnahmen treffen.

Infolge der Ausführung dieser Maßnahmen sind diese Armenier aus den Grenzzonen und Gebieten, wo Etappenlinien eingerichtet sind, entfernt worden. Somit sind sie dem mehr oder weniger wirksamen Einfluß der Russen entzogen, und sind dadurch außerstande gesetzt, den höheren Interessen der Landesverteidigung zu schaden und die innere Sicherheit zu gefährden.”

Von der andern Seite lautet es so:

“Petersburg, 22. Juli. Die “Nowoje Wremja” hat Nachricht erhalten von unerhörten Massakres an Armeniern, welche die russischen Truppen auf den eroberten Gebieten konstatieren konnten, wo von den Kurden und den Funtionären des Sultans alle Männer ermordet und alle Frauen und Mädchen weggeschleppt worden sind.

Die von den Türken in der Gegend von Bitlis verübten Grausamkeiten sind unbeschreiblich. Die Türken massakrierten die ganze männliche Bevölkerung dieser Gegend, trieben dann 9000 Frauen und Kinder der umliegenden Gegenden zusammen und schoben sie auf Bitlis ab. Zwei Tage darauf schleppten sie sie an die Ufer des Tigris, erschossen sie allesamt und warfen die 9000 Leichen in den Fluß.

Am Euphrat haben die Türken über 1000 Armenier ermordet und die Leichen in den Fluß geworfen. Gleichzeitig erhielten 4 Battaillone den Auftrag gegen das Tal von Musch zu marschieren, um die 12000 in jenem Tal wohnenden Armenier zu vernichten. Nach den letzten Nachrichten sollen die Massakres bereits begonnen haben. Die Armenier leisten Widerstand, leiden aber an Munitionsmangel und werden von den wütenden Türken ganz vernichtet werden. Auch die Armenier in der Umgebung von Diarbekir werden ebenfalls getötet werden.”

Die Wahrheit wird aus dem türkischen und dem russischen Bericht zu kombinieren sein. Es ist kaum zu bezweifeln, daß revolutionäre Erhebungen der Armenier stattgefunden haben. Russische Agenten haben das Terrain schon vor dem Krieg vorbereitet, und die Armenier müßten nach den scheußlichen von einwandfreier deutscher Seite konstatierten Verfolgungen unter Abdul Hamid und seinen Nachfolgern Engel sein, wenn sie keinerlei Versuche machten, das Joch abzuwerfen. Auch die Meldung, daß sie auf keine “väterlichen und versöhnlichen Ratschläge” zur Unterwerfung hören, wenn sie einmal aufgestanden sind, klingt sehr wahrscheinlich; denn es gehörte zum Typus der früheren Armeniermassakres, daß man die Opfer vor der Abschlachtung durch einen Gnadenerlaß zur Waffenablieferung bewog. Wenn aber die Meldung der “Novoje Wremja” richtig ist, so dehnt sich die Verfolgung auf Gebiete aus, die weit entfernt von der Kampfzone liegen und wo die eingesprengte armenische Minorität es sicher nicht wagt, den Zorn der mohammedanischen Massen zu reizen.

Das würde die Vermutung nahe legen, daß die Kriegszeit von den Jungtürken benützt werden soll, um das Werk Abdul Hamids zu vollenden und das altchristliche Kulturvolk der Armenier ganz auszurotten. Es ist ein unheimliches, von früherher als Parallelerscheinung bekanntes Zeichen, daß gerade jetzt in der offiziösen deutschen Presse die Kulturhöhe der Türken wieder gepriesen wird. In einem redaktionellen Artikel der “Straßburger Post” vom 19. Juli lasen wir z. B. folgende lapidare Sätze: “Die Türkei ist das Land der Toleranz und der Bildung; nicht allein auf religiösem, sondern auch auf rein wirtschaftlichem und auf politischem Gebiet.” “Die Anhänger des Islam habe immer nur gegen diejenigen gekämpft, die das Schweert gegen sie gezückt hatten; niemals waren sie blutdürstig.”

Es wäre nicht nur erfreulich, sondern auch politisch klug, wenn gerade von deutscher Seite dafür gesorgt würde, daß die Türken jetzt nicht wilder, als militärisch nötig ist, gegen die Armenier vorgehen; denn in weiten Gebieten der asiatischen Türkei sind die Armenier das einzige Element, mit dem später wirtschaftlich zu verkehren sein wird, nicht etwa nur, wie man in Deutschland meist glaubt, die einzigen Kaufleute, sondern auch die einzigen für irgend welchen Fortschritt empfängliche Handwerker und Landwirte. Ein Deutschland, das die Türkei als wirtschaftliche Expansionszone betrachtet, muß mit ihnen rechnen. Und ein Deutschland, das täglich die neutrale Welt mit Klagen darüber erfüllt, daß seine Gegner Gurkhas, Senegalneger und Marokkaner verwenden, muß auch damit rechnen, daß alles, was seine türkischen Bundesbrüder an den unglücklichen Christenvölkern des Orients tun, auf sein Konto gesetzt wird, wenn es seine Macht in Konstantinopel nicht zur Abhilfe mobil macht. Dazu hätte es in seinem gegenwärtigen stellvertretenden Botschafter, dem Fürsten Ernst zu Hohenlohe-Langenburg, gerade jetzt einen geeigneten Mann dort. Er ist nicht nur ehemaliger Leiter des Reichskolonialamtes, kennt also die Grundlagen wirtschaftlichen Gedeihens, sondern hat einst auch im Gustav Adolf-Verein eine Rolle gespielt und ist Kommendator des Johanniterordens, hat also Sinn für Christenpflichten.


Anlage 2

“Basler Nachrichten” (6.8.1915)
Deutsche Stimmen über die Armeniermassakres.
In der neuesten Nummer der “Christlichen Welt” schreibt Ewald Stier:


Freiligrad hat einmal Irland ”die Niobe der Nationen” genannt. Mit noch größerem Rechte könnte man das von Armenien sagen. Das Schicksal dieses Volkes ist im wahren Sinne tragisch, und einen besonders spannenden Akt erleben wir jetzt. Armenien stand unmittelbar vor der Erfüllung lange gehegter Hoffnungen, als der Weltkrieg ausbrach und es wieder in eine Tiefe stürzte wie kaum zuvor.

Am 8. Februar 1914 hatte die Türkei nach langen Verhandlungen der Einführung der armenischen Reformen zugestimmt. Die sechs armenischen Wilajets wurden in zwei Inspektionsbezirke zusammengefaßt, an deren Spitze europäische Verwaltungsbeamte traten. Die Christen sollten an den Verwaltungsräten, den Gerichtshöfen, der Gendarmerie und Polizei nach dem Maßstabe ihrer Bevölkerungszahl beteiligt werden. Die kurdischen Regimenter sollten in die Armee eingeordnet, den Armeniern die Schulgründungen erleichtert werden. Die Generalinspektoren, der Holländer Westenenk und der Norweger Hoff, waren berufen, der eine von ihnen bereits nach Armenien abgereist, der andere in Konstantinopel eingetroffen. Die Armenier konnten hoffen, nun endlich Sicherung für Leben und Eigentum und Freiheit für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung gewonnen zu haben. In Rußland genossen sie, seitdem der Statthalter Woronzow Daschkoff auf den ermordeten Fürsten Galitzin gefolgt war, eine wohlwollende und freundliche Behandlung. Das Volk glaubte nach so vielen Leiden endlich einmal aufatmen zu können.

Da brach der Krieg aus und veränderte mit einem Schlage die ganze Lage. Zwar nicht in Rußland. Dort wurden und werden noch jetzt die Armenier im vollen Gegensatz zu früheren Zeiten auffallend bevorzugt; es wird jetzt klar, weshalb Rußlands Armenierpolitik geschwenkt ist. Jetzt erntet es die Früchte. An der Seite der russischen Truppen kämpfen die armenischen Freiwilligen, und seit das Kaukasusgebiet fast von regulären russischen Truppen entblößt ist, sind sie es vornehmlich, die hier eine Stadt nach der andern erobern. Die Armenier gewinnen sich ihr eigenes Reich! Wie müssen solche Gedanken und Aussichten die Massen entflammen!

Wie anders geht es in der Türkei zu! Dort werden die Armenier in großer Zahl gefangen gesetzt; schon sind eine Anzahl ihrer Führer in schneller Justiz gehängt. In den Provinzen tobt der Kampf mit allen orientalischen Scheußlichkeiten, mit Niedermetzelung ganzer Dörfer, Plünderung und Raub, Schändung der Frauen. Zu Tausenden sind die Armenier nach Rußland hinübergeflüchtet, zu Tausenden werden sie von der Regierung aus ihrer Heimat vertrieben und in Mesopotamien angesiedelt. Was jetzt in Armenien vor sich geht, erinnert an die schlimmsten Zeiten der an Leiden so reichen armenischen Geschichte. Die Regierungen von Frankreich, England und Rußland haben eine Erklärung veröffentlicht, in der sie von ”Verbrechen der Türkei gegen Menschlichkeit und Zivilisation” sprechen und der Pforte ”öffentlich zu wissen geben, daß sie für die genannten Verbrechen alle Mitglieder der Regierung, sowie diejenigen ihrer Beamten, welche in derartige Massakres verwickelt sein sollten, persönlich verantwortlich machen werden.2"

Demgegenüber hat die türkische Regierung offiziell erklärt, daß von Massenmorden nicht die Rede sein könnte. Es handle sich vielmehr um die Niederschlagung eines Aufstandes, der von den Beauftragten des Dreiverbandes selbst angezettelt worden sei. Daß Rußland sich seit Jahren bemüht hat, die Armenier zu gewinnen, ist erwiesen; russisches Geld und russische Gewehre haben schon vor dem Kriege eine Rolle gespielt. Nur hat den Russen niemals an den Armeniern gelegen, und ebensowenig haben Frankreich und England ein Recht, sich jetzt über das Schicksal der Armenier zu entrüsten, nachdem sie 1894 bis 96 die Massenmorde unter Abdul Hamid ruhig haben geschehen lassen: sie haben nur papierne Proteste dagegen aufgeboten. Rußland hat von je Unruhen in Armenien gewünscht und deshalb nicht bloß die Armenier, sondern ebenso die Kurden mit Waffen versehen, um einen guten Vorwand zum Einmarsch zu haben; dieser wäre schon 1913 erfolgt, wenn das nicht damals durch eine energische Berliner Note verhindert worden wäre.

Aber es fragt sich allerdings, ob die russischen Umtriebe, wie auch die „Frankfurter Zeitung“ vom 7. Juli (Nr. 186) annimmt, genügen, um die Vorkommnisse in Armenien zu erklären. Nach den bestimmten Nachrichten, die uns schon vor Monaten von dort zugekommen sind, beruht der Anfang jener traurigen Vorkommnisse auf Umständen, die nicht erst durch fremde Eingriffe hervorgerufen worden sind; und das ist das wahrhaft Tragische an dem Geschick der Armenier.

Mit dem Beginn des Krieges fühlte die Türkei sich auf einmal frei von der europäischen Bevormundung. Sie reckte die Arme empor: die Kapitulationen fielen, und mit ihnen zugleich das armenische Reformprogramm, obwohl es eigentlich nur ein Teil eines innertürkischen Gesetzes über die Verwaltung der Wilajets bildete. Das Gesetz ist niemals veröffentlicht worden. Die Generalgouverneure bekamen keine Vollmachten und waren gezwungen, in die Heimat abzureisen.

Die Kriegserklärung der Türkei verschärfte die Lage aufs äußerste. Die russisch-türkische Grenze geht mitten durch Armenien hindurch. Hüben wie drüben zwei Millionen Armenier, dazu in Rußland das Zentrum der Nation: Etschmiadzin mit dem Katholikos und der Akademie. Wahrlich, man könnte es verstehen, wenn sich bei den türkischen Armeniern russische Sympathien gezeigt hätten. Hatte doch Rußland den armenischen Reformplan mit allen Mitteln unterstützt, und wenn auch die Annahme des Plans nur dem Einwirken der deutschen Regierung zu danken ist, so hatte es Rußland doch verstanden, sich bei den Verhandlungen mit der Gloriole des Armenierbeschützers zu umgeben.

Trotzdem sind die Armenier als Ganzes gesehen durchaus loyal geblieben. Im November erschien ein Aufruf des Patriarchen an alle Armenier, für die Türkei die Waffen zu ergreifen. In allen armenischen Kirchen wurde für den Sieg der türkischen Waffen gebetet. Es fanden begeisterte Kundgebungen der armenischen Jugend statt, das armenische Rote Kreuz sammelte bedeutende Mittel. In Konstantinopel und Erzerum wurden aus armenischen Spenden Lazarette, das erstere mit 200, das letztere mit 150 Betten errichtet. Das alles geschah nicht nur etwa unter dem Zwange der Verhältnisse. Die Führer der armenischen Volkspartei ”Daschnakzutiun”, deren Organisation bis ins kleinste Dorf reicht, waren weitsichtig genug, die letzten Gründe der russischen Politik zu durchschauen, und großherzig genug, um trotz der vielen getäuschten Hoffnungen dennoch an der Türkei festzuhalten, in der Ueberzeugung, daß das armenische Volk nur hier die Freiheit kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung finden würde, nach der es einzig verlangt. Unter den maßgebenden armenischen Führern gibt es keine Russenfreunde. Sie haben treu an dem Bündnis festgehalten, das bei Beginn der türkischen Revolution zwischen denen, die von der Reaktion das Gleiche erlitten hatten, geknüpft worden war, so oft auch die berechtigten Wünsche des armenischen Volkes zurückgedrängt worden waren. Und so haben sich denn die armenischen Soldaten im türkischen Heere - die Regierung nennt selbst die Zahl 40000 - tapfer geschlagen. Enver Pascha hat in seinem Schreiben an den Patriarchen und dem Bischof von Konia bezeugt, daß die Armenier sich mit bewundernswürdiger Tapferkeit schlugen. Bei Sarikamisch hat ihr Ansturm den Rückzug des türkischen Heeres gedeckt und die Gefangennahme eines ganzen türkischen Generalstabs verhindert.

Es ist freilich vorgekommen, daß Einzelne übergelaufen sind. Wer kann sich darüber wundern, wo doch ihre Brüder in den russischen Reihen kämpfen? Die Armenier behaupten jedoch, daß die Desertionen auf muhamedanischer Seite mindestens ebenso zahlreich gewesen wären. Es sollen auch Fälle von Spionage sich ereignet haben. In welchem Kriege blieben sie aus? und wer könnte in Kriegszeiten jeden Verdacht peinlich auf seine Berechtigung untersuchen? Diese einzelnen Fälle, die hier noch erklärlicher wären als anderswo, dürfen nicht genügen, um die Angriffe zu rechtfertigen, denen die Armenier ausgesetzt gewesen sind.

Es steht fest, daß armenische Soldaten aus dem Hinterhalte von ihren muhamedanischen Kameraden beschossen worden sind. Es ist ferner eine Tatsache, daß die Armenier die Lasten des Krieges in unverhältnismäßigem Grade zu tragen hatten, sowohl was Requisitionen, wie was Einquartierungen anlangt. Für den Transport von Proviant und Munition sind an vielen Orten nur die Armenier herangezogen worden. Während diese waffenlos die schwersten Arbeiten verrichten mußten, sind ihre geschworenen Feinde, die nomadisierenden Kurden, vom 16. bis zum 60. Jahre als Miliz bewaffnet worden. Es braucht wohl nicht erst lange ausgeführt werden, was darauf entstanden ist. Es sei nur daran erinnert, wie die kurdischen Regimenter sich während des Balkankrieges in der unmittelbaren Nähe Konstantinopels betragen haben, wo die kurdischen Soldaten in Haidar-Pascha mit dem Rufe, Kiß, Kiß (Mädchen) in die Häuser drangen und schließlich in der Selimiehkaserne interniert werden mußten. Es kam, wie es kommen mußte. Die Kurden wurden in die armenischen Dörfer einquartiert, während die armenischen Männer draußen im Felde standen oder auf den Etappenstraßen Lasten trugen. Kurden vergreifen sich an den Frauen; Armenier verteidigen die Ehre ihrer Gattinnen und Töchter, ein Kurde wird erschossen und das Blutbad ist fertig. So sind in der Tat viele Tausende von Armeniern hingemordet worden. Ein anderer Anlaß zum Streit waren die Nachforschungen nach Deserteuren. Dabei wird das Pferd eines Gendarmen getötet, und nachher werden 100 Frauen festgenommen und die männlichen Einwohner des Dorfes getötet. Ein solcher Streit ist auch die Veranlassung zu dem Aufstand in Zeitun gewesen. Die Armenier lieferten die zu ihnen geflohenen 14 Deserteure aus, wurden aber beschuldigt, zwei Gendarmen getötet zu haben. Es kommt zu einem Kampfe, bei dem 25 Mann von beiden Seiten getötet werden. Die Regierung schickt eine große Strafexpedition: zwei Stadtteile von Zeitun ziehen die weiße Fahne auf, nur der dritte Stadtteil setzt sich in Verteidigungszustand, wobei Hunderte getötet werden, darunter der Befehlshaber der Expedition und ein höherer Offizier. Zur Strafe ist die ganze Bevölkerung von Zeitun nach Mesopotamien verbannt worden. Ein Beweis dafür, wie wenig Landesverrat der Armenier die Ursache zu diesen Zwischenfällen war, ist die Vermittlung, die deutsche Konsuln und deutsche Offiziere in vielen Fällen geleistet haben. Ja man kann sagen, daß, wo deutsche Konsuln vorhanden sind, es nicht zu Armeniermorden gekommen ist. Als nach dem Vorfall in Zeitun auch die Muhamedaner in Aleppo und Aintab gegen die Christen aufgehetzt wurden, konnte der deutsche Konsul von Aleppo durch seinen Einfluß einem Gemetzel vorbeugen. Hätten wir mehr Konsuln in Armenien - sie fehlen sogar an so bedeutenden Orten wie Wan und Musch - dann stände es nicht bloß um die armenische, sondern auch um die türkische Sache besser in diesem Kriege.

Es wird nun behauptet, daß die mit den Russen in Wan eingezogenen Armenier gleich diesen ein Blutbad unter den dortigen Muhamedanern angerichtet und Scheußlichkeiten an den Frauen verübt hätten. Wir können das unter den jetzigen Verhältnissen nicht nachprüfen. Wenn es aber wahr ist, so wäre es nur eine kleine Vergeltung für das, was an hundert Orten vorher an den Armeniern geschehen ist: in Wan allein sollen 6000 ermordet worden sein. Die armenischen Banden, die auf Seiten der Russen kämpfen und die sich natürlich aus Russisch-Armenien rekrutieren, haben sich zunächst zusammengefunden zum Schutze ihrer Volksgenossen in der Türkei. Sie sind nicht groß, nur wenige Tausende, und auch diese hätten sich nicht bewaffnet und würden mit solcher Wut fechten, wenn nicht vorher die geschilderten Metzeleien geschehen wären. Daß türkische Armenier in größerer Zahl in ihren Reihen kämpfen, wird auf das entschiedenste bestritten.

Es ist nicht bei den Kämpfen in den armenischen Provinzen, zu denen ja Cilicien ebenfalls gehört, geblieben. Man hat in Konstantinopel die Führer des Komitees ”Hintschak” gefangen gesetzt und großenteils hingerichtet. Man hatte auch schon im Februar, nachdem in Koms eine kurdische Bande unter dem berüchtigten Räuber Mehmed Emin angegriffen und 12 Kurden nebst ihrem Führer getötet worden waren, den Daschnakklub in Konstantinopel geschlossen und den Deportierten von Wan Papasian gefangen gesetzt. Er ist, nachdem der Verdacht sich als falsch herausgestellt hatte, wieder freigelassen worden. Dann aber sind sämtliche Führer von Daschnakzutiun im ganzen Lande, über Tausend, die ganze armenische Intelligenz, verhaftet worden. Wir hoffen, daß die hier nicht gut beratene türkische Regierung davon absteht, ihnen das Schicksal der Hintschakisten zu bereiten. Es wäre das auch im türkischen Interesse ein nicht wieder gut zu machender Fehler.

Die Geschichte, die sich jetzt vor unseren Augen in Armenien abspielt, ist tragisch im höchsten Maß. Diesmal geht sie uns noch viel näher an, als vor zwanzig Jahren. Es hat keinen Zweck, viel darüber nachzudenken, was geworden wäre, wenn es den Türken gelungen wäre, sich die Sympathien der Armenier zu erwerben. Die Möglichkeit dazu war reichlich vorhanden, und an gutem Rate von deutscher Seite hat es nicht gefehlt. Er fehlt auch heute nicht. Die deutschen Freunde Armeniens können nichts sehnlicher hoffen, als daß in letzter Stunde noch das Unheil von Armenien abgewendet wird, daß zugleich einen schweren Schlag für viele Hoffnungen auf ein Emporblühen des Orients bedeuten würde.

Der Redaktor der “Christlichen Welt”, Prof. Rade (Marburg) fügt dem Artikel folgende Bemerkung bei:

Seit den Massakres von 1896 hat unser Blatt und sein Leserkreis diesem Volke eine warme und anhaltende Teilnahme gewidmet. (Unser erster Artikel 1896 Nr. 4: “Gräuel in Armenien”. Vgl. schon 1894 Nr. 40-42: “Die armenische Kirche unter türkischer Herrschaft.”) Eine völlig uneigennützige Unterstützung armenischer Studenten in Deutschland hat bis auf diese Stunde stattgefunden und Früchte getragen. Mit Freude lesen wir soeben die Leipziger Doktordissertation des jüngsten unter unsern armenischen Freunden: Die Kreuzfahrer und die Armenier, von Galust Ter-Grigorian Iskanderian aus Van (113 S.) Diese Beziehungen unter den so furchtbar schwierigen Verhältnissen, die der Krieg in Armenien geschaffen hat, festzuhalten, ist uns nicht nur selbstverständliche Pflicht, nein wir sind als Bundesgenossen der Türken doppelt verpflichtet, den Armeniern in ihrem berechtigten Schutz- und Fortschritts-Bedürfnis zu Hilfe zu kommen. Wir könnten dies auch politisch begründen; aber es entspricht dem Prinzip des “notwendigen Liebeswerk”, daß wir das nicht tun. Es handelt sich für uns um ein Kulturwerk im hohen geistigen, christlichen Sinne. Verdoppeln wir unsern Eifer dafür, in der schlichten Ueberzeugung, daß die Armenier das Volk sind und bleiben, das berufen ist, in seiner Heimat eine Kultur zu entfalten, die auch für seine Nachbarn und für die herrschenden Staaten von Segen sein wird. In diesem Sinne bitten wir nicht nur die alten Freunde der Sache Treue zu bewahren, sondern fragen auch Andere, ob sie nicht aufmerksam werden, näher treten und mithelfen wollen.


Anlage 3

“Basler Nachrichten” (26. 8. 1915)
An die Armenierfreunde.


Wir werden um Aufnahme folgender Zeilen gebeten: In mehreren interessanten Artikeln ist in diesem Blatte kürzlich über die jetzigen Zustände in Armenien ausführlich berichtet worden. Durch die kriegerischen Ereignisse begünstigt, sollen in letzter Zeit wieder große Armenierverfolgungen ausgebrochen sein. Neues, unsagbares Leid sei über das vielgeprüfte Volk gekommen. Aus zuverlässigen Quellen wird nun bekannt, daß seit Kriegsbeginn tatsächlich folgenschwere Ereignisse in Armenien eingetreten sind. Die offiziellen türkischen Berichte wollen allerdings von Armeniermetzeleien nichts wissen. Sie geben indessen zu, daß eine Strafexpedition nach Armenien entsandt wurde, um eine revolutionäre Bewegung, die sich bereits in offenen Revolten kundgegeben habe, zu unterdrücken. Nach der Meinung guter Orientkenner ist kaum zu bezweifeln, daß armenische Grenzbewohner die Zeit für gekommen erachteten, das türkische Joch abzuschütteln. Aber die Verhältnisse für ein erfolgreiches Vorgehen liegen so ungünstig, daß an eine ausgedehnte Erhebung gar nicht zu denken ist. Ob die Strafexpedition zu wirklichen Armeniermassakres, nach dem Muster der früheren, geführt hat, weiß man allerdings noch nicht. Dagegen ist sicher erwiesen, daß durch die jüngsten Geschehnisse das armenische Volk neuerdings schwer heimgesucht wird. Tausende von wehrlosen Frauen und Kindern sind von ihren Dörfern vertrieben und unter schweren Entbehrungen zu wochenlangen Wanderungen gezwungen worden. Fräulein Beatrice Rohner aus Basel, die seit vielen Jahren als Lehrerin des “Deutschen Hilfsbundes” in Armenien tätig ist, berichtet, daß sie nach dem Durchzug einer solchen Karawane 15 Säuglinge am Wegrand fand , die die erschöpften Leute zurücklassen mußten. Die Wüstenreise besonders soll manchen das Leben gekostet haben.

Die Not der Vertriebenen hat da und dort im Lande selbst Helfern gerufen. Doch konnten diese nur wenig tun. Die Armenierfreunde des Auslandes sind jedenfalls noch wenig orientiert, sonst würde schon mehr für die Ärmsten getan worden sein. Es hat nun der auch in Basel wohlbekannte “Deutsche Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient” eine besondere Sammlung für diese Unglücklichen eröffnet. Sein Direktor, Herr Fr. Schuchardt, Frankfurt a. M., Fürstenbergerstraße 151, ist für jede Spende dankbar. Auch die baslerischen Sammelstellen des genannten Bundes sind bereit, Gaben in Empfang zu nehmen. Sie wären zu richten an Herrn Dr. E. Riggenbach, Starenstraße 2, Postscheck V, 1729, der die Besorgung der Sammlung für Basel übernommen hat. Die Armenierfreunde auf diese Hilfsaktion hinzuweisen, dürfte in Ansehung der dringenden Not wohl erlaubt sein. Zwar hat uns der Krieg selbst mancherlei Beschwernisse gebracht, die Drangsale Armeniens aber sind ungleich größer und heischen auch dann noch unsere Teilnahme und Hilfe, wenn diese durch eigene Not verringert sein sollten.

Von geschätzter Seite wird uns zu dem Aufruf geschrieben: Die Kunde von unerhörten Verfolgungen, die das armenische Volk in der Türkei gegenwärtig erdulden muß, ist zu uns gedrungen. Nicht nur finden, wie bei den früheren Metzeleien zahllose Armenier den Tod, sondern aus weiten Gegenden wird die ganze armenische Bevölkerung vertrieben. Meistens sind es bloß Frauen und Kinder, die ins größte Elend, einer ungewissen Zukunft entgegengehen. Die Männer sind erschlagen oder im Gefängnis. Es ist besser, die furchtbaren Einzelheiten zu verschweigen. Viele Tagereisen werden die Unglücklichen getrieben durch unwirtliche Gegenden, nachdem sie ihre ganze Habe verloren haben, oft vom allernötigsten entblößt. Sollen wir da, trotz den großen vielseitigen Anforderungen, die der Krieg schon an die Opferwilligkeit von jedermann stellt, ganz untätig bleiben bei dem neuen großen Unglück, das über das schon oft und schwer getroffene armenische Volk hereingebrochen ist? Der Deutschen Orientmission mit ihrem Spital und Waisenhaus in Urfa (Nordmesopotamien) ist in dieser Zeit eine große Aufgabe erwachsen. Sie sollte etwas beitragen können zur Linderung des namenlosen Elendes. Wie wir erfahren haben, sind auch in Urfa zahllose Vertriebene eingetroffen. Deren Not und große allgemeine wachsende Armut erfordert Hilfe. Unser Mitbürger Herr Jakob Künzler, der während des ganzen Krieges in Urfa bleiben konnte und erst kürzlich von schwerer Krankheit genesen ist, tut was in seinen Kräften steht. Ihm sollten wir Mittel zur Verfügung stellen, damit er nicht machtlos mit leeren Händen der ungeheuren Not gegenübersteht. Deswegen bitte ich herzlich um Hilfe alle, die trotz dem Elend und Unglück ringsum auch für die verfolgten Armenier noch etwas übrig haben.

Dr. Andreas Vischer, Arzt der Deutschen Orientmission in Urfa, z. Zt. in Basel.

Der Verein der Freunde Urfas (Präsident Herr Dr. E. Preiswerk-Oeri, Angensteinerstraße 20, Kassier Herr K. Zahn-Sarasin, Gartenstraße 24) vermittelt die Geldsendungen nach Urfa. Gaben nimmt auch entgegen die Redaktion der “Basler Nachrichten.”


Anlage 4

“Neue Zürcher Zeitung” (20.9.1915)
Die Vernichtung eines christlichen Volkes.


Schwere Heimsuchungen bringt der gegenwärtige Weltkrieg über weite Kreise der europäischen Völker. Aber noch weit furchtbarer, alles Maß des Menschlichen übersteigend, sind die Heimsuchungen, welche in diesem Sommer über die Armenier in Kleinasien, das am frühesten zum Christentum übergetretene und ihm unter den Leiden von anderthalb Jahrtausenden treugebliebene Volk, ergangen sind und noch ergehen. Betriebsame und friedliche Untertanen der Türkei, und gerade von der zur Herrschaft gelangten jungtürkischen Partei eine Sicherstellung gegenüber der Willkür der türkischen Beamten und dem unmenschlichen Räubertum der Kurden erwartend, sind sie von der jungtürkischen Regierung in der entsetzlichsten Weise dem Elend, dem Untergang preisgegeben worden. Das Ziel ist die Vernichtung aller nicht mohammedanischen Elemente im türkischen Reiche.

Einen Vorwand gaben Bewegungen der Sympathie mit den Russen im Osten des Landes, in der Gegend von Van, welche von jeher am meisten von den Kurden zu leiden hatte, und wo daher ein Teil der Bevölkerung im Vertrauen auf nahende russische Hilfe sich den Kurden und Türken entgegenstellte, welche dann nach dem vorübergehenden Zurückweichen der Russen furchtbare Rache nahmen. Gegen 800000 Menschen konnten sich in das von den Russen beherrschte Gebiet um den Ararat und Kaukasus flüchten, wo sie nun den schwersten Mangel leiden, wenn auch der Katholikos, das kirchliche und nationale Haupt der Armenier, durch seine Bitten beträchtliche Unterstützungmittel gesammelt hat und daraus nach Kräften den Bedrängten beisteht. Aber die friedlichen Gegenden der Mitte und des Westens von Kleinasien wurden nicht minder heimgesucht. Zunächst wurde das Volk entwaffnet, die kriegsfähigen Männer in den Militärdienst gepreßt, die geistigen Führer der Bevölkerung in den Kerker geworfen und meist ohne Untersuchung und Urteil der Reihe nach getötet. Besonders seit einem Regierungserlaß vom 20. Mai wütete die wilde Verfolgung in Niederbrennen der Wohnungen, in Mordtaten unter den friedlichen Bewohnern, ganz besonders unter denjenigen, die sich weigerten, ihren christlichen Glauben abzuschwören, in Entehrung von Frauen und Mädchen und Wegschleppung derselben in türkische Häuser, und in Austreibungen des Restes der Bevölkerung, der Kinder, Frauen, Greise, in großen Scharen und meist ohne die nötigsten Mitteln in öde Gegenden, besonders in die mesopotamische Wüste. Gegen eine Million Menschen sind so umgekommen. Tausende starben täglich dahin. Hilfeleistung an die Darbenden und Verkommenden wurde verwehrt. Die Verbreitung von Nachrichten in die christlichen Länder wurde geflissentlich verhindert, so daß erst in der letzten Zeit all das Grauenhafte bekannt geworden ist.

Proteste und dringende Verwendung von seiten aller christlichen Völker in Europa und Amerika, und Sammlung von Gaben zur Rettung der Reste des unglücklichen Volkes, trotz allen Opfern, welche die gegenwärtige Kriegslage allerwärts erheischt, tut dringend not und ist heilige Pflicht. Die Schweiz hat schon bei den ähnlichen, wenn auch nicht so ausgedehnten Verfolgungen, die 1895 und 1896 sowie 1909 über die Armenier kamen, treulich Hilfe geleistet. Es bestehen von daher schweizerische Hilfskomitees, und neue Verbindungen zur Hilfeleistung sind in Bildung. Für gewissenhafte Verwendung kann alle Garantie geleistet werden. Das Zentralkomitee der schweizerischen Komitees befindet sich in Neuenburg; in Genf und in Basel ist eine rege Tätigkeit im Gange. Für das zürcherische Hilfskomitee zugunsten der unglücklichen Armenier nehmen die Buchhandlung der evangelischen Gesellschaft in Zürich und der Quästor des Komitees, Herr Konrad Pestalozzi-Brunner, Pestalozzistraße 50, Zürich, Gaben dankend entgegen.


H. K.


1 Nur vier Anlagen bei den Akten.
2 Neue Züricher Zeitung Nr. 637 vom 25. Mai.



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