1920-01-02-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14106
Zentraljournal: 1920-A-03053
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 02/24/1920 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/01/2012


"Essener Volkszeitung"

Der Todesgang des armenischen Volkes - Deutschlands Schuld?



Zahlreich und schwer sind die Sünden der militärischen Zensur in den Jahren des Krieges gewesen. An wenigen Punkten vielleicht so verhängnisvoll als in der Verhinderung, daß die Wahrheit über Armenien bekannt geworden ist. Man brauchte - oder glaubte wenigstens zu brauchen - himmelhochjauchzende Türkenbegeisterung, damit das Vertrauen in die Freundschaft des Bundesgenossen keine Einbuße erlitt. Aber man hat nicht bedacht, daß man auf diese Weise unseren Feinden die gefährlichste Waffe in die Hand gab, um des deutschen Volkes moralisches Ansehen in der Welt aufs schwerste zu schädigen. Denn weil das deutsche Volk schwieg zu einem der unerhörtesten Verbrechen, das die Weltgeschichte gesehen hat, ja weil die deutsche Presse in völliger Unkenntnis der Dinge Geschehnisse, über welche die Welt sich mit Recht entrüstete, wenn nicht ganz ableugnete, so doch als berechtigte Verteidigungsmaßnahmen gegen das aufrührerische armenische Volk darstellte, mußte der Eindruck entstehen, daß man in Deutschland mit dem Vorgehen der Türken gegen die Armenier einverstanden sei, ein Eindruck, der von allen interessierten Kreisen geflissentlich gestärkt wurde.
Jetzt, da die Akten vorliegen und wir nun auch im Inland Dinge zu sehen bekommen, ob denen uns die Haare zu Berge stehen, können wir erst das Unheil ermessen, das uns widerfahren ist; wenn auch zum Troste des Menschenfreundes sich die völlige Unschuld der deutschen Behörden herausstellt. Wir denken an die Aktensammlung, die unter dem Gesamttitel “Deutschland und Armenien” von Dr. Lepsius, dem Vorsitzenden der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, der Oeffentlichkeit vorgelegt werden, nachdem ein von demselben Manne 1916 vertraulich verbreiteter “Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei” von der Zensur unterdrückt worden war.

Und was ist der Inhalt dieser furchtbaren Aktensammlung? Hier die kurze Antwort: Zwischen 1200000 und 1400000 Armenier wurden ausgetrieben und niedergemetzelt, nur ein Bruchteil davon erreichte die Deportierten-Lager am Rande der syrisch-arabischen Wüste, wo sie Hunger, Seuchen und erbarmungslosen Henkern ausgeliefert waren. Rund eine Million ist zu Tode gemartert worden, der Rest gewaltsam zum Islam bekehrt. Das ist das Werk der sog. jungtürkischen Partei, auf welcher das Bündnis Deutschlands mit der Türkei beruhte!

Das jungtürkische Komitee, dessen geistige Beherrscher Talaat Bey, der Minister des Innern, und Enver Pascha, der Kriegsminister und Höchstkommandierende, waren, hatte, um den nationalen Fanatismus zu entfachen und ihren eigenen Plänen dienstbar zu machen, die Alleinherrschaft der türkischen Rasse als ihr Ziel ausgegeben. Daß eine solche Alleinherrschaft nur auf dem Grabe der nichttürkischen Völker errichtet werden kann, liegt auf der Hand, und man versteht jetzt erst, was es eigentlich bedeutete, als einem Glied der deutschen Botschaft gegenüber Talaat Bey sich äußerte, die Pforte werde den Weltkrieg benützen, um mit ihren “inneren Feinden” gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Einmischungen des Auslandes gestört zu werden. Die “inneren Feinde” waren in diesem Falle die christlichen Völker im türkischen Reiche, unter ihnen an erster Stelle die Armenier.

Gleich mit Kriegsausbruch begannen die Gewalttätigkeiten gegen diese. Zur Rechtfertigung eines gewaltsamen Vorgehens mußte der “Aufstand von Wan” dienen. Als ihr Wali ermordet wurde, setzte sich die armenische Bevölkerung der Stadt Wan zur Wehr und hielt sich gegen die Türken vier Wochen lang (20. April bis 19. Mai 1915), bis das Anrücken der Russen ihnen Erlösung brachte. In diesen Kämpfen waren auf armenischer Seite 18 Mann gefallen, auf türkischer nicht viel mehr. Dieser Bagatellvorfall mußte nun dazu herhalten, der Welt von einem “armenischen Aufstand” vorzulügen, der wegen der militärischen Sicherheit die schärfsten Maßnahmen nötig mache. Es erfolgten zunächst Armeniermorde in den verschiedenen Städten, bis dann am 27. Mai ein Gesetz erlassen wurde über die Verschickung “verdächtiger Personen”. Das wurde zur Massenverschickung der christlichen Armenier benützt! Wie man sagte, nach den Internierungslagern an der syrisch-arabischen Wüste! Vor dem Aufbruch der Internierten wurden die jungen kräftigen Männer niedergemacht, die Mädchen und jungen Frauen verschleppt. Das Los der übrigen war der - Tod; denn die Türken hatten nicht die geringste Vorsorge getroffen für die Verpflegung der Massen auf ihrem Leidenswege. Sie sollten ja sterben, und man hatte die Absicht, die Zahl derjenigen, welche noch die Internierungslager erreichen sollten, möglichst klein zu halten. So waren die Straßen nach der Wüste der Schauplatz der scheußlichsten Verbrechen: In den Tagen vom 10. bis 14. Juni wurden in der Kemachschlucht 20 - 25000 Menschen, meistens Frauen und Kinder, kurzerhand abgeschlachtet. Von 1400000 Menschen blieb nach dieser Todeskarawane nur ein Drittel übrig. Und dieses sollte einer systematischen Aushungerung zum Opfer fallen. Was dann noch übrig blieb, mußte die Zwangsbekehrung zum Islam über sich ergehen lassen. Als dann nach dem Frieden von Brest-Litowsk die Türken in Transkaukasien einrückten, wurden abermals 20 - 30000 Armenier hingeschlachtet!

Und das geschah, während die Türkei mit Deutschland verbündet war und deutsche Offiziere in der Türkei kommandierten! Wen wird es wundern, daß dieser Umstand weidlich ausgenutzt wurde, um Deutschland für diese unerhörten Massenmorde haftbar zu machen! Selbst die Bessergesinnten in der Türkei machten da mit, sei es, weil ihrer eigenen Ansicht nach die Moslims solcher Taten unfähig seien, oder sei es - wie das von den Eingeweihten geschah - in der Absicht, dem Bundesgenossen die Verantwortung zuzuschieben!

Nach Durchsicht der Akten darf man jedoch besten Gewissens sagen: Gott sei Dank, es kann in Hinsicht auf die deutschen Behörden weder von einer Mittäterschaft noch auch nur einer fahrlässigen Duldung gesprochen werden. Die Konsuln wie die Offiziere und Diplomaten haben alles getan, um die fanatischen Jungtürken zur Vernunft und zum Einhalten zu bringen. Aber der Erfolg war gleich Null. Auf das Memorandum des Botschafters vom 4. Juli 1915 an den Großwesir und das noch schärfere vom 9. August erteilte die Pforte erst am 22. Dezember (!) eine brüsk ablehnende Antwort. Der Botschafter Wolff-Metternich fiel wegen seiner eindringlichen Mahnungen bei den jungtürkischen Gewalthabern in Ungnade und mußte abberufen werden! Liman van Sanders, der Oberbefehlshaber der 6. Armee, widersetzte sich dem Wali von Smyrna, der mehrere hundert Armenier aus Smyrna verschicken wollte und von der Goltz forderte seine Abberufung vom Oberbefehl (Spätsommer 1915) und ließ sich erst nach festen Versprechungen zugunsten der Armenier aus militärischen Interessen zur Weiterführung des Oberbefehls bestimmen. Im Kaukasus traten die Generäle von Lossow und Kreß von Kressenstein mit aller Schärfe für die gefährdeten Armenier ein.

Als die Dinge bekannt wurden, setzte von allen Seiten die Hilfsaktion für die unglücklichen Opfer jungtürkischer Brutalität ein, die deutschen Feldgeistlichen haben sich große Verdienste erworben, aus den Missionsvereinen aller Länder flossen Gaben. Aber was konnte erreicht werden, da die türkische Regierung ein generelles Verbot erließ, mit den Verschickten in Beziehungen zu treten! Lepsius spricht sehr zutreffend von einer „amtlichen Sabotage der Barmherzigkeit”!!

Und jetzt! Die jungtürkischen Führer Enver Pascha und Talaat Bey haben sich während ihrer Herrschaft schamlos die Taschen gefüllt und bei Zeit ihr Heil in der Flucht gesucht. Die jungtürkische Herrschaft hat überhaupt ausgespielt und die, welche die einstigen Freimaurerhäuptlinge von Saloniki in der westeuropäischen Presse verherrlichten als die berufenen Schöpfer einer neuen Türkei, unsterblich blamiert. Die deutsche Presse, die während des Krieges in Unkenntnis der Dinge zu ihnen gehalten hat, wird gut tun, nunmehr auf Grund des vorliegenden Aktenmaterials ihre Stimme zugunsten der mißhandelten Armenier zu erheben und der Welt zu zeigen, daß sie mit der Welt eins ist in der nachdrücklichsten Verurteilung des Verbrechens am armenischen Volke.



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