beehre ich mich hier einen von Herrn E. Neuner abgefaßten und von mir überprüften Bericht über die Reise in die Türkei zu persönlicher Einsicht vorzulegen.
Sehr ergeben
Bericht über eine Reise in die Türkei.
Man schätzt im allgemeinen die Zahl der Armenier, die bei den Evakuierungen durch die Türkei umgekommen sind, auf 2 Millionen, doch erscheint diese Zahl ziemlich niedrig gegriffen. In Wirklichkeit wird wohl bis zum Ende des Krieges kaum mehr was von diesem armen Volk übrig sein. Ein in Deutschland erzogener, höherer türkischer Beamter, den ich einmal fragte, ob der Türkei bei Kriegsschluss die Aufrollung der Armenierfrage durch die Ententemächte nicht sehr unangenehm werden könnte, gab mir zur Antwort, dass es eine Armenierfrage bis dahin sicher nicht mehr gäbe, da keine Armenier mehr vorhanden wären. Diese Ansicht kann man überall erfragen und sie ist bezeichnend für das System der türkischen Regierung überhaupt. Da aber leider ziemlich das gesamte Material, das über die Verfolgungen existiert, durch die Vermittlung der Jesuiten sich bereits in den Händen Frankreichs, sowie des Hl. Stuhl befindet, dürfte die Aufrollung der Frage nach dem Kriege bedenkliche
Schwierigkeiten hervorrufen. Das Schlimme ist, dass die Türken im allgemeinen glauben, dass diese Armeniermassakres in voller Uebereinstimmung mit der deutschen Regierung veranstaltet wurden. Es wäre höchst notwendig, dass deutscherseits irgendeine Erklärung käme, in der man ausdrücklich betont, auf die innere Politik der Türkei niemals den geringsten Einfluss ausgeübt zu haben oder wenn, dann einen solchen zur Verhinderung dieser Schandtaten. In Kleinasien sind die Strassen, speziell gegen den Kaukasus und im Taurus, mit den Skeletten von verhungerten und an Erschöpfung auf der Strasse verstorbenen Armeniern geradezu übersät. Das Schlimmste ist, dass die türkischen Polizisten, die diese Armenierzüge zu Pferd von Stadt zu Stadt begleiten mussten, die jungen Armeniermädchen und -Knaben überall an die öffentlichen Häuser zu 4–6 Mark verkauften. In Mossul, dessen Wali durch seine Grausamkeit zu einer grossen Berühmtheit gelangte, wollte man 300 armenische Frauen an die Harems der Türkei verteilen und als sich diese absolut weigerten warf man sie allesamt in einen grossen Brunnen und liess sie dort umkommen.
In den grossen Städten, die ich besuchte, waren überall die bestgebauten Häuser früher Eigentum der Armenier; heute sind in diesen Häusern alle möglichen anderen Menschen. Man hat bei der Evakuation am Anfang z.B. so verfahren, dass man den Betreffenden mitteilte, es sei das Haus nötig für militärische Zwecke und er müsse es räumen. Er bekam dafür keinen Pfennig Entschädigung, musste aber die in der Türkei ziemlich hohen Grund- und Haussteuern weiterbezahlen. Falls er diese Steuern, die ihm solange er die Einnahmen aus seinem Hause hatte, leicht fielen, nicht bezahlen konnte, so wurde das Haus sofort versteigert und zwar zu einem lächerlichen Preis an irgendeinen türkischen Interessenten. Auf diese Weise kamen alle Häuser in türkischen Besitz und die Armenier gingen leer aus. Meistens aber, zumal in späterer Zeit, verfuhr man viel einfacher, indem man die Armenier einfach solange zu Fuss durch Kleinasien wandern liess, bis sie verhungerten und starben, und so der Staat die Erbschaft viel leichter antreten konnte.
Ein bezeichnender Fall ist noch der folgende: Der Direktor der Ottomanischen Bank in Eskischerhir, ein Mann armenischer Herkunft, aber österreichischer Protégé, hatte in einer Kassette das Vermögen eines verwandten Armeniers zur Aufbewahrung erhalten, als dieser von der türkischen Regierung gezwungen wurde, die Stadt zu verlassen. In der Kassette befanden sich Wertpapiere sowie Schmuckgegenstände. Von der türkischen Behörde kam damals ein Erlass, der jedem verbot, irgendwelche Wertgegenstände von Armeniern in Verwahrung zu nehmen. Dieser Bankdirektor wollte Unannehmlichkeiten vermeiden und beschloss, die Kassette der türkischen Behörde zu übergeben. Er bat vorher einige deutsche Freunde mit ihm den Inhalt der Kassette genau aufzunehmen und stellte ein Verzeichnis des Inhalts her, das er von allen unterschreiben liess und jedem zur Aufbewahrung übergab. Daraufhin brachte er die Kassette samt einem Inhaltsverzeichnis dem Mutessariff, ungefähr dem deutschen Regierungspräsidenten entsprechend. Nach zwei Tagen erhielt er den Befehl, sich dorthin zu begeben, wo ihm der Mutessariff die heftigsten Vorwürfe machte, wie er es wagen könne, die türkische Behörde derartig für Narren zu halten. Er habe die Kassette aufgemacht und darin nur alten Plunder und zwei zerbrochene Revolver vorgefunden. Die zwei Revolver hatte man offensichtlich deshalb hineingetan, um dem Mann auf Grund des Verbotes des Waffentragens Schwierigkeiten zu machen. Als der Bankdirektor daraufhin erwiderte, das könne nicht möglich sein, die Kassette müsse ausgeplündert und mit diesem Zeug gefüllt worden sein, da er, vor er sie ablieferte, vor Zeugen ein genaues Inhaltsverzeichnis angefertigt habe, schrie ihn der Mutessariff an, wie er sich unterstehen könne, eine türkische Behörde Lügen zu zeihen und warf ihn hinaus. Nach einigen Tagen wurde er verhaftet, musste dann zu Fuss die 420 km lange Strecke nach Haidar-Pascha zurücklegen und nachdem er dort einige Monate zubringen musste, wurde er vor Gericht gestellt; dort verurteilte man ihn zu 6 Monaten Gefängnis und zwar deshalb, weil er die Kassette nicht dem Komitee zur Verwaltung des Vermögens der Armenier, sondern dem Mutessariff übergeben habe. Trotzdem er österreichischer Protégé war und trotzdem die ganze Sache doch mehr als lächerlich war, musste er diese 6 Monate absitzen und verlor natürlich auch seine Stellung bei der Bank. Man könnte noch viele Beispiele dieser Art erzählen, aber wie die Dinge da unten vor sich gehen, davon kann man sich eigentlich keinen rechten Begriff machen. Es ist fürchterlich.
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Da sich die Anschauungen des Abgeordneten Pfeiffer auf seine Parteigenossen übertragen könnte und da eine so ungünstige Beurteilung der verbündeten Türkei in den Kreisen des Reichstags uns bei der weiteren Verfolgung unserer türkischen Politik Unbequemlichkeiten bereiten könnte, wäre es mir erwünscht, von Euer pp. eine Äußerung zu dem Bericht zu erhalten, die ich dem Abgeordneten Pfeiffer selbst oder dem Abgeordneten Erzberger vertraulich mitteilen könnte.
[Bernstorff an Reichskanzler Hertling (Nr. 102) 6.6.18]
[In seiner ausführlichen Antwort kritisiert Bernstorff die Ausführungen Neuners, der kein objektives Bild von der Türkei und ihren Verhältnissen gegeben habe. Die Armenier betreffend schreibt er:]
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Über die „Armeniergreuel“ ist so viel geredet und geschrieben worden, dass es müssig erscheint, im Rahmen eines so allgemein gehaltenen Berichts sich über diese Frage zu äussern. Es erübrigt sich daher, auf die Ausführungen des Berichtes einzugehen. Es ist nicht zu leugnen, dass die Art und Weise, wie die Türken die Armenierfrage behandelt und zu liquidieren versucht haben, keineswegs einwandfrei war und den Feinden der Türkei ein ungemein ausgibiges Agitationsmaterial in die Hand gegeben hat. Es sind allerdings bei den Deportationen der Armenier Dinge vorgekommen, die unentschuldbar waren und bei böswilliger und einseitiger Betrachtung Zweifel an die Kulturfähigkeit der Türken aufkommen lassen können. Es darf aber nicht übersehen werden, dass solche Bewegungen nicht grundlos entstehen, und man würde den Türken Unrecht tun, wollte man die Armenier als die unschuldigen Opfer eines sinnlosen, religiösen und durch nichts begründeten Hasses darstellen. Der Schreiber des Berichts macht richtige Angaben über die Entstehung der sogenannten Armenierfrage: wie eine solche Frage früher nicht existiert habe, wie türkenfeindliche Mächte wie England und Russland sie durch Entfaltung einer intensiven Propaganda unter den Armeniern erst schufen. Es gelang diesen Mächten allmählich, im Kaukasus einen Beunruhigungsherd zu schaffen. Zu Beginn der türkischen Operationen gegen Russland kam der lang geschürte Hass der Armenier zum offenen Ausbruch, teils in offener Auflehnung, teils in Spionage zu Gunsten Russlands, teils in Behinderung und Beunruhigung der türkischen Etappen. Greueltaten gegen die mohammedanische Bevölkerung kamen hinzu. Dass die türkische Regierung gegen dieses Unwesen mit aller Schärfe vorging, ist erklärlich. Sie musste in den Armeniern ein Volk sehen, dessen Existenz den Bestand des Osmanischen Reiches zu gefährden geeignet war. Dass sich das Vorgehen nicht nur auf die im Kaukasus wohnhaften Armenier beschränkte, erklärt sich daraus, dass die wirtschaftliche Potenz der Armenier, der bisherigen Hauptträger des türkischen Wirtschaftlebens, schwer auf der türkischen Bevölkerung lastete und die Türken endlich die Zeit gekommen sahen, sich von dem nach ihrer Ansicht unerträglichen wirtschaftlichen Druck zu befreien.
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