Anlage 1
Wie ich erfuhr, bezieht der Katholikos von der russischen Regierung keinerlei Gehalt, dagegen stehen ihm aus den Mitteln der Gemeinde jährlich 12000 Rubel zur persönlichen Verwendung zur Verfügung.
Der Katholikos Kevork V, dessen Bild ich gehorsamst beifüge, ist eine ehrwürdige, sympathische Erscheinung mit lebhaftem, klugen Gesichtsausdruck. Er empfing mich in seinem Thronsaal, auf der Kapuze über der Stirn geschmückt mit dem Kreuz aus Brillanten, einem Geschenk des Zaren. Es interessierte ihn ungemein, daß die Kaiserliche Regierung in Erserum eine konsularische Vertretung eingerichtet hat. Er verspricht sich von dieser Maßnahme großen Vorteil für seine wie er sich ausdrückte "armen unterdrückten Glaubensgenossen unter türkischem Joch". Seine Heiligkeit bat mich, soweit meine Amtsbefugnisse dies erlaubten, mich der Armenier im Vilajet Erserum anzunehmen und übergab mir ein Handschreiben an den armenischen Bischof Sinbad in Erserum.
Betreffs der Reformen äußerte sich der Patriarch dahin, daß bei der Beratung des Programms durch die Großmächte leider noch keine Einigung erzielt sei, da jede Macht neben der humanitären Seite der Vorschläge auch noch ihre eigenen wirtschaftlichen oder politischen Ziele mit dem Programm in Einklang bringen wolle. Er erkenne dankbar an, daß die Kaiserliche Regierung in Berlin den führenden Mann der Bewegung Boghos Nubar Pascha empfangen und ihre Sympathien für die Sache der Armenier zum Ausdruck gebracht habe. Leider würde von den Mächten, mit Ausnahme Rußlands, zu viel Rücksicht auf die türkische Regierung genommen, welche sich doch seit Jahrhunderten als unfähig zu jeglichem Reformwerk erwiesen habe. Der Patriarch hob sodann hervor, daß die Entsendung deutscher Kriegsschiffe nach Mersina im Frühjahr d.J. wesentlich zur Sicherung der Armenier in Cilicien beigetragen habe und daß er einen Bericht über den Besuch des Katholikos von Sis an Bord S. M. S. Goeben am 5. Mai d.J. gelesen habe. Er hoffe, die Kaiserliche Regierung werde auch weiter, speziell im Gebiete der Bagdadbahn, ihren Schutz den Armeniern angedeihen lassen und er erhoffe von dem Ausbau der Bahn große zivilisatorische und kulturelle Vorteile für die dort ansässigen Armenier.
Der Patriarch wünschte mir sodann gute Reise und vollen Erfolg für meine Mission nach Erserum und gab Befehl, daß mir der Klosterschatz, u.a. Überreste der Arche Noah, welche dem heiligen Gregor von einem Erzengel übergeben worden sind, gezeigt werde.
Anlage 2
Als die Russen im Jahre 1828 während der Patriarchenzeit des Katholikos Ephrem Armenien eroberten, wobei ihnen der damalige Erzbischof von Tiflis, spätere Katholikos Nersis V mit einer armenischen Miliz gute Dienste leistete, versprachen sie den Armeniern Erhaltung ihrer Nationalität und besondere Privilegien. Trotzdem ging der erste Statthalter Paskewitsch-Eriwanski sehr schroff vor. Eine im Jahre 1836 eingeführte Gerichtsordnung (Polojenie) für den Kaukasus, in welcher die Rechte des Patriarchen durch Einführung einer Synode verkürzt wurden, beschränkte auch die armenischen Sonderrechte erheblich. Zwar wurden bis zum Jahre 1908 alle Patriarchen in Etschmiadsin vom Zaren als "Oberster Katholikos aller Armenier" feierlich bestätigt, trotzdem versuchte die Regierung dauernd, die Armenier zu russifizieren. Als sogar im Jahre 1903 die Einziehung aller armenischen Kirchengüter verfügt wurde, setzte sich der Katholikos "im Namen aller Armenier", da die Güter ja auch den außerhalb Rußlands wohnenden Armeniern gehörten, in offenen Widerspruch zur Regierung. Obwohl zwar bereits nach Jahresfrist, hauptsächlich auf Anraten des jetzigen Statthalters Fürsten Woronzoff-Daschkoff die konfiszierten Güter zurückgegeben wurden, hat die russische Regierung es für gut befunden, um dem Katholikos jeden Rechtstitel zur Einmischung in Angelegenheiten der nichtrussischen Armenier zu entziehen, bei der Bestätigung des im April 1909 gewählten Katholikos Mattheos II Ismirlian zum ersten Male den Titel: "Oberster Katholikos aller Armenier" fortzulassen. Auch ist das kaiserliche Reskript, in welches mir der führende Bischof Karabed Einsicht gewährte, in einem von den früheren Urkunden erheblich abweichenden Tone gehalten. Der Zar spricht die Erwartung aus, daß der Patriarch in seiner Gemeinde auf strenge Befolgung der Regierungsgesetze achte. Um seiner Mißbilligung der armenischen Sonderbestrebungen sichtbaren Ausdruck zu geben, hat der Zar dem Katholikos Matteos II zum ersten Male nicht, wie sonst üblich, den Alexander Newski Orden verliehen. Auch der jetzt regierende Patriarch erhielt diesen Orden bei seiner Bestätigung im März 1912 nicht. Erst als infolge der Gestaltung der politischen Lage in der asiatischen Türkei es der russischen Regierung bei ihren Aspirationen auf Türkisch-Armenien angezeigt erschien, sich mit den russischen Armeniern auf guten Fuß zu stellen, wurde der Alexander Newski Orden im Frühjahr d.J. dem Katholikos verliehen.
Ich gewann den Eindruck, als ob es den russischen Armeniern im Interesse der Erhaltung ihrer nationalen Eigenart keineswegs lieb sein würde, wenn Türkisch-Armenien unter russische Herrschaft käme. Die russischen Armenier vergäßen vielfach ihre nationale Abstammung. Überall, wo armenische Schulen gegründet werden, entstehen sofort russische Regierungsschulen. Am liebsten schien es den Armeniern zu sein, wenn Türkisch-Armenien nach dem Muster des Libanon eine autonome Verfassung unter türkischer Oberhoheit erhielte. Da dies Ziel ihnen jedoch zunächst noch unerreichbar scheint, würden sie sich auch mit der Ernennung von christlichen Valis zufrieden geben, jedoch wünschen sie dringend europäische Kontrolle. Jedenfalls verlangen sie als Minimum, daß künftig die persönliche Sicherheit, das Eigentum und die Ehre jedes Armeniers gewährleistet werde.