1909-05-05-DE-005
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Quelle: DE/PA-AA/R 13185
Zentraljournal: 1909-A-08103
Erste Internetveröffentlichung: 2009 April
Edition: Adana 1909
Praesentatsdatum: 05/08/1909 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 108
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Botschafter in Konstantinopel (Marschall von Bieberstein) an den Reichskanzler (Bülow)

Bericht



Nr. 108
Die Herrschaft des Sultans Abdul Hamid hat ein unrühmliches Ende gefunden. Sie war bereits durch die vorigjährige Revolution in ihrem Kerne getroffen. Nun ist sie für immer verschwunden. Selbst in dem Teil der hiesigen Presse, die noch vor kurzem dem hohen Herrn geschmeichelt hatte, wird Er heute als Nero und Caligula bezeichnet. Das sind die widerwärtigsten Begleiterscheinungen derartiger geschichtlicher Ereignisse. Abdul Hamid hat dasselbe Schicksal ereilt, dem sein Oheim Abdul Aziz unterlegen ist. Auch Er ist durch ein „Fetwa“ des Scheich-ul-Islam des Thrones und des Khalifats für verlustig erklärt worden. Dies Moment erhöht die Tragik der Katastrophe. Denn der Eindruck jener Nacht vor 33 Jahren, als die Verschwörer unter dem Schutze der damals mächtigen Panzerflotte, die vor Dalmabagdsche lag, und der Truppen, die den Palast zernierten, anstelle Abdul Aziz’ den wahnsinnigen Murad auf den Thron setzten, dieser Eindruck hat Abdul Hamid niemals verlassen. Das Streben, ein gleiches Los zu vermeiden, hat Ihn auf Abwege geführt. Darin wurzelte jenes tiefe Misstrauen, welches die Signatur seiner Regierung bildet, die Abneigung gegen charakterfeste ehrenwerte Persönlichkeiten, die Tendenz, sich mit Männern zu umgeben, deren Treue dadurch verbürgt schien, dass alle Welt sie verachtete, die Furcht vor den Machtfaktoren im Staate, in erster Linie vor der Armee und der Marine. Dieser Gemüthsverfassung ist jenes unselige Spionagesystem entsprungen, dem Tausende von Unschuldigen zum Opfer fielen. Und am Ende ist das Schiff seiner Herrschaft gerade an der Klippe zerschellt, die zu meiden Sein ganzes Regierungssystem bestimmt war. Nur einen sehr schwachen Lichtblick gewährt die Tatsache, dass Abdul Hamid die Deputation der Nationalversammlung, die Ihm Seine Absetzung mitteilte, mit einer gewissen Würde empfangen und sich darauf beschränkt hat, einige persönliche Wünsche vorzutragen. Seither ist Er Gefangener in Salonik. Auch als abgesetzter Sultan schien er den neuen Machthabern zu gefährlich, um Ihn, Seinem Wunsche entsprechend, in der Hauptstadt zu belassen. Man wird nicht ohne menschliches Bedauern einen Mann auf diese Weise von der Weltbühne scheiden sehen, der eine Herrschernatur war und die Geistesgaben besaß, die Ihn befähigt hätten, in der Türkei das Regierungssystem durchzuführen, das ich für diese Land als das beste erachte, nämlich den aufgeklärten Despotismus. [Anmerkung Wilhelm II.: „für die meisten ist es das beste“]

Nachdem im vorigen Jahre dem Sultan durch die bekannten Ereignisse die Wiederherstellung der Verfassung abgerungen worden war, schien der hohe Herr sich in die Rolle, die ihm zugedacht war, gefunden zu haben. Mehl als das konstitutionelle System es erheischte, war Seine Machtsphäre beschränkt worden. Er hatte materiell nichts mehr in seinem Reiche zu sagen. Die Haltung des Sultans war trotzdem untadelhaft. Die Intransigenten, welche gleich „ganze Arbeit“ machen wollten, schienen Unrecht zu behalten. Abdul Hamid hatte Achmed Riza, der während 20 Jahren Ihn aufs Schärfste bekämpft, auf die Stirn geküsst und hatte den Sohn seine Todfeindes Midhat Pascha gnädig empfangen und ihm die Hoffnung ausgesprochen, dass er ein ebenso grosser Staatsmann werden möge, wie sein Vater. Er war selbst zur Parlamentseröffnung gefahren, um dort in einer Ansprache sein treues Festhalten an der Verfassung zu bekunden. Er hatte die Abgeordneten zu einer Festtafel in Yildiz vereinigt und ihnen dieselbe Erklärung wiederholt. In den Unterredungen mit den Botschaftern, die früher fast ausschliesslich der hohen Politik galten, hatte er sich jeder politischen Anspielung enthalten. Auch den anfängliche Widerstand gegen die Entfernung der zweiten Gardedivision (Yildizdivision) war aufgegeben. Die Syrier und Albanesen wurden entfernt. Anstelle des alten Troupiers, der das Vertrauen des Sultans besass, war ein gebildeter Offizier zum Kommandanten ernannt worden. Je grösser in Parlament und Presse und unter den Parteien die Verwirrung war, umsomehr stach die ruhige Haltung des Sultans dagegen ab. „Il n’y a qu’un seul personnage ici qui se comporte correctement, c’est le Sultan“, sagte mir vor kaum vier Wochen einer meiner Kollegen, und ich musste ihm recht geben.

Am Abend des 12. April hatte mir ein Minister versichert, die innere Lage sei durchaus beruhigend und gäbe keinen Anlass zu Besorgnis. Am folgenden Morgen vor Tagesanbruch marschierten meuternde Soldaten vor das Parlament und weckten dort die Bevölkerung durch Gewehrschüsse aus dem Schlafe. Dabei zeigte sich die Türkei wiederum als das Land der Paradoxen. Im Herbst vorigen Jahres waren auf Wunsch des Komitees die Jägerbataillone aus Salonik hierher beordert worden. Sie galten als Leibgarde der Verfassung. Wenige Tage nach ihrer Ankunft haben sie blutig eine Meuterei erstickt, die in der Taschkyschla unter der Yildizdivision entstanden war. Und nun standen an jenem denkwürdigen 13. April diese drei Bataillone meuternd vor dem Parlament, die Köpfe des Kammerpräsidenten Achmed Riza, des Grossveziers Hilmi und hervorragende Abgeordnete des Komitees, die Anwendung des Scheriatsrechts, Kiamil Pascha als Grossvezier und den Führer der Liberalen Ismael Kemal als Kammerpräsidenten begehrend. Ein Minister, ein Abgeordneter und zahlreiche schugebildete Offiziere wurden ermordet. Bis sechs Uhr Abends hielt sich der Kommandierende des Gardekorps Mahmud Muktar mit Infanterie, Artillerie, Kavallerie und Maschinengewehren vor dem Seraskierate. Alle seine Bitten, ihm den Angriff auf die Meuterer und die mit ihnen vereinigte Volksmenge, die zum grossen Teil aus Hodschas bestand, zu gestatten, waren erfolglos. Das Ministerium hatte den Kopf verloren. Es demissionierte schon in den Vormittagsstunden. Da erschien Abends ein kaiserliches Irade mit der völligen Amnestie für die Meuterer. Damit waren die letzten Bande der Disziplin und der Ordnung gelöst. Während eines grossen Teiles der Nacht ertönte aus Stambul eine wilde Schiesserei. Es waren Freudenschüsse der Soldaten. Aber es gab Tote und Verwundete. Bis zum folgenden Nachmittag blieben die Meuterer auf dem Parlamentsplatze und vor dem Seraskierate. Dann kehrten sie in ihre Kasernen zurück, auf dem Marsch fortwährend ihre Mausergewehre abschiessend. Auch da gab es Tote und Verwundete. Panik hatte die Stadt ergriffen. Die Reaktion war eingetreten. Die berüchtigten „Hafiés“ - Spione - die sich nach Einführung der Verfassung versteckt hatten, kamen wieder zum Vorschein. Der Sultan hatte alsbald den Ihm ergebenen Tewfik Pascha zum Grossvezier ernannt und als Kriegsminister Tewfik Pascha, der seit seinen thessalischen Siegen kaum mehr als eine Palastkreatur gewesen war. Der von dem neuen Regime eingesetzte Kommandeur der Yildizdivision wurde abgesetzt und im Palais interniert. An seine Stelle trat wieder ein Troupier ohne andere Verdienste als seine bedingungslose Ergebenheit für seinen kaiserlichen Herrn. Einem an der Meuterei beteiligten Unteroffizier wurde ein hoher Offiziersrang bewilligt. Ein Versuch des Parlaments zu tagen, scheiterte an der mangelnden Beschlussfähigkeit. Die meisten Abgeordneten, die dem Komitee angehörten, hatten sich geflüchtet. Viele „mekteblis“, d.h. Offiziere, die aus der Militärschule hervorgegangen waren, wurden schon in den ersten Tagen ermordet. Die Garde wollte nur noch den „alailis“, den troupiers, gehorchen. Den Kommandanten des Gardekorps, Mahmud Muktar, wollten die Meurerer lebendig in ihre Hände bekommen. Sie umzingelten sein auf dem asiatischen Ufer gelegenes Haus und schossen nach demselben. Da trat seine Frau, eine egyptische Prinzessin, heldenmütig vor das Tor und schwor vor den ihr entgegengehaltenen Bajonetten, dass ihr Mann nicht mehr im Hause sei. Sie sprach die Wahrheit. Mahmud Muktar hatte sich in ein Nebenhaus, das einem Engländer gehört, geflüchtet. Als ich von diesen Vorgängen hörte, verlangte ich vom Grossvezier Massregeln zur Rettung Muktars. In der Nacht erschien das Irade, welches den Truppen befahl, sich zurückzuziehen. Das geschah, aber die Soldaten blieben in der Nähe, nach ihrem Opfer spähend. Wie ich am folgenden Tage den wackeren Offizier durch die Botschaftsmouche abholen und nach der „Bayern“ bringen liess, ist bereits gemeldet. Der folgende Tag war ein Freitag. Wie üblich, fand der Selamlik statt. Aber die „mekteblis“, die sonst kommandierten und die Suite bildeten, fehlten zum grössten Teile. Nach der Feier hielt ein Imam eine Rede über das Scheriat. Truppen und Volksmenge riefen „Amin“. An diesem Tage schien die Herrschaft des Sultans wieder hergestellt. Es war ein letztes Aufflackern. Schon an demselben Abende zeigten sich im fernen Westen Wolken. Sie kündeten das Gewitter an, das acht Tage später sich über der Hauptstadt entladen und den Thron Abdul Hamids zertrümmern sollte. Die ersten Telegramme waren eingegangen, welche meldeten, dass von Salonik ein Bataillon zum Schutze der Verfassung nach der Hauptstadt abgegangen sei. Freilich ahnte damals niemand, dass es den Türken gelingen könne, in dem kurzen Zeitraum einer Woche ein wohlausgerüstetes Heer vor die Tore der Hauptstadt zu werfen.

Wer hatte die ungeheuerlichen Vorgänge des 13. und 14. April in Szene gesetzt? Man stand zunächst vor einem Rätsel. Welche geheime Macht hatte die Truppe vor das Parlamentsgebäude geführt? Welches Bindeglied bestand zwischen dem Verlangen der Meuterer, dass die „Scheriat“ wiederhergestellt werden solle, und den Rufen nach Kiamil Pascha, nach Ismael Kemal, den Häuptern der „Union libérale“, die, mit den christlichen Griechen und Armeniern verbündet, alles andere waren als Verfechter der heiligen Bücher des Islam? Wer hatte über Nacht die Schutz- und Kerntruppe des Komitees, die Saloniker Jäger, in eine blutdürstige Meute verwandelt, welche die Köpfe Achmed Rizas und anderer Komiteeführer verlangten und den unglücklichen Abgeordneten Arslan auf dem Parlamentsplatz ermordeten, weil sie ihn für den Redakteur des Komiteeblattes „Tanin“ hielten? Ein Versuch, diese Fragen zu beantworten, ist nur möglich, wenn man die Entwickelung der Dinge seit Einführung der Verfassung ins Auge fasst.

Die stürmische Begeisterung, die ich im vorigen Sommer bei Rückkehr aus Urlaub hier vorfand, war bald verraucht. Unter der Fahne „Union et Progrès“ hatte das Komitee die Revolution gemacht. Aber der Zwist unter den Nationalitäten, den das alte System je nach Bedarf angefacht oder mit Gewalt unterdrückt hatte, wachte unter dem System der „Freiheit“ erst recht auf. Von Fortschritt, von Reformen, von ernster nützlicher Staatsarbeit nirgends eine Spur. Unfähig wie der Präsident Achmed Riza, war die Kammer, die er leitete. Man wirft bei uns meist den Parlamenten vor, dass dort zu lange Reden gehalten werden. Im türkischen Parlamente gibt es kaum zwei oder drei Abgeordnete, die überhaupt eine geordnete Rede zu halten vermögen. Die Diskussionen bestanden meist aus einzelnen Sätzen und Gemeinplätzen, welche die Abgeordneten, wenn es gut ging gesondert, bei lebhafter Debatte aber zu gleicher Zeit von sich gaben. Wochen und Monate wurden mit Interpellationen verbracht, die sich meist auf ganz nichtige Dinge bezogen. Die Regierung hatte nichts vorgesehen und nichts vorbereitet. Drei Monate war die Kammer versammelt, bis überhaupt das Budget ihr zukam. Gegenüber dem Komitee tat sich eine neue Partei auf, die „Union libérale“. Ihr Sammelwort war „Dezentralisation“. Dies Programm, das alles mögliche bedeuten konnte, übte eine starke Anziehungskraft auf die zentrifugalen Elemente des Reiches aus, auf die Albanesen, die Armenier, die Griechen und einen Teil der Araber. Aber um Prinzipien wurde nicht gestritten. Der Kampf galt der Herrschaft des Komitees, das gestützt auf seine parlamentarische Macht sich zu einer Nebenregierung entwickelt hatte, die direkt in die Exekutive eingriff. Der autoritäre Kiamil, der in der liberalen Union eine Waffe gegen die ihm lästigen Uebergriffe des Komitees fand, stellte sich auf dessen Seite. Er nahm demonstrativ an einem von den Liberalen veranstalteten Bankette teil. Darob grosse Entrüstung bei dem Komitee. Achmed Riza, der Kammerpräsident, dessen einzige hervorragende Eigenschaft darin besteht, dass er auch die unmöglichsten Gelegenheiten ergreift, um eine Dummheit zu sagen, hielt dann bei einem Komiteebankett eine Rede, in der er die Gegner des Komitees kurzweg als „Verräter und Elende“ bezeichnete. Schäumende Wut bei den Liberalen. Es folgte der kleine Staatsstreich Kiamils, der durch Beseitigung zweier Minister und Entfernung der Saloniker Jäger aus der Hauptstadt die Macht des Komitees zu brechen suchte. Er hat diesen Versuch mit seinem Sturze bezahlt. Die Vorgänge sind bekannt. An seine Stelle trat Hilmi Pascha, der einstige Generalinspekteur von Mazedonien, eintrefflicher fleissiger Mann, aber ein Bureaukrat ohne grosse Gesichtspunkte, ohne jede Energie und dabei weiches Wachs in den Händen des Komitees. Neu gekräftigt schien dieses fester als je die Macht in Händen zu haben. Umso erbitterter wurde der Kampf. Ganz unheilvoll wirkte die Presse. Bis zur Wiederherstellung der Verfassung hatte das türkische Volk eine Publizistik, welche den Namen „Presse“ verdiente, überhaupt nicht besessen. Mit einem Schlage fiel ihm eine „Pressefreiheit“ zu, wie sie selbst in den fortschrittlichsten Staaten nicht besteht. Denn nicht nur jede Prevention war gefallen, sondern auch die Repression bei Uebertretung des Gesetzes. Die türkische Presse stand ausser und über dem Gesetze. Einen solchen Zustand könnte die höchstzivilisierteste Nation nicht ertragen. Am wenigsten das türkische Volk. Denn der Durchschnittstürke steht in einer Beziehung auf einer sehr tiefen Stufe. Er nimmt ernst, was gedruckt ist. Dabei besteht hier die Besonderheit, dass die Verbreitung der Zeitung meist durch Verkauf auf der Strasse geschieht. Es gibt Organe hier, die 4 - 500 Abonnenten und dabei einen Strassenabsatz von 15 - 20000 Exemplaren haben. Die guten Türken, die in ihrer Wissbegierde heute das eine, morgen das andere Parteiorgan aufkauften und das krause, sich widersprechende Zeug lasen, gerieten natürlich in einen Zustand vollkommender Geistesverwirrung. Dass die griechische und armenische Presse nach Leibeskräften hetzten, verstand sich von selbst. Vergeblich suchte die Regierung diesem Unheil zu steuern. Sie legte der Kammer ein sehr schüchternes Pressegesetz vor. Aber die Kammer wagte nicht einmal, dasselbe zu beraten. Denn einstimmig hatte die Presse Stellung gegen diesen Eingriff in die Pressefreiheit genommen. Wieder bewahrheitete sich die alte Erfahrung, dass das Wort „Freiheit“ nach dem Sinne derjenigen, die sie begehren, meist ein Euphemismus ist für „Herrschaft“. Aus der Pressfreiheit war eine Pressherrschaft geworden, die gefährlichste aller Tyranneien. Da trat der alte gewissenlose und selbstsüchtige Kiamil wieder in die Öffentlichkeit. Er publizierte in Verletzung jener Schweigepflicht, die einem gestürzten Minister obliegt, eine Erklärung, welche die Geschichte seines jüngsten Sturzes erzählte und dabei scharfe Anklage gegen das Komitee erhob. Das hiess Oel ins Feuer giessen. Endlich erfolgte in dunkler Nacht auf der Brücke nach Stambul die Ermordung des Redakteurs des liberalen „Serbesti“. Die Liberalen bezichtigten das Komitee der Urheberschaft des Mordes. Oeffentliche Versammlungen wurden abgehalten, um die Bestrafung des Mörders zu verlangen. Aber auch die Türken hängen keinen, den sie nicht haben. Bis heute ist noch keine Spur von dem Täter ermittelt worden.

Lange hatte die muselmanische Geistlichkeit - die Ulemas, Hodschas, Mollahs, Softas und wie sie alle heissen - sich von einer öffentlichen Teilnahme an dem politischen Leben zurückgehalten. Ihr Einfuss in der Kammer, in der sie zahlreiche Sitze einnahmen, war zum erstenmale ersichtlich bei Gelegenheit der bosnischen Frage. Die Furcht, dass die Hodschas bei dieser Gelegenheit den Verzicht auf die beiden Provinzen auf Grund des Scheriats bekämpfen und damit die öffentliche Meinung erregen könnten, bildete den Grund für die geheime Beratung des österreichisch-türkischen Protokolls. Eine prinzipielle Feindschaft der Geistlichkeit gegen die neuer Aera schien nicht zu bestehen. Der Scheich-ül-Islam hatte die Verfassung als wohl verträglich mit den heiligen Büchern des Islam erklärt. Der Kalif selbst hatte sich in die neue Lage gefunden. Freilich ging manches vor, was dem strenggläubigen Muselman missfallen musste. Das ganze Milieu der neuen Männer war ihm unsympathisch. Viele Jungtürken hatten jahrelang im Auslande gelebt und in Frankreich die Lehren der Encyclopädisten eingesogen, viele gehörten dem Freimaurerorden an. Manche Redakteure und Wortführer des Komitees waren zum Islam übergetretene Juden. Der Lebenswandel dieser Leute erregte vielfachen Anstoss. Schon im vorigen Jahr hatte der sogenannte „Prinz“ Sabbaheddin, den ich als den Clown der Verfassungsära bezeichnen möchte, eine öffentliche Versammlung vor türkischen Frauen gehalten und ihnen Emanzipation versprochen. Das Komitee hatte törichterweise diesen Faden aufgegriffen und ein „Comité d’Union et Progrès pour les femmes turques“ gegründet. Die „mekteblis“ hatten sich Kasinos geschaffen nach Art derjenigen, die für unsere Offiziere bestehen. Dass in diesen Lokalen namentlich bei den Offizieren, die in Deutschland gedient hatten, die Abstinenz von geistigen Getränken zur strikten Durchführung gelangte, war nicht vorauszusetzen. Auch scheint der Kommandierende des Gardekorps Mahmud Muktar Pascha Unvorsichtigkeiten begangen zu haben. Er hat die Zahl der Gebete im Interesse des Dienstes von 5 auf 3 beschränkt, während der Koran dies nur in aussergewöhnlichen Fällen gestattet. Auch wurde erzählt, dass er das Fez als eine für Soldaten ungeeignete Kopfbedeckung bezeichnet habe. Auch der strenge Dienst in dem unter dem alten System gänzlich verlotterten Gardekorps mag Unzufriedenheit geschaffen haben.

Zum ersten Male trat eine geistliche Agitation zu Tage durch Gründung der Gesellschaft „Ittihad-i-Muhamedtjé“ (Islamitische Vereinigung). Da diese Gesellschaft kein Pressorgan besass, war ihre Tätigkeit nicht zu kontrollieren. Um so intensiver vertrat das von einem arabischen Scheich gegründete Blatt „Wolkan“ und der von einem gewissen Murad redigierte „Misan“ den reaktionären Standpunkt. Die Quintessenz der von ihnen veröffentlichten Hetzartikel war, dass die Verfassung und alles, was damit zusammenhänge, gottloser Schwindel sei und das türkische Volk zu Grunde gehe, wenn es sich davon nicht lossage. Hand in Hand damit ging die Kleinarbeit der Hodschas in den Kasernen, in denen sie freien Zutritt haben.

Nach der geschilderten Sachlage würde der europäische Verstand geneigt sein, die jüngste Meuterei für ein natürliches Produkt einer geschickt mit Wort und Schrift geführten Agitation zu halten. Das wäre ein Irrtum. Der Orientale, namentlich der Türke, ist phlegmatisch, sein Temperament widerstandsfähiger gegen agitatorische Einflüsse als das unsrige. Dabei versagt bei ihm der Alkohol, der in Europa unentbehrlich ist, um die Massen zu extremen Beschlüssen zu begeistern. Darum ist hier der Weg aus dem Beharrungszustand, den der Türke über alles schätzt, bis zur Aktion auf der Strasse weiter als in der übrigen Welt. Ganz besonders beim türkischen Soldaten, der an Disziplin und Ordnung gewöhnt, bewiesen hat, dass er vieles ertragen kann, ohne zu murren. Wer Wirkungen erzielen will wie die jüngste Meuterei, der muss über das Überzeugungsmittel gebieten, das im Orient unwiderstehlich ist, nämlich über Geld. Auch wenn nicht schon am ersten Tage bei den paar gefallenen Soldaten Goldstücke gefunden worden wären, hätte für den Kenner der Verhältnisse kein Zweifel bestehen können, dass da mit grossen Summen gearbeitet worden war. Woher stammte diese Geld? Die Hodschas sind arm, die „Union libérale“ kann nur mit Mühe ihre Presse über Wasser halten. Von den Leuten, nach denen die Meuterer schrieen, sind die Kiamils habsüchtig, geizig und die letzten, die ihre Kapitalien in einer so unsicheren Unternehmung wie einer Soldatenmeuterei anlegen würden. Ismael Kemal aber, das Haupt der Liberalen, ist verschuldet. Er nimmt, aber er gibt kein Geld. Von ihm geht das Wort um, dass „er schon aus allen Krippen gefressen habe“. Von dieser Seite konnte das Geld nicht kommen. Aber dem Sultan standen trotz der Verkürzung seiner Bezüge noch reiche Mittel zur Verfügung. Auch die seltsame Mischinfektion von Scheriat und modernem Liberalismus, welche die Rufe der Meuterer diagnostizieren liessen, lenkte die Augen auf das Palais, das gewohnt war, zu seinen Zwecken Materien der heterogensten Art zu verwenden. Das „est qui prodest“ kam zur Geltung. Als alter Kriminalist bin ich nicht geneigt, eine Schuldfrage leichthin zu bejahen. Aber was ich in jener letzten Woche der Regierung Abdul Hamids gesehen, hat mich doch sehr stark beeindruckt. Allzu rasch ging der Sultan daran, die Früchte der Meuterei einzuernten. Schon am folgenden Tag erlies Er Verfügungen, die Er einen Tag vorher noch nicht gewagt hätte. Die Hauptstadt stand unter der Herrschaft einer entarteten Soldateska. Sie hat gründliche Arbeit geschafft. Soweit die Mekteblis nicht, das ihnen bevorstehende Schicksal ahnend, geflohen waren, wurden sie, zum Teil grausam, von den Soldaten ermordet. Ich will nicht sagen, dass Abdul Hamid dies befohlen habe, aber in Seiner Macht lag es, diese Scheusslichkeiten zu verhindern. Er hat sie geschehen lassen. Den Kommandanten des „Assari Tewfik“ schleppten die Matrosen nach Yildiz und ermordeten ihn vor den Augen des Sultans, den sie ans Fenster gerufen hatten. Wie viele Offiziere auf diese Weise umkamen, ist noch nicht festgestellt. Auch wenn die Zahl von 264, die ein höherer Offizier nach Einmarsch der Truppen mir angab, um das Doppelte oder das Vierfache übertrieben ist, bleibt eine schwere Blutschuld auf Abdul Hamid lasten. In jener Woche da gellte jeden Abend oft bis gegen Mitternacht das „Tschok jascha Padischahimis“ - Hoch lebe der Sultan - zur Botschaft aus dem Yildiz herüber, wo der Sultan die Soldaten bewirten und beschenken liess. Sie kündeten für jeden, der die Sachlage übersah, das Anfang vom Ende. Aber noch Schlimmeres hatte sich zugetragen. Während dieser Tage kamen die Nachrichten aus Adana, Aleppo und Alexandrette, dass dort an demselben Tage der Meuterei - am 13. April - Massakres von Armeniern begonnen hatten. Wieder waren es die Kurden, diese verwöhnten Protégés des Sultans, welche die Blutarbeit verrichteten. Konnte dieses Zusammentreffen ein Zufall sein? Oder hatte die Hand, welche die meuternden Soldaten zum Parlamentsplatze geführt, auch jene Gräuel veranlasst, um die Aufmerksamkeit von der Hauptstadt abzulenken und vielleicht eine auswärtige Intervention herbeizuführen?

Unabwendbar brach nun das Verhängnis über Sultan Abdul Hamid herein. Was im Anfange niemand für möglich gehalten, wurde nun Wirklichkeit. Das mazedonische Armeekorps war, verstärkt durch Teile des zweiten Korps im Anzuge. Nach wenigen Tagen besetzten die Truppen Tschataldscha. Von da drangen sie bis Hademköi, Spartakulé und bis St. Stefano vor. Knapp zehn Tage nach der Meuterei war ein wohlausgerüstetes Heer von ungefähr 25000 Mann samt Artillerie und Maschinengewehren in einem weiten Bogen um die Hauptstadt versammelt. Die Art des Aufmarsches ist von kompetenter Seite bereits beschrieben. Der Sultan versuchte es mit den bekannten orientalischen Mitteln. Es sandte Kommissionen an die Armee, um sie durch Versprechungen zur Umkehr zu bewegen. Sie wurden abgewiesen. Zahlreiche Hodschas suchten sich der Operationsarmee zu nähern. Aber die Offiziere derselben hatten Vorkehr getroffen. Niemand wurde zu den Soldaten zugelassen. Dabei wurden auch falsche Hodschas entlarvt, die den weissen Turban auf dem Kopf, aber anstatt des Korans Revolver und Dolche im Gewande trugen. Sie wurden unbarmherzig verprügelt, einige derselben erschossen. Dass es möglich sein werde, mit den demoralisierten, der gebildeten Offiziere entbehrenden Truppen ernstlichen Widerstand zu leisten, hat der Sultan selbst nicht geglaubt. Vielleicht hoffte er auf die Flotte. Die bildete in der Tat während mehrerer Tage eine ernste Gefahr für die Stadt. Nach der Ermordung des Kommandanten der „Assari Tewfik“ hatten die Kommandanten und Offiziere sich meist geflüchtet, um einem gleichen Schicksale zu entgehen. Die zurückbleibende Mannschaft hatte Schiessübungen gemacht. Sie war im stand, die Geschütze zu bedienen. Vor Dolmabagtsche und zum Teil vor der Kaiserlichen Botschaft lagen die Panzer „Messudié“ und „Hamidié“, die Kreuzer „Assari Tewfik“ und „Abdul Medschid“ und 2 Torpedoboote. Alle diese Schiffe führten grosse meistens von Krupp gelieferte Geschütze. Solange diese Schiffe für die Operationsarmee nicht sicher waren, konnte an einen Einmarsch nicht gedacht werden. Es hätte sonst unermessliches Unheil über die Stadt kommen können. Eines Tages wurde mir von befreundeter Seite vertraulich mitgeteilt, dass in einer der folgenden Nächte 1500 „Fedais“ der Operationsarmee - das sind Männer, die geschworen haben, eine Aktion durchzuführen oder zu sterben - die Flotte überfallen und die Mannschaft unschädlich machen würden. Dabei bestehe die Gefahr eines Kampfes, bei der auch die Botschaft in Mitleidenschaft gezogen werden könne. Zu dieser Aktion ist es nicht gekommen. Am Abend des 21. April ging die Flotte zur Operationsarmee über. Am folgenden Tage fuhr sie nach St. Stefano. Man begrüsste sie mit Freude. Aber so gross war doch das Misstrauen, dass man auf jedes Schiff eine Anzahl Infanterieoffiziere beorderte, um etwaige Rückfälle zu verhüten. So kam der zweite Freitag nach der Meuterei heran. Wie gewöhnlich wurde Selamlik gehalten. Aber vieles war anders. Die Stimmung schien gedrückt. Die „Mekteblis“ fehlten vollständig. Nicht ein einziger war zu sehen. Die Truppen wurden ausschliesslich von Troupiers (alailis) geführt. Das war der letzte Selamlik Abdul Hamids.

Am folgenden Morgen 5 Uhr erfolgte der Einmarsch der Operationsarmee. Um diese Stunde wurden die Bewohner der Botschaft durch heftiges Geschütz-, Maschinengewehr- und Gewehrfeuer in unmittelbarster Nähe geweckt. Der Sturm auf die Taschkyschla (Steinkaserne) und die grosse Artilleriekaserne am Taximplatz hatte begonnen. Die Botschaft, die durch 40 Offiziersaspiranten der Militärschule und die deutsche Botschaftswache beschützt wurde, war, obgleich sie von einigen Gewehrkugeln getroffen wurde und die eine oder andere Granate über sie wegflog, nicht in ernster Gefahr. Kritisch wurde die Lage einen Augenblick, als 3-400 Flüchtlinge aus den angegriffenen Kasernen über den Kirchhof auf die Strasse vor der Botschaft kamen und, da sie nirgends einen Ausweg fanden, hier Einlass begehrten. Derselbe wurde ihnen selbstredend verweigert. Hätten sie ihn erzwingen wollen, wäre es zu einem ernsten Kampfe gekommen. Aber die Leute waren zu demoralisiert, um Derartiges zu unternehmen.

Nach fünf Stunden war Alles zu Ende. Meisterhaft war der Plan entworfen, meisterhaft war er durchgeführt worden. Darüber herrscht nur eine Stimme. Alles war vorbereitet und vorgesehen, nicht nur in rein militärischer Beziehung, sondern auch bezüglich der Sicherheit der Bevölkerung. Schon mittags herrschte vollkommene Ruhe in der Stadt. Auch hunderte von Hamals (Lastträger), die als Knüppelmänner seit den armenischen Massakres in traurigem Andenken stehen, waren verhaftet und gefesselt nach den Gefängnissen geführt worden. Das Oberkommando hatte Wind bekommen, dass beim Einmarsch von diesen Leuten - wie man sagt auf höhere Weisung - Christenmassakres geplant waren. Die Yildizgarnison hatte sich zum Teil ohne Waffen gestellt. Theile derselben waren nach Kleinasien geflohen. Der Aufmarsch der mazedonischen Armee, die Niederwerfung der Meuterer und die gleichzeitige polizeiliche Sicherung eines Stadt von 11/2 Millionen gegen alle die üblen Elemente, die hier angehäuft sind, ist zweifellos eine Leistung der türkischen Armee, die ihr die höchste Ehre macht. Die Verluste auf beiden Seiten waren schwer. Auch einige Zivilisten wurden durch verirrte Kugeln verletzt, ein Matrose vom italienischen Stationär getötet. Verletzt wurde unter anderem ein Engländer, der das Gefecht aus allernächster Nähe photographieren wollte.

Bei der ganzen Operation ist nur eine Sache fremdartige gewesen. Man hatte sich, als man vom Anmarsch der Mazedonier hörte, ängstlich gefragt, ob nicht die bulgarischen Banden die Abwesenheit eines erheblichen Teils der mazedonischen Armee zu ihrem Vorteile benützen würden? Der Oberkommandierende Mahmud Schefket Pascha hat diese Frage in sehr einfacher, aber geradezu genialer Weise gelöst. Er hat nämlich die ganze Gesellschaft als Kriegsfreiwillige mit hierher genommen. Dieselben hatten sich dazu angeboten, da sie den Feldzug für Freiheit und Verfassung mitmachen wollten. Ihr Anerbieten wurde dankbar angenommen. Die Sache ist buchstäblich wahr. Die Zahl der Bulgaren wird auf etwa 2000 geschätzt. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen. Grösstenteils martialische Gestalten, in ihren verschiedenartigen Trachten einen höchst malerischen Anblick bietend. Sie sehen aus wie Räuber, also genau als das, was sie in Wirklichkeit sind. Als Führer waren die berüchtigten Sandanski und Panitza mitgekommen, die eine recht blutige Vergangenheit haben. Zum Kampf hat man sie natürlich nicht verwendet. Christen gegen Muselmanen zu führen hätte das religiöse Gefühl aufs tiefste verletzt. Darum hat man sie im Sicherheitsdienst verwendet. Sie haben sich da vorzüglich bewährt. Das wird allgemein anerkannt, nachdem anfangs die Peroten durch den Anblick der Leute stark befremdet waren.

Als Ziel der Operationsarmee hatte Mahmud Schefket bezeichnet: Sühnung der Schmach, mit welcher der 13. April die Armee beladen hatte, Sicherung der Verfassung und der Freiheit, Bestrafung aller Schuldigen ohne jede Rücksicht. Dass das Heer zur Entthronung des Sultans gekommen sei, wies er in einer Proklamation ausdrücklich zurück. In einer weiteren Kundgebung des Oberkommandierenden wurde gesagt: „Es ist nicht wahr, dass die Armee auf Wunsch der Jungtürken oder des Komitees gekommen ist. Die Armee hat nichts mit politischen Parteien zu tun. Offiziere und Soldaten haben ihren Vorgesetzten blinden Gehorsam zu leisten, sie dürfen politischen Parteien nicht angehören.“ Diese Linie hat Mahmud Schefket nicht verlassen. Was die europäische Presse von Verhandlungen der Operationsarmee mit dem Sultan geschrieben hat, ist Fabel. Verhandlungen haben nur zwischen Mahmud Schefket einerseits und dem Chef des grossen Generalstabes andererseits über rein militärische Fragen stattgefunden. Es handelte sich darum, soweit möglich Blutvergiessen zu verhindern. Es sollte eine Strafaktion stattfinden, nicht aber ein Bürgerkrieg. Auch was die deutsche Presse über Enver Bey berichtet hat, ist grösstenteils falsch. Enver hat den Sturm auf die Taximkaserne an exponierter Stelle geleitet. Er ist, wenn er öffentlich erschien, vom Publikum stets stürmisch begrüsst worden. Dass er aber eine politische Rolle gespielt und speziell in der Thronfrage sich eingemengt, dass er dem Sultan ein Ultimatum überbracht habe u.s.w., ist lediglich Sensationsmache.

Die Entthronung eines Padischahs durch die „Erwählten der Nation“ auf Grund eines Fetwas des Scheich-ül-Islam ist an sich ein durchaus legaler Akt. Ursprünglich wurde der Kalif durch Wahl des Volkes ernannt. Später wurde der älteste des Stammes zu dieser Würde berufen. So ist allmählich eine erbliche Monarchie nach dem System des Seniorats entstanden. Aber der demokratische Gedanke der Wahl lebt in zwei Einrichtungen noch fort. Der Satz „le roi est mort, vive le roi“ gilt hier nicht. Die Thronfolge tritt erst ein durch die Huldigung des Volkes (biat), welche anstelle der einseitigen Wahl getreten ist. So ist es auch diesmal gehalten worden. Mehemed V. war Padischah erst von dem Augenblicke an, da ihm auf dem Seraskeriate gehuldigt worden war. Die andere Einrichtung besteht darin, dass der Kalif, wenn er seine Pflichten verletzt, auf Grund eines Ausspruchs der höchsten geistlichen Behörde abgesetzt werden kann. Wohl hatte Sultan Abdul Hamid vor einigen Jahren die Stelle in den heiligen Büchern, welche von den „Pflichten des Kalifen“ handelt, herausreissen und verbrennen lassen. Alle Koranausgaben, in welchen sie enthalten waren, wurden aufgekauft und vernichtet. An dem heiligen Rechte hat dieser Gewaltakt natürlich nichts geändert. Derselbe bildet vielmehr in dem neuesten „Fetwa“ einen der Anklagepunkte gegen Abdul Hamid. Dass der hohe Herr darin auch der Ermordung unschuldiger Menschen und der Anstiftung zum Bürgerkrieg bezichtigt wird, lässt darauf schliessen, dass die alsbald nach dem Einmarsch angestellte Untersuchung sehr gravierende Momente ergeben hat. Sowohl der Scheich-ül-Islam wie der Fetwa-Emini - das Mitglied des geistlichen Gerichtshofes, der die Fetwas entwirft -, gelten als durchaus ehrenwerte Männer. Sie sind über den Verdacht erhaben, dass sie sich in Sachen des geistlichen Rechts durch Leidenschaft und Parteizwecke beeinflussen lassen. Die Militärbehörden behaupten, dass Fäden, die von den Meuterern nach Yildiz führen, in ihren Händen sind. Die Geldfrage ist in der Tat sehr bedenklich. Ein Sohn des alten Marschall Fuad, Reschid Fuad, der in Deutschland gedient und nach der jüngsten Meuterei als Gemeiner in die mazedonische Gendarmerie eingetreten ist, sagt mir, seine Kompagnie allein habe bei gefangenen Meuterern 4000 £tq, das sind über 70000 Mark, gefunden.

So hat die türkische Revolution, nachdem sie anfangs gegen die Natur unblutig verlaufen war, schliesslich doch zu Blutvergiessen geführt. Vielleicht führt dasselbe dieses Land aus dem Zustand der chronischen Revolution heraus.

Unter Mehemed V. tritt nunmehr die Türkei in eine neue Aera ein. Was wird die Zukunft bringen? Niemand kann dies vorhersagen. Unter energischen Männern wie dem früheren Grossvezier Ferid Pascha kann Alles noch gut werden. Das Parlament ist unfähig, irgend etwas Nützliches zu leisten. Darüber besteht nirgends ein Zweifel. Abdul Hamid mag an den jüngsten Ereignissen die Hauptschuld tragen, aber die Mitschuld trifft die Politiker, die den Nährboden für reaktionäre Versuche geschaffen haben. Das Parlament mag ohne allzugrossen Schaden fortwursteln, wenn nur eine Exekutivgewalt geschaffen wird, die stark genug ist, das Land gegen parlamentarische Velleittäten zu schützen. Unumgänglich nötig ist die Beschränkung gewisser Freiheiten, die zur Zügellosigkeit entartet sind, so für die Presse, die Versammlungen und die Vereine. Ein liberaler geistreicher Franzose hat einst nach dem Sturze Louis Philipp’s das Wort gesprochen: „Après une révolution victorieuse, le seul moyen de sauver la liberté est de la restreindre.“ Wenn das für die hochzivilisierten Franzosen zutrifft, so ist es für die Türken erst recht wahr. Dass die Jungtürken es nicht beachteten, hat über Verfassung und Freiheit die äusserste Gefahr heraufbeschworen. Die Armee hat Rettung gebracht. Aber eine Volksvertretung, die fortwährend in die Exekutivgewalt eingreift, Alles stört und hindert, ohne imstande zu sein selbst gedeihliche Arbeit zu liefern, kann mehr Unheil anrichten, als die beste Armee wieder gut zu machen vermag. Was dann? Mehemed V. wird niemals ein Autokrat werden. Wohl aber könnte eine Militärdiktatur eintreten. Das wäre im äussersten Falle noch lange nicht das Schlimmste, wenn die oberste Leitung in den Händen von Männern wie Mahmud Schefket läge.


Marschall


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