1913-02-13-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 14078
Zentraljournal: 1913-A-03236
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Telegramm-Abgang: 02/13/1913
Praesentatsdatum: 02/15/1913
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 45
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in St. Petersburg (Pourtalès) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Nr. 45.

St. Petersburg, den 13. Februar 1913

Abschrift.

Inhalt: Russland und die Meerengenfrage.

Obgleich in der letzten Zeit in der hiesigen Presse wieder öfters von den Meerengen die Rede ist, glaube ich nicht, dass die hiesige Regierung die Absicht hat, diese Frage demnächst wieder aufzurollen. Ich zweifele hauptsächlich deswegen an dieser Absicht, weil, wie ich glaube, Herr Sassonow den Zeitpunkt noch nicht für gekommen erachtet, um die Frage in dem für Russland wünschenswerten Sinne lösen zu können. Der Minister hat mir wiederholt auf das bestimmteste erklärt, dass er nicht daran denke, jetzt an dem bestehenden Zustand bezüglich der Meerengen zu rühren, schon weil dieser Zustand relativ für Russland der günstigste sei. Die ganze Frage habe für Russland eine solche Bedeutung, dass Russland nur dann an ihre anderweitige Regelung denken könne, wenn es sicher sei, seine Wünsche und Interessen in vollem Masse gewahrt zu sehen. An der Öffnung der Meerengen für die Kriegsschiffe aller Nationen liegt Russland garnichts, die einzige seinen Wünschen entsprechende Lösung der Frage würde vielmehr die sein, dass die Durchfahrt durch die Meerengen nur den Kriegsschiffen der UferStaaten des Schwarzen Meeres freistände.

Ich habe beobachten können, dass der italienische Geschäftsträger Marquis Toretta der Frage neuerdings erhöhtes Interesse entgegenbringt. Vor einigen Wochen schien er zu dem Glauben zu neigen, dass Russland vielleicht jetzt irgend welche Pläne bezüglich der Meerengen im Schilde führen könnte. Misstrauen erregte bei dem Geschäftsträger die auch von mir Euerer Exzellenz gemeldeten, plötzlich hier auftretenden Besorgnisse wegen Unruhen in Armenien, die Russland veranlassen könnten, dort einzumarschieren. Da Russland jederzeit in der Lage ist, wenn es will, vom Kaukasus aus in Armenien Unruhen anzustiften, um auf diese Weise einen Vorwand zum Eingreifen zu haben, war das plötzlich zu Tage tretende erhöhte Interesse für das Los der in der Türkei lebenden Armenier in der Tat ungeeignet, bezüglich irgendwelcher Pläne Russlands in Kleinasien Misstrauen zu erwecken. Es wäre sehr wohl denkbar, dass man hier daran dächte, sich allmählich in den Besitz des Ostufers des Schwarzen Meeres zu setzen und auf diesem Wege bis an den Bosporus zu gelangen.

Bezüglich Armeniens ist es nun in der letzten Zeit wieder still geworden, ob in Folge von Einwirkungen seitens der anderen TripleententeMächte, oder in Folge der von mir ebenfalls gemeldeten Bedenken des Statthalters des Kaukasus, vermag ich nicht zu beurteilen. Trotzdem fehlt es nicht an Stimmen, welche fortfahren, das Anschneiden der Meerengenfrage auch jetzt noch zu befürworten. Diese Stimmen kommen hauptsächlich aus dem Lager derjenigen, welche mit dem Lauf der Dinge nach den Siegen der Balkanslawen nicht zufrieden sind und finden, dass Russland, welches bis jetzt bei der Neuregelung der Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel in ihren Augen nichts als diplomatische Niederlagen erlitten hat, bei den gegenwärtig schwebenden Verhandlungen einen Vorteil herausschlagen müsse. Diese Stimmen sind gewiss zahlreich und, wie ich glauben möchte, in einflussreichen Kreisen, insbesondere auch im Ministerium des Äussern, vertreten. Dessenungeachtet möchte ich vor der Hand nicht glauben, dass es diesen Kreisen gelingen wird, die Regierung von ihrer bisher in der Meerengenfrage beobachteten Zurückhaltung abzubringen.

Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass der weitere Gang der Ereignisse im Balkankrieg, falls der Friede nicht bald zustande kommt, Russland zu einer veränderten Haltung auch in dieser Frage veranlasst. Diese Möglichkeit könnte vielleicht in folgenden Fällen eintreten: erstens, wenn es Bulgarien gelingen sollte, bis Constantinopel vorzudringen und es gar Miene machen sollte, sich dort festzusetzen, was Russland nach meiner Überzeugung nie dulden würde; zweitens, wenn wirklich ernste Unruhen in Kleinasien entstehen sollten und endlich, wenn es den chauvinistischen Hetzern gelingen sollte, die jetzige Regierung zu beseitigen und die russische Politik in aggressive Bahnen zu leiten.

Wenn Herr Sassonow am Ruder bleibt, und es liegt für den Augenblick kein Grund vor, daran zu zweifeln, wird er es, wie ich glauben möchte, wenn er irgend kann, zu vermeiden suchen, die Meerengenfrage jetzt in Fluss zu bringen.


[Pourtalès]

S. E. dem Reichskanzler Herrn von Bethmann Hollweg.



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