1909-05-29-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 13186
Zentraljournal: 1909-A-09304
Erste Internetveröffentlichung: 2009 April
Edition: Adana 1909
Praesentatsdatum: 05/29/1909 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: J.No. 1516/ 57
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Konsul in Beirut (Schroeder) an den Reichskanzler (Bülow)

Bericht



J.No. 1516 / 57
Euerer Durchlaucht beehre ich mich, in der Anlage Abschrift eines Berichtes über die jüngsten Ereignisse in der Provinz Adana zu überreichen, welchen der diesem Konsulate zugeteilte Dragomanats-Aspirant Referendar Hammann mir auf Grund seiner persönlichen Wahrnehmungen und nach Berichten von Augenzeugen erstattet hat. Herr Hammann begab sich am 5. d.M. an Bord S. M. Kreuzers “Lübeck“ nach Mersina und von dort mit der Bahn nach Adana.

Interessant und für die Jungtürken beschämend ist die aus diesem Bericht hervorgehende, auch durch die Berichterstattung des Kaiserlichen Konsuls in Mersina bestätigte Tatsache, dass die von der jungtürkischen Regierung zur Wiederherstellung der Ordnung nach Adana entsandten und am 24. April in Mersina ausgeschifften mazedonischen Truppen, in deren Disziplin man allgemein Vertrauen setze, sich in Adana schlimmer aufgeführt haben, als die anatolischen Soldaten während der Gemetzel am 14. April und den folgenden Tagen. Statt die Armenier vor weiteren Gewalttaten zu schützen, haben diese jungtürkischen Soldaten, im Verein mit dem muhammedanischen Pöbel, die Metzeleien, Mordbrennereien und Plünderungen in noch grösserem Maßstabe fortgesetzt. Ich kann die Ansicht des Herrn Hammann, der die schmachvolle Aufführung der rumelischen Truppen aus politischen Motiven, nämlich aus deren Erbitterung über die angebliche Bedrohung der Freiheit durch die Armenier und deren „antikonstitutionelle“ Gesinnung zu erklären sucht, nicht teilen. Die Armenier sind nicht Gegner der türkischen Verfassung; im Gegenteil, sie haben im Verein mit den Jungtürken für die Einführung derselben agitiert. Daneben verfolgen sie allerdings nationalistische Ziele. Es waren meines Erachtens lediglich blinder Fanatismus gegen die Gjaurs und die niedrigen Instinkte der Raubsucht und Mordlust, die die rumelischen Soldaten bei ihren Ausschreitungen in Adana beseelten. Sie sahen bei ihrer Ankunft, dass ihre anatolischen Kameraden sich durch Plünderung der Läden im Bazar und der Häuser der Christen bereichert hatten, und wollten auch ihren Anteil an der Beute haben. Unter dem Vorwande, dass die Armenier Vaterlandsverräter seien, wurde daher das Massakre von neuem begonnen; selbst Offiziere beteiligten sich an der Plünderung. Ein Angestellter der deutschen Firma Fankhaenel & Schifner überraschte einen Offizier dabei, wie er in dem ausgeplünderten Büreau dieser Firma in Adana den Geldschrank aufbrechen liess.


Schroeder
[Anlage]

Abschrift.

Um die Mitte des April, als in Konstantinopel das Wort „Scheriat“ das ganze konstitutionelle Regime über den Haufen zu werfen drohte, setzten in der Provinz Adana und von dort nach der Nachbarprovinz Aleppo im Osten übergreifend blutige Unruhen ein, die ebenfalls einen stark reaktionären Charakter trugen. Während aber in der Hauptstadt die sultansfreundlichen Truppen nur auf eine peinlichere Berücksichtigung des heiligen Scheriatrechtes drangen, kam in Adana der fanatische Trieb des Islam zu offenem Ausbruch. Er wandte sich zunächst gegen das verhasste Volk der Armenier, dann auch gegen andere Christen.

Diese jüngsten Armenierverfolgungen, die bis jetzt schon an 40000 Opfer gefordert haben sollen, unterscheiden sich, was den Grund ihrer Entstehung betrifft, in mancher Hinsicht von den Massakres der früheren Jahre. Zu der notorischen Glaubenswut des anatolischen Muhammedaners und seinem Hass gegen den wirtschaftlich stärkeren Armenier, der in der Tat durch seine skrupellose Ausnützung und Übervorteilung des Bauern für die kleinasiatische Landwirtschaft einen Krebsschaden bildet, kamen diesmal noch hochpolitische Momente hinzu.

Zunächst ist hervorzuheben, dass zwischen der Erhebung der sultanfreundlichen Truppen in Konstantinopel am 13. April und den Armenierhetzen in Kleinasien und Nordsyrien, die am 14. April ausbrachen, ein fester Zusammenhang besteht. Im Dienste des Sultans Abdul Hamid stehende Kommissäre sind in Spezialkommission nach Mersina und Adana gereist und haben dort das Volk gegen die Armenier aufgehetzt. Kleine, bei getöteten Soldaten gefundene Geldrollen lassen durch die Art ihrer Verpackung und die Höhe ihres Wertes erkennen, dass die Truppen aller Wahrscheinlichkeit nach bestochen worden sind.

Die Bemühungen dieser Kommissäre wurden erleichtert durch die Vorarbeit der zahlreichen Beamten des alten Regimes, die nach ihrer Absetzung in Klein-Asien Zuflucht gefunden hatten. Sie alle agitierten zu demselben Zwecke, nämlich, durch Erregung von Unruhen in den Provinzen die Jungtürken zur Zersplitterung ihrer starken in Salonik und Konstantinopel konzentrierten Militärkräfte zu zwingen und gleichzeitig durch die versteckte Inszenierung von Armenier- und Christengemetzel bei dem humanen Europa Sympathien für einen Koup gegen die Jungtürken zu gewinnen, die nicht imstande seien, die Ruhe im Lande und speziell die Sicherheit der Christen zu garantieren. Die von den Ulemas zur Wahrung des Scheriatrechtes geführte Propaganda diente unter einem andern Gesicht auch dazu, das von den Jungtürken arg geschmälerte Ansehen des Kalifen wieder zu befestigen. Dieser klugen und gefährlichen Agitation gegenüber war das Comité Union et Progrès seit Erlass der Verfassung an bestrebt, der Armee, ihrer Hauptstütze, die Idee der Freiheit und der Verfassung und zugleich die unerlässliche Notwendigkeit einzuprägen, dass jeder, der diese nationalen Errungenschaften bedrohe, als Vaterlandsverräter den Tod verdiene.

Sonderbarer Weise stritten diese beiden konträren Bewegungen, die am 13. April in Konstantinopel erbittert auf einander stiessen, gleicherzeit im Vilajet Adana Seite an Seite gegen denselben Feind. Die Reaktionäre beziehungsweise die von Reaktionären aufgehetzte, politisch indifferente Menge, kämpfte gegen die Gjaur, während die mazedonischen Truppen, die zur Unterdrückung der Unruhen nach Adana geschickt worden waren, in dem Armenier weniger den Gjaur, den Ungläubigen, als den Feind der konstitutionellen Freiheitsidee erblickten; ein Gesichtspunkt, dem man eine gewisse Berechtigung nicht versagen kann. Grade in den letzten Monaten nämlich, als Bulgarien sich zum Königtum machte, wurden auch in dem armenischen Volke die alten nationalistischen Bestrebungen, die auf die Errichtung eines armenischen Königreiches in Kleinasien hinzielen, mit besonderem Nachdruck gepflegt. In vaterländischen Dramen wurde die ersehnte Befreiung von der Türkenherrschaft durch die Köpfung türkischer Provinzialbeamter dargestellt. Die Schöpfung eines Königreiches fand in einer anderen Szene sinnbildlichen Ausdruck. Die Bühne zeigte zwei Gräber, denen unter Wehklagen ein Jüngling und eine Jungfrau entstieg. Dann erschien vom Himmel ein Engel, der das mit der Dornenkrone geschmückte Paar segnete und zur Herrschaft salbte. Derartige Darstellungen verletzten natürlich den Stolz des einheimischen Türken, andererseits offenbarten sie in unvorsichtigster Weise den Jungtürken die Gefahr, die Kleinasien, den Hort des Reiches, bedrohte. So kam es, dass der strenggläubige reaktionäre Muhammedaner mit dem freigeistigen zusammen gegen den ungläubigen, antikonstitutionellen Armenier kämpfte.

Diese Tatsache hatte auf den Verlauf der Ereignisse eine ausschlaggebende Bedeutung. Nachdem in den letzten Monaten die Reibungen zwischen Türken und Armeniern äusserst erbitterten Charakter angenommen hatten, brachte die hetzerische Agitation der erwähnten Kommissäre den angesammelten Explosionsstoff endlich zur Entzündung. Gleichzeitig lief bei dem Vali von Adana ein Befehl aus dem Jildiz ein, gegen die Armenier vorzugehen. Der Vali, ein schwächlicher Beamter des alten Regimes, der, weitab von Konstantinopel, nicht wusste, mit welchem Winde er zu segeln habe, suchte sich durch Lavieren aus dem Dilemma zu retten. Als am 13. April eine grosse Volksmenge vor seinem Konak erschien und stürmisch die offizielle Erlaubnis zur Tötung gewisser Armenier forderte, die angeblich einige Türken ermordet hatten, gab der Vali eine ausweichende Antwort. In der Frühe des 14. hatten alle Waffenläden in Adana ausverkauft, um 10 Uhr schlossen sämtliche Kaufleute ihre Geschäfte und eine halbe Stunde später begannen die ersten Kämpfe im Zentrum der Stadt. Vergeblich bemühten sich am folgenden Tage einige Notablen der Stadt, dem gegenseitigen Morden Einhalt zu tun. Bei einer von ihnen herbeigeführten Besprechung zwischen angesehenen Mitgliedern der beiden Parteien, geriet man hart aneinander und einige Armenier blieben auf dem Platze. Der Kampf wurde mit erneuter Erbitterung fortgesetzt. Numerisch waren die Armenier, die etwa 35 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachen, in der Überzahl. Nach den Erzählungen Eingeborener sind auch während der ersten Tage fast ebenso viele Türken wie Armenier gefallen. Anders stand es mit den Dörfern um Adana. Dort kamen die räuberischen Kurden ihren Glaubensbrüdern zu Hilfe. Am Freitag, den 16. April ging dass grosse Armenierdorf Gjaur Köj, 3 km nördlich von Adana, in Flammen auf. In Adana selber liessen am 17. die Kämpfe etwas nach und man begann mit der Fortschaffung der Leichen, die infolge der ausserordentlichen Hitze teilweise schon in Verwesung übergegangen waren. Die Lage verschlimmerte sich jedoch wieder in den folgenden Tagen durch die Ankunft zahlreicher muhammedanischer Tagelöhner und Kurden, die vom Gebirge herab kamen, um wie alljährlich durch die Erntearbeit auf den grossen armenischen Gütern um Adana sich einen kärglichen Verdienst zu verschaffen. Sie alle nahmen natürlich teils aus Fanatismus, teils aus Raublust für ihre Glaubensbrüder Partei und die Lage der Armenier wurde äusserst kritisch. Viele flüchteten mit der Bahn nach Mersina und von dort nach den syrischen und kleinasiatischen Hafenstädten, um dort das Ende der Unruhen abzuwarten. Durch die Ankunft der ersten europäischen Kriegsschiffe, die um diese Zeit erfolgte, kam jedoch wieder ein retardierendes Moment in die Vollendung des schrecklichen Dramas. Der Kommandant des deutschen Kreuzers „Hamburg“ fuhr am 23. April mit den Kommandanten eines französischen und eines englischen Kriegsschiffes nach Adana hinauf, wo inzwischen ein jungtürkischer Beamter den alten Vali abgelöst hatte. Der Gouverneur versicherte den Offizieren, auf das Bestimmteste, dass innerhalb weniger Tage die Ruhe in Adana und Umgebung vollständig wieder hergestellt sein würde. Am folgenden Tage trafen aus Dedeagatsch 2000 mazedonische Soldaten, Linientruppen und Rediefs /Reservisten/ in Mersina ein und wurden sofort per Bahn nach Adana geschickt. Die Hoffnung nahm zu, dass den Greueln nun ein Ende gesetzt sei. Viele Armenier, die sich bisher versteckt gehalten hatten, zeigten sich wieder in den Strassen, da sie sich des Schutzes der gut beleumundeten mazedonischen Soldaten erfreuen zu dürfen glaubten. In wenigen Stunden jedoch war die Stimmung der neueingetroffenen Truppen durch die Phrase von der durch die Armenier bedrohten Freiheit und Verfassung gegen diese erregt. Es zeigte sich, wie sehr der türkische Soldat über die Beschäftigung mit politischen Fragen seinen eigentlichen Beruf und den Begriff der Disziplin vergessen hat. Die gefährliche Lehre der Jungtürken, die der Armee jede Insubordination und Gewalttat erlaubt, sobald es sich um die Sache der Verfassung handelt, liess die irregeleiteten Truppen ihre Mission, Ruhe und Ordnung zu stiften, gänzlich vergessen; sie erzeugte vielmehr in ihnen eine enthousiastische Erbitterung gegen die landesverräterischen Armenier. Soldaten, denen ich in Adana ihr Verhalten bei den Gemetzeln vorwarf, rühmten sich offen ihrer Mordtaten. Sie alle glauben für die Sache der Freiheit gehandelt zu haben. [von Wilhelm II. mit Ausrufezeichen versehen]

Dieser erneut Ausbruch der Gemetzel, die an barbarischer Wildheit die früheren weit übertrafen, begann am 25. April. Gegen dreitausend gut bewaffnete Soldaten, unterstützt von einer raublustigen, fanatischen Menge stürmten in das Stadtviertel, wo sich die Armenier in ihren festen Steinhäusern verschanzt hatten. Die Taktik der Angreifer bestand darin, die Armenier allmählich auszuhungern und durch hartnäckige Beschiessung zu dezimieren. Die wenigen muhammedanischen Häuser in diesem Stadtviertel waren durch das mit Kreide über die Tür gemalte Wort „Islam“ gekennzeichnet und so vor der Wut der Plünderer geschützt. Nach zwei Tagen gingen die Türken zum Endsturm vor. Wo der Widerstand zu hartnäckig war, wurde von der Windseite her Feuer ins Dach gelegt. Die Insassen, die sich auf die Strasse zu retten suchten, schlug man tot und schleppte das geraubte Gut durch Wagen in Sicherheit. Augenzeugen berichten von unbeschreiblichen Grausamkeiten, in denen der Pöbel schwelgte. Der Anblick der Leichen und Blutlachen soll die verwilderte Soldateska [Anmerkung Wilhelm II.: „das ist der echte Islam!“] und die rohen Instinkte des Pöbels in einen ekstatischen Rausch versetzt haben. Auf diese Weise erklärt sich die unverhältnismäßig hohe Anzahl der Getöteten - in Adana und Umgebung mögen es 6 bis 7000 sein - gegenüber der geringen Zahl von Verwundeten.

In den ersten Tagen des Mai kehrte die Ruhe allmählich wieder ein. Die Eisenbahn Mersina-Adana nahm ihren Betrieb wieder regelmäßig auf. Die Kaufleute in Adana und ebenso in Mersina, wo während der ganzen Zeit eine panikartige Furcht geherrscht hatte, öffneten wieder ihre Geschäfte. Nur in den Nächten flackert die Erbitterung noch manchmal auf. Die Lokalregierung, eingeschüchtert durch die drohende Anwesenheit der fremden Kriegsschiffe auf der Rhede von Mersina sucht nach Möglichkeit die Spuren der Greuel zu verwischen. Der Vali von Adana gab den euphemistischen Befehl, die Türken und Soldaten sollten herausgeben, was sie bei dem grossen Brande des Armenierviertels aus dem Feuer „gerettet“ hätten. Man beginnt mit Haussuchungen, wobei es wieder zu blutigen Zusammenstössen kommt. Die Fortschaffung der Leichen machte enorme Arbeit. Drei Tage hindurch arbeiteten die Wagen, auf die man die Leichen wie Ballen verlud. Hunderte warf man in den Seihunfluss, von wo sie in den Golf von Alexandrette hinaustreiben und die Haie von weit her anziehen. Andere ruhen in Massengräbern vor der Stadt. Trotz alledem zeigt Adana noch das Bild der furchtbaren Verwüstung. Schon bei Tarsus bemerkt der Reisende, der von Mersina kommt, rechts und links der Bahn inmitten der Weingärten und Baumwollpflanzungen die verbrannten Farmen der Armenier. In Adana zeigt gleich beim Eintritt in die Stadt die am Bahnhofe gelegene Hauptwache ein typisches Bild. Dort sind Möbel jeder Art, Teppiche, kupferne Geschirre und sonstige Gegenstände aufgestapelt; alles gestohlenes Gut. In den Hauptstrassen und im Bazare, wo man die Läden der armenischen, griechischen, chaldäischen und christlich arabischen Kaufleute ausgeplündert aber nicht niedergebrannt hat, liegen allenthalben erbrochene Geldschränke und Kassetten umher. Soldaten sind damit beschäftigt, die ausgeraubten Geschäfte mit Brettern zuzunageln, damit der Fremde der leeren Magazine nicht gewahr wird.

Unter militärischem Schutze wanderte ich durch das ehemalige Viertel der reichen Armenier, das jetzt einen einzigen riesigen Trümmerhaufen bildet. Auch die französische Jesuitenschule ist verbrannt. Von der Schule und der Kapelle der französischen Schwestern stehen noch einige Bogen. Trostloser noch ist der Anblick des grossen Armenierlagers vor der Stadt, das unter dem zweifelhaften Schutze türkischer Soldaten steht. Einige tausend Flüchtlinge meist Frauen und Kinder sind dort unter mit Lumpen bespannten Pflöcken aufs dürftigste untergebracht. Die Leute haben nichts ausser dem nackten Leben gerettet. Ihre Not wird erhöht durch den Mangel an Lebensmitteln. Zweitausend Armenier, die während der Gemetzel vom 25 - 29. April in den Fabrikhof der Deutsch-Levantinischen Baumwollgesellschaft sich geflüchtet hatten, haben sich dort fast ausschliesslich von Gras genährt. Typhus und Dyssenterie dezimieren denn auch den Rest der Überlebenden. Auch an Verbandzeug und chirurgischen Instrumenten fehlt es sehr, da die türkischen Apotheken in Adana sich unter nichtigen Gründen weigern, diese Hilfsmittel für die Armenier abzugeben.

Unter diesen Umständen arbeitet die Hilfsaktion, die besonders von dem deutschen Kreuzer „Hamburg“ und dem englischen Konsul von Mersina eingeleitet wurde, unter schwierigen Verhältnissen. Der Schiffsarzt der „Hamburg“ richtete in einem Hause der Deutsch Levantinischen Baumwollgesellschaft ein Lazarett ein und war acht Tage lang persönlich mit der Pflege der Verwundeten beschäftigt. Das deutsche Konsulat in Beirut schickte zwei Kaiserswerther Diakonissen vom dortigen Johanniter-Hospital, die mit grosser Aufopferung ihren schweren Dienst versehen. Alles Verbandzeug, das auf der „Hamburg“ entbehrlich war, wurde nach Adana geschafft. Am 8. Mai übernahm der deutsche Kreuzer „Lübeck“ die Hilfsarbeit der Hamburg. Ein zweites Hospital ist durch den englischen Konsul in Mersina, der sich auch während der Gemetzel durch sein tapferes Auftreten grosse Verdienste erworben hat, in Adana organisiert worden.

Während die Türken die Anwesenheit der europäischen Kriegsschiffe und ihre Hilfsaktion mit unfreundlichen Augen betrachten, macht man von armenischer Seite und vielfach auch von Seiten der in Adana ansässigen Europäern den fremden Kriegsschiffen den Vorwurf, nicht sofort Truppen nach Adana geworfen zu haben. Man behauptet, dass einige hundert europäische Soldaten den Ausbruch der zweiten Unruhen vom 25. und ff. hätten verhindern können. [Anmerkung Wilhelm II.: „unmöglich!“] Einer Landung standen jedoch schwere militärische Bedenken gegenüber. [Anmerkung Wilhelm II.: „ja!“] Eine sichere Aussicht auf Erfolg, die prinzipielle Vorbedingung jeder Landung in fremdem Gebiet, war recht zweifelhaft, um so mehr, als, wie sich später herausstellte, die 2000 mazedonischen Soldaten zu den Aufrührern hielten. Der angebliche Nachhalt durch die Kanonen der Kriegschiffe, wäre, da Adana über 50 km von der Küste entfernt liegt, rein illusorisch gewesen. Da ferner bei der beschränkten Anzahl der zur Verfügung stehenden Truppen von der Einrichtung einer Etappenstrasse zum Schutz der 67 km langen Eisenbahn von Mersina nach Adana keine Rede sein konnte, wäre es den Türken ein leichtes gewesen durch eine Unterbrechung des Bahnverkehrs die Verbindung zwischen den Truppen und den Kriegsschiffen abzuschneiden. [Anmerkung Wilhelm II.: „richtig!“] Die Landungkorps hätten also in dieselbe schwierige Lage kommen können, als seinerzeit unsere Truppen beim Seymourfeldzuge. Aller Erwartung nach musste ja auch die Ankunft der mazedonischen Soldaten die Wiederherstellung der Ordnung garantieren. Dass es anders kam, lag ausser aller menschlichen Voraussicht.

Auch die Gefährdung europäischer Interessen im Vilajet Adana war nicht so bedeutend, als dass sie eine Landung notwendig gemacht hätten. Nur die Vereinigten Staaten von Amerika haben infolge der Ermordung zweier amerikanischen Missionare einen gerechtfertigten Titel zu militärischem Einschreiten. Was Deutschland betrifft, so war am 23. und 24. als die Frage einer eventuellen Landung brennend wurde, das Leben deutscher Staatsangehöriger nicht bedroht. Den in Adana, Missis, Osmanije und Bagtsche domizilierten deutschen Ingenieuren der Bagdadbahn war es unter dem Schutze von Tscherkessen und Soldaten, die der Dragoman des deutschen Konsulats in Mersina vom Vali requirierte, gelungen, unversehrt nach Mersina zu gelangen. Wie der Verlauf der Ereignisse bezeugt, waren die in Adana ansässigen Deutschen ausser Gefahr. Die Direktoren der Deutsch-Levantinischen Baumwollgesellschaft haben durch ihr tapferes Aushalten während der ganzen Zeit den vielen in den Hof ihrer Fabrik geflüchteten Armenier das Leben gerettet. [Anmerkung Wilhelm II.: „Dekorierung vorschlagen!“]

Dem gegenüber verdienen die farbigen Erzählungen gewisser Leute, wie zum Beispiel des deutschen Pflanzenhändlers Siehe in Adana, der im Berliner Tageblatt den Kommandanten der „Hamburg“ der Untätigkeit beschuldigt haben soll, wenig Glauben. Siehe gilt hierzulande als ein zu Übertreibungen neigender Mann, der sich durch Abenteuer interessant machen will. Deutsche Interessen sind nur insofern geschädigt worden, als grosse Mengen deutscher Industrieerzeugnisse, die von armenischen Händlern abgenommen aber noch nicht bezahlt worden waren, geraubt worden und die Besitzer getötet worden sind. Auch die deutsche Baumwollgesellschaft und die Bagdadbahningenieure erheben Schadensersatzansprüche gegen die türkische Regierung.

Über die räumliche Ausdehnung der Armenierverfolgungen ist eine gewissenhafte Information schwer zu erhalten. Es steht fest, dass die Bewegung an verschiedenen Punkten zu gleicher Zeit ausgebrochen ist, eine Tatsache, die aufs neue bestätigt, dass man es nicht mit einem spontanen Ausbruch des muhammedanischen Fanatismus, sondern mit einer fest organisierten Bewegung zu tun hat. Die Hauptortschaften, in denen es zu Gemetzeln kam, sind im Vilajet Adana: Tarsus, Adana, Hadschin, Karatasch, Missis, Giaur-Köi, Osmanije. Im Vilajet Aleppo: Bagtsche, Kyryk-han, Antakije /Antiochia/, Dörtjol, Kessab, Bajas, Ajas, Beilan, Killis, Marasch. Die beunruhigenden Nachrichten, die aus Alexandrette eintrafen, sind sehr übertrieben. Wie in Mersina, so ist auch in Alexandrette der Beginn von Unruhen durch die Ankunft europäischer Kriegsschiffe verhütet worden. Nur in den um Alexandrette liegenden Ortschaften fielen die Kurden über die Armenier her. In Urfa, der Hauptstadt von Kleinarmenien wo sich 1895 die grossen Armeniergemetzel ereigneten, soll alles ruhig sein.


Beirut, den 19. Mai 1909.
gez. Hammann.



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