1916-02-08-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 20049
Zentraljournal: 1916-A-03869
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 02/11/1916 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 249
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Legationsrat an der Gesandtschaft in Bern (Einsiedel-Wolkenburg) an den Reichskanzler (Bethmann-Hollweg)

Bericht


Bern, den 8. Februar 1916

Geheim!

Der Standard-Redakteur White war Anfang v.M. nach der Schweiz zurückgekehrt und wollte, wie mir Herr Stepankowski mitteilte, Anfang dieses Monats sich wieder auf einige Zeit nach England begeben. Herr Stepankowski ist mit ihm in Führung geblieben und hatte Gelegenheit, sich über die verschiedensten Fragen mit ihm zu unterhalten.

Stepankowski ist es aufgefallen, daß White sich nach seiner Rückkehr aus England viel optimistischer über die Kriegsaussichten ausgesprochen habe, als in seinen früheren Unterredungen. Die Engländer, habe er geäussert, würden sich bis zu einem für sie unzweifelhaft günstigen Ende schlagen, selbst wenn sie allein gegen Deutschland weiterfechten müssten. Der Sieg müsse ein vernichtender sein, wenn es zu einem faulen Kompromiß komme, habe England den Krieg verloren. Unter Umständen würden die Verbündeten im Jahr 1916 noch mancherlei Niederlagen erleiden; vielleicht würde das Jahr 1916 das schrecklichste für die Verbündeten sein, aber am Ende des Jahres würde die Erschöpfung Deutschlands beginnen. Wie lange der Krieg dann noch dauern werde, sei schwer vorauszusagen: er halte es aber nicht für ausgeschlossen, daß der Krieg sich bis in das Jahr 1918 hinziehen werde.

Nach seinen Erkundigungen herrsche bereits eine sehr gedrückte Stimmung in Deutschland, besonders unter den Frauen. Auch der Ton der deutschen Presse habe sich sehr geändert. Er glaube, daß die Deutschen auf ihrer Ost- oder Westfront einen übereilten Angriff machen würden; auch scheine sich eine ernsthafte Offensive gegen die Italiener vorzubereiten.

Mit der Leitung der Auswärtigen Angelegenheiten sei man in England nach wie vor sehr unzufrieden; die Hälfte des Landes sei gegen Grey. Lord Robert Cecil trage sich offenbar mit der Hoffnung, eventuell Grey’s Nachfolger zu werden. Sehr zufrieden sei man mit der Admirality und der Flotte. Im Kabinett habe Lloyd George sehr an Einfluß gewonnen; es sei nicht ausgeschlossen, daß er in absehbarer Zeit die Stelle von Asquith einnehmen werde, der in vielen Kreisen unbeliebt sei.

Die allgemeine Ansicht ginge dahin, daß das War Office versagt habe. French’s Berufung nach England bedeute keine Kaltstellung. Man habe vielmehr im War Office dringend einer Persönlichkeit bedurft, die etwas von Kriege gesehen habe. Kitchener trete noch immer sehr diktatorisch auf; er glaube sicher, daß man sich seiner über kurz oder lang entledigen und ihm irgend ein Kommando im Orient geben werde.

An eine Erhebung Egyptens glaube er nicht recht; die meisten Leute hielten sie für unmöglich. Aber wenn auch Egypten von den Türken und Deutschen besetzt werden würde, so werde zwar das englische Prestige darunter leiden, für den englischen Handel würden dadurch aber keine entscheidenden Folgen entstehen, denn schon jetzt gingen nur noch wenige Schiffe durch den Suez-Kanal, die meisten nähmen ihren Weg um’s Kap.

Eine gewisse Mißstimmung herrsche in England gegen Japan: Japan’s weitgehende Forderungen an China hätten einige Unruhe hervorgerufen. Man scheine aber vorläufig in der Öffentlichkeit das Verhältnis zu Japan mit Zurückhaltung behandeln zu wollen. Er habe einige Artikel geschrieben, in denen er Japan aufgefordert habe, eine loyalere Haltung einzunehmen; das Foreign Office habe ihn daraufhin wissen lassen, er möge diese Artikel nicht veröffentlichen, man müsse zur Zeit sehr vorsichtig mit Japan umgehen.

Sehr absprechend äußerte sich White über die Russen. Er sprach sich zwar sehr zuversichtlich über die militärische Lage Rußlands und über die Hoffnungen aus, die er auf die neue russische Millionenarmee setze; auch seien die Russen augenblicklich ausreichend mit Munition versehen. Im übrigen aber betonte er, daß die Russen während des gegenwärtigen Krieges die Schande für ihre Verbündeten gewesen wären. Der einzige Wert der Russen bestünde, wie übrigens auch der der Italiener, darin, daß sie eine bestimmte Menge Deutscher umbrächten, sonst aber würden die übrigen Ententemitglieder durch das Bündnis mit ihnen nur kompromittiert. Er sei der festen Überzeugung, daß nach dem Krieg eine Revolution in Rußland ausbrechen werde. Dann werde Rußland auf England angewiesen sein, und dann werde England seine Politik Rußland gegenüber auch ändern. Es werde von Rußland die Einführung wirklicher Reformen verlangen, und Rußland erst dann finanziell helfen, wenn diese Reformen auch wirklich durchgeführt worden seien. Jedenfalls werde England auf diese Weise Rußland nach dem Kriege fest in der Hand haben.

Eine große Hochachtung empfinde er vor dem militärischen Genie Frankreichs. Die Verbündeten hätten Saloniki auf den Rat Frankreichs befestigt; Joffre sei nach London gereist, um die Fortführung des Saloniker Unternehmens durchzusetzen. Die Zahl der Rekruten, welche die Derby’sche Rekrutierungskampagne und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ergeben habe, übersteige übrigens die Ziffer der von den Franzosen geforderten Hilfstruppen.

White hat mit Stepankowski auch mehrfach über die ukrainische Frage gesprochen. Er habe im Dezember v.J. über diese Frage mit Lord Robert Cecil und Lord Crewe verhandelt, dabei aber keine bestimmte Auskunft über die Ansicht der englischen Regierung erhalten. Er hoffe, jetzt im Februar Sir Edward Grey zu sehen und seine Meinung zu hören.

Er glaube, daß es für das Foreign Office vielleicht gefährlich sein würde, dem Zaren zu raten, zu Gunsten der Ukraine und anderer Nationalitäten in Rußland Konzessionen zu machen. Denn die Befürchtung sei nicht von der Hand zu weisen, daß der Zar und seine Umgebung sich dann in die Armee der Deutschen werfen würden, die sie als eine Stütze des konservativen Regime’s ansähen.

White riet Herrn Stepankowski, sich nach keiner Seite hin festzulegen, sondern zunächst den Gang der Ereignisse abzuwarten.


S.E. Graf Einsiedel



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