1915-05-25-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 19983
Zentraljournal: 1915-A-16529
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 413
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Das Auswärtige Amt an den Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim)

Erlaß



No. 413.

Berlin, den 25. Mai 1915

Euer pp. beehre ich mich anbei z.g.K. [zur gefälligen Kenntnis] Abschrift eines Berichts zu übersenden, den der vor kurzem aus Singapur zurückgekehrte Sekretär des dortigen K. Generalkonsulats Lerch über seine Beobachtungen auf der Durchreise durch Egypten hier erstattet hat.

Anlage

Abschrift

Beobachtungen am Suezkanal und in Aegypten im April d.Js. betreffend.

Ich traf am 5. April d.Js. in Suez an Bord eines holländischen Dampfers ein und… [folgt längere Beschreibung von Schiffen, denen er auf der Reise begegnet war]

Während meines Aufenthalts in Ägypten hatte ich reichlich Gelegenheit, die dort stationierten Truppen zu beobachten. In Suez, am Kanal, der Eisenbahn entlang und in Port Said waren indische Truppen aller Rassen stationiert. Hauptsächlich Sikhs, doch auch Kaschmiris und Pathans; Gurkahs waren ausschließlich entlang der Eisenbahnlinie als Bahnwache verwendet. Diese Leute machen den besten Eindruck. In Ismaillia waren am selben Tage (den 7. April) Gefechte gewesen und ich habe zwei indische Verwundete gesehen. Der Panzerzug war unter Dampf und war von Sikhs und ägyptischen Soldaten besetzt.

In Port Said waren ebenfalls eingeborene Truppen, doch befand sich hier der grösste Teil auf der arabischen Seite des Kanals in verschanzten Lagern und in Zelten. Das Lager war umzäunt von Schützengräben mit Bastionen und Artillerie zur Verstärkung.

Ausser indischen und ägyptischen Truppen befinden sich entlang dem Kanal englische Territorials und ausserdem noch in Port Said das Ceylon Contingent. Im ganzen befinden sich am Kanal selbst etwa 20000 auf der afrikanischen und etwa 30000 Mann auf der arabischen Seite. Rein englisches Militär dürfte hier etwa 8000 bis 10000 Mann zählen.

In Cairo und Alexandrien befinden sich ausserdem noch etwa 50000 Mann australische und etwa 10000 Mann neuseeländische Truppen. Sie sind zum Teil in Kasernen, jedoch zum grössten Teil in Zeltlagern bei den Pyramiden und bei Heliopolis untergebracht. Die Leute machen, physisch betrachtet, einen sehr guten Eindruck; sie sind groß und starkknochig gebaut und rotwangig. Dagegen geht ihnen jede Disziplin ab, da sie den Engländer, und damit ihre englischen Offiziere verachten und England beschimpfen. Einige Tage vor meinem Eintreffen in Ägypten, am Karfreitag, fand in Cairo an zwei verschiedenen Stellen eine Meuterei statt. Die australischen Truppen hatten sich zu je 1500 bis 2000 Mann stark ins Bordellviertel und in Heliopolis (dem feinsten Quartier Cairos) zusammengerottet; am ersteren Platze räumten sie die Häuser aus und warfen das Inventar, und in einigen Fällen auch die Bewohnerinnen durch das Fenster auf die Straße, steckten die Möbel und Häuser in Brand, bewarfen die herbeieilende Polizei mit Steinen, die beorderte berittene Polizei und berittenes Militär wurden beschimpft, auf die Offiziere geschossen, etwa 7 getötet und viele verwundet, und der herbeieilende englische Polizeipräsident wurde bei seinen Bemühungen, Ruhe herzustellen, von den Australiern geohrfeigt. In den Restaurants in Heliopolis benahmen sie sich ähnlich. Kurzum, sie waren vollständig außer Rand und Band. Es wurden etwa 50 verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt. Welcher Art die Bestrafung war, entzieht sich meiner Kenntnis. In den englischen Zeitungen stand daß sämtliche Australier in ihre Heimat zurücktransportiert worden wären, ich habe jedoch aus guter Quelle erfahren, dass sie mit ihren Geschützen, Pferden und sämtlicher Bagage nach den Dardanellen eingeschifft wurden und sich dort blutige Köpfe holten. Es war dies vor dem englisch-französischen gemeinsamen Angriff auf die Meerenge. Die Geschütze waren schwarz und gelb getupft, ebenso alle Fuhrwerke.

In Cairo hat diese Gesellschaft schon alsbald nach ihrem Eintreffen noch ganz andere Sachen sich geleistet. Frauen wurden vergewaltigt und Passanten auf der Straße ihres Geldes beraubt. In den Restaurants wurden große Zechen gemacht und die Bedienung, als Bezahlung verlangt wurde, halb zu Tode geprügelt und auf die Straße geworfen. Der kommandierende General sah sich veranlaßt, in den Zeitungen bekannt zu geben, daß er für Schulden seiner Soldaten nicht aufkommen könne. Grund zu oben beschriebenem Aufruhr dürfte wohl die Zurückhaltung der Löhnung seitens der Regierung sein. Die Australier hatten sich freiwillig gemeldet um sich in Frankreich zu amüsieren und nicht um zu kämpfen oder in Ägypten Bahnwache zu gehen, besonders verlockt durch die hohe Löhnung von 6 Schilling pro Tag. In Ägypten wurden ihnen nur 2 Schilling ausbezahlt mit dem Bemerken, dass der Rest für sie aufbewahrt würde. Man verweigerte den Leuten auf ihr Verlangen die vollständige Auszahlung und so veranstalteten sie die oben beschriebene Protestkundgebung. Ein anderer Grund für das Benehmen der Soldaten den wehrlosen Frauen gegenüber, waren die vielen Krankheitsfälle durch Ansteckung. Es waren im ganzen etwa 4000 Leute wegen unheilbarer Ansteckung nach ihrer Heimat zurückgesandt worden und die in Cairo verbliebenen wollten sich an den Weibern dafür rächen, was sie auf die brutalste Art auch taten.

Dass eine solche Truppe, trotz persönlicher Tapferkeit der einzelnen, keinen militärischen Wert hat, hat die Erfahrung an den Dardanellen schon gezeigt.

Ausser den als am Suezkanal befindlichen, schon erwähnten Truppen, befinden sich in Cairo, Alexandrien und anderen Plätzen Ägyptens noch etwa 40000 Mann englische Territorials, die schon zum Teil seit acht Monaten im Land waren, jedoch noch nicht mit ihren Gewehren umzugehen wußten, wie ich selbst zu sehen im Gefangenenlager in Alexandrien und auch in Cairo Gelegenheit hatte. Es sind meistens ganz junge Leute ohne Energie und Schulbildung. Der militärische Wert dieser Truppen kann nicht groß sein.

Ueber die in Ägypten stationierten indischen Truppen habe ich mir sagen lassen, dass sie, mit Ausnahme der Gurkahs, ohne jede Ausdauer sind, was sich bei einer Parade in Port Said offen gezeigt hat. Die Leute hatten etwa eine Stunde nach dem Paradeplatz zu marschieren; schon auf dem Wege dahin machten viele Leute schlapp und bis die Parade vorbei war, soll etwa ein Drittel der ganzen Truppe zurückgeblieben sein. Sie waren durch kein Zureden und Treiben ihrer englischen Offiziere zum Weitergehen zu bringen. Das geschah in der kühlen Jahreszeit des Landes. Wie werden sich die Leute im Juli und August im Gefecht verhalten?

Ueber die französischen Landungstruppen habe ich mir sagen lassen, dass sich darunter die ganze Fremdenlegion, mit Ausnahme der Deutschen, befindet. Außerdem Franzosen jeden Alters, jedoch hauptsächlich junge Leute von 17 bis 20 und alte über 45 bis 60. Ein grosser Teil war farbige Truppen aus dem Senegalgebiet, ferner Algerier und andere. Die Franzosen waren zu Beginn ihres Aufenthalts in Alexandrien noch nicht uniformiert. Die Uniformierten hatten schmutzige Uniformen.

Neben den erwähnten verschiedenen Truppengattungen und Rassen sind noch Sudanneger bewaffnet. Sie sollen türkenfeindlich und englandtreu sein, weil sie in früheren Zeiten von den Türken schlecht behandelt worden sein sollen. Sie werden als tapfer und zuverlässig beschrieben. Doch ihre Zahl soll nicht groß sein. Genaueres konnte ich nicht erfahren. Sie sind hauptsächlich im Sudan stationiert, neben einigen Hundert englischen Soldaten, da man dort einen Einfall der noch unabhängigen und feindlich gesinnten Negervölker befürchtet.

Die Bevölkerung von ganz Ägypten, besonders die im südlichen Teil, ist türkenfreundlich, doch ist sehr große Vorsicht geboten, da die englische Regierung zahllose Spione und Angeber bezahlt.

Während meines Aufenthalts in Cairo wurde auf den von den Engländern eingesetzten Sultan ein Revolverattentat verübt. Der Sultan blieb unverletzt und der Täter wurde verhaftet, vor ein Kriegsgericht gestellt und nach längerer Verhandlung trotz vorzüglicher Verteidigung zum Tode verurteilt. Ich habe die ganzen Kriegsgerichtsverhandlungen gelesen und habe den Eindruck bekommen, dass der Tod des Mannes schon vor Beginn der Verhandlungen eine bestimmte Sache war. Der Täter war ein „Kopte“; also ein „Nichtmohammedaner“ aus einem Dorf in der Nähe Cairos. Er erklärte, keine Reue über die Tat zu empfinden, sondern nur zu bedauern, daß ihm die Tat nicht gelungen sei. Er wüßte jedoch bestimmt, daß sich andere finden, denen das Werk sicher gelingen wird. Er sei ohne jede Mitwisser und er hätte ohne Weisungen anderer, sondern aus sich selbst heraus, diesen Entschluß gefaßt und das Attentat begangen. Das Bezeichnendste bei der Sache ist, dass der Täter ein Christ war.


Berlin, den 19. Mai 1915
Lerch.



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