1915-03-11-DE-005
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Quelle: DE/PA-AA/R 20180
Zentraljournal: 1915-A-9538
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 03/15/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 48
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Gesandte in Sofia (Michahelles) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



No. 48.

Sofia, den 11. März 1915.

1 Anlage

Seit mehreren Wochen werden von der Kaiserlichen Gesandtschaft in Bukarest die größten Anstrengungen gemacht, um einen für die Türkei bestimmten Transport von Munition und Minen bis an die bulgarische Grenze zu bringen; ob es aber gelingt, ist heute noch zweifelhaft. Die Einfuhr von Kriegsmaterial zur See ist infolge der Überwachung des Hafens von Dedeagatsch durch französische Kreuzer gesperrt, die Bahnlinie Belgrad-Zaribrod (bulgarische Grenzstation) ist in serbischen Händen und der Donauweg ist durch die in der Fahrrinne versenkten Schiffe und Minen bei Orsowa unpassierbar geworden; außerdem wird der Fluß durch die Batterien auf dem serbischen Ufer bestrichen. Demnach sind sämtliche Zufuhrwege für Kriegsmaterial heute so gut wie abgeschnitten und dieser Zustand birgt eine große Gefahr für unsere politische Stellung auf dem Balkan. Denn setzen die englischen und französischen Flotten noch einige Wochen ihre Angriffe gegen die Dardanellen fort, so muß der Zeitpunkt eintreten, wo den Türken die Munition ausgeht. Wie mir mein türkischer Kollege sagt, ist man in der Türkei imstande, die Patronen für die Infanteriegewehre im Lande herzustellen, allein Schrapnells und Geschosse für größere Geschütze können nur in beschränktem Umfange angefertigt werden und dann ist noch ihre Qualität minderwertig. Mögen nun die Türken eine Schlacht verlieren oder sonst ihre Operationen ungünstig verlaufen, so werden wir als ihre Bundesgenossen allerdings einen Rückschlag empfinden und darunter zu leiden haben; werden sie aber aus Munitionsmangel verteidigungsunfähig und brechen aus diesem Grunde zusammen, so sind die Folgen für uns viel unheilvoller und schwerwiegender, weil wir bei allen denen, die heute mehr oder minder offen zu uns halten oder doch nicht wagen sich unseren Feinden anzuschließen, das Vertrauen einbüßen, daß wir unsere Verbündeten zu schützen und aufrecht zu erhalten imstande sind. Für einen solchen Fall müssen wir auf einen vollständigen Zusammenbruch unserer Balkanpolitik gefaßt sein; Rumänien und Griechenland werden voraussichtlich gleich zu unseren Gegnern übergehen und auch Bulgarien, das bis heute durch seine wohlwollende Neutralität Rumänen wie Griechen in Schacht hält, wird schwerlich vermocht werden können, in derselben Richtungslinie seiner Politik fortzufahren. Wenigstens möchte ich in dieser Beziehung keinerlei Garantie übernehmen.

Nach den bisherigen Erfahrungen werden wir in Rumänien auf mehr als Neutralität nicht rechnen dürfen und dazu nie die Sicherheit haben, die Transporte von Kriegsmaterial glatt durch das rumänische Gebiet zu bringen. Es bleibt nur übrig, den Weg über Serbien zu bahnen. Ich verstehe vollkommen, daß für Österreich-Ungarn Serbien ein sekundärer Kriegsschauplatz ist, auf dem die Aktion hinter den großen und drängenden Aufgaben auf den galizischen und polnischen Schlachtfeldern zurücktritt und ebenfalls spielt es für uns politisch keine große Rolle, ob Serbien etwas früher oder später gezüchtigt wird. Allein die Transportfrage duldet heute keinen weiteren Aufschub mehr und sie kann in ihren Folgewirkungen für uns zu einer Lebensfrage werden. Sind die erforderlichen Truppen für einen erneuten Feldzug gegen Serbien anderwärts noch nicht abkömmlich, so muß zunächst wenigstens eine Aktion in dem beschränkten Umfang eingeleitet werden, daß das serbische Donauufer von Belgrad bis zur bulgarischen Grenze besetzt und die Sperre in der Donau beseitigt wird, damit der Dampferverkehr von Budapest bis an die bulgarischen Häfen Widdin und Lom Palanka eröffnet werden kann und die österreichischen Monitoren auf dem Fluß die Sicherung gegen weitere russische Transporte übernehmen. Ist erst der freie Verkehr von Deutschland bis nach der Türkei hergestellt, so mag die weitere Frage, in welchem Tempo die Operationen in Serbien fortgesetzt werden, davon abhängen, wie viele Truppen ohne Schwierigkeiten bereitgestellt werden können; in diesem Augenblick wird die serbische Frage in der Tat eine sekundäre werden, denn die Gefahr, daß sie eine Rückwirkung auf die allgemeine Kriegslage ausübt, ist dann beseitigt. Um die Bahnlinie Belgrad-Zaribrod zu beherrschen, werden Operationen von längerer Dauer erforderlich sein und da mit der Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist, daß die Serben auf ihrem Rückzuge die Tunnels sprengen, so kann es geraume Zeit erfordern, bis die Linie für den Zugverkehr passierbar wird.

Die Herstellung des freien Verkehrs auf der Donau wird ferner die Folge haben, daß Bulgarien, sobald es aus Westeuropa beziehen kann, was es braucht, viel leichter zu einer Kooperation mit österreichisch-ungarischen und deutschen Kräften heranzuziehen sein wird und dadurch zu unserer Entlastung beiträgt, während ihm nicht zugemutet werden darf, allein gegen Serbien vorzugehen und sich dadurch einem Angriff Griechenlands und Rumäniens auszusetzen.

Über die Zustände in Serbien sind kürzlich durch die von dort zurückgekehrten Ärzte der Rote-Kreuz-Expeditionen zuverlässige Nachrichten hierher gelangt und ich gestatte mir anbei ein Interview des holländischen Arztes Dr. van Tienhoven einzureichen, das in „Echo de Bulgarie“ erschienen ist. Danach herrscht ein namenloses Elend im Lande und dies wird durch briefliche Mitteilungen bestätigt, die dem hiesigen russischen Arzte Dr. Tranjen zugegangen sind. Der Flecktyphus fordert in Serbien an 1000 Opfer täglich und in der Hauptstadt Nisch sterben jeden Tag 150 - 160 Menschen unter Soldaten und Zivilbevölkerung. Dem Dr. Tranjen war geschrieben, es würden im Volke schon Äußerungen laut: wenn doch die Österreicher oder selbst die Bulgaren kämen, damit der unerträglichen Lage ein Ende gemacht wird. Es würde indes verfehlt sein, daraus zu schließen, daß die serbische Armee, soweit sie noch intakt ist, keinen ernsthaften Widerstand mehr leisten dürfte, sie wird sich vielmehr aller Voraussicht nach tapfer schlagen, wo sie für ihr Vaterland und dessen politische Existenz kämpft. Allein in der Bevölkerung scheint ein solcher Grad von Kriegsmüdigkeit und Hoffnungslosigkeit eingetreten zu sein, daß in ihr das Heer bei aller seiner Tapferkeit nicht mehr den genügenden Rückhalt und die moralische Unterstützung findet, die es allein befähigen, den Anstrengungen und Anforderungen eines neuen Feldzuges auf längere Dauer gewachsen zu sein.


Michahelles
Anlage

Militär-Bericht Nr. 81.

Sofia, den 11. März 1915.

Abschrift.

Die anliegende Nummer des Echo de Bulgarie gibt Einzelheiten über den Gesundheitszustand in Serbien. Aus dem Artikel: „La Serbie agonisante“ geht zweifellos hervor, dass Typhus und Flecktyphus dort eine weite Verbreitung gefunden haben.

Einer Agentennachricht zufolge befanden sich am 3. März in den Militärhospitälern 3964 an Flecktyphus und 6996 an gewöhnlichem Typhus erkrankte Soldaten. In der Zivilbevölkerung soll der Gesundheitszustand ein noch schlechterer sein. Angeblich sind bisher, demselben Agenten zufolge, gegen 200 Aerzte gestorben.

Hervorzuheben ist aus dem Artikel noch, dass dank der Zufuhren über Salonik und auf der Donau, kein Mangel an Nahrungsmitteln in Serbien herrscht. Der Geist der Armee soll noch gut sein.

Andererseits wird von Agenten gemeldet, dass in Kragujevac kürzlich eine ernste Meuterei stattgefunden habe, dass die zeitweilig beurlaubten Soldaten sich weigern, zu den Fahnen zurückzukehren und sich in Florina auf griechischem Boden bereits 7000 serbische Deserteure befinden.

Alles in allem genommen ist die Widerstandskraft Serbiens ohne Zweifel im Sinken begriffen. Daher dürfte ein mit genügenden Kräften unternommener Angriff zu einem schnellen Erfolge und damit zu der für Bulgarien und die Türkei so notwendigen Oeffnung der direkten Verbindung mit den Zentralmächten führen. Die Gefahr, dass die heute noch neutralen Balkanstaaten sich doch noch der Triple-Entente anschliessen, wäre dann ebenso endgültig beseitigt, wie diejenige eines Zusammenbruchs der Türkei. Der Anschluss Bulgariens an uns könnte als sicher betrachtet werden.


[Frhr. von der Goltz
Major und Militär-Attaché.]

An das Kriegsministerium Berlin.



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