1913-05-28-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 14079
Zentraljournal: 1913-A-10951
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Telegramm-Abgang: 05/28/1913
Praesentatsdatum: 05/31/1913 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 341
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Geschäftsträger der Botschaft London (Kühlmann) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


London, den 28. Mai 1913

Die Frage nach der Zukunft des türkischen Reiches, das von nun an seinen Schwerpunkt in Asien haben wird, wirft ihre Schatten schon in die schwebenden Besprechungen über den Friedensschluß. Von allen Gefahren, die der asiatischen Türkei drohen, ist die aus den armenischen Verhältnissen entspringende bei weitem die dringendste.

Die Armenier, ein hochbegabtes, aber unruhiges Volk, das, nicht unähnlich den Juden, handeltreibend sich über den größten Teil der bewohnten Erde ausgebreitet hat, lebten ursprünglich mit den kriegerischen und grausamen Kurden in einer Art Lehen und Schutzverhältnis, bei dem relative Sicherheit für Leben und Eigentum durch ständige Abgaben erkauft wurde. Die rege, insbesondere von Amerikanern geleitete Missionstätigkeit, welche durch zahlreiche Schulen und Anstalten eine junge, mit westlichen Ideen und Bestrebungen erfüllte Jugend herangezogen hatte, ist sicher für die bedrohliche Unrast der heutigen Armenier mit verantwortlich, wenn auch nicht zu leugnen ist, daß die Armenier von den Kurden häufig schweres Ungemach zu erdulden haben. Die große Schwierigkeit des armenischen Problems liegt vor allem in der Geographie und der Verteilung des armenischen Volkes. Schon jetzt sind die Gebiete, die man als armenisch bezeichnen kann, zwischen drei Reichen geteilt: der Türkei, Persien und dem russ. Kaukasus. In der öffentlichen Diskussion wird immer nur von den türkischen Armeniern gesprochen. Es wäre aber durchaus falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß es mit den russischen Armeniern sehr glatt gehe. Jeder, der die Verhältnisse in den kaukasischen Gouvernements auch nur einigermaßen studiert hat, weiß, daß das armenische Element sich dort in ständiger Gärung befindet, die besten Kerntruppen zu allen räuberischen und revolutionären Unternehmungen liefert und nur mit eiserner Faust niedergehalten wird. Ein großer Teil der an der persischen Revolution beteiligten Freischärler waren solche kaukasische Armenier.

All die unzähligen Pläne für die Verbesserung des Loses der türkischen Armenier scheitern daran, daß nirgends in türkisch Asien, selbst nicht in den gewöhnlich als armenisch bezeichneten Wilajets, sie auch nur annähernd die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Als armenisch gelten gewöhnlich die Wilajets von Wan, Diarbekir, Bitlis und Mamuret. In diesen kommen in Wan auf 424000 Muselmänner, Griechen und Christen 81000 Armenier; sie bilden 1/5 der Bevölkerung. In Diarbekir bilden sie mit 79000 unter 463000 Angehörigen anderer Stämme 1/6, in Bitlis mit 131000 1/3 und in Mamuret mit 70000 1/8 der nichtarmenischen Bevölkerung (diese Ziffern sind armenischen Quellen entnommen und sicher eher zu hoch als zu niedrig gegriffen). Auf die ungefähr 14500000 betragende Gesamteinwohnerzahl der kleinasiatischen und syrischen Wilajets kommen im ganzen etwa 1200000 Armenier. Es ergibt sich also, daß selbst da, wo sie am dichtesten wohnen, sie nicht 1/3 der Bevölkerung ausmachen, in den anderen Bezirken aber nur eine relativ kleine Minderheit. Dies läßt den Ausblick für erhebliche Reformaktionen nicht sehr hoffnungsvoll erscheinen.

Herr Paul Cambon hat, als er noch Botschafter in Konstantinopel war, am 20. Februar 1894 einen noch immer in hohem Grade lesenswerten, zusammenfassenden Bericht über die gesamte armenische Frage verfaßt, der zu der melancholischen Schlußfolgerung gelangt: es gibt keine Lösung der armenischen Frage (Gelbbuch Affaires améniennes 1893/97, Seite 11).

Was der armenischen Frage eine erhöhte internationale Bedeutung gibt, ist der Umstand, daß die Türkei für kleinasiatische Wilajets, vor allem die armenischen, englische Beamte und Reformer erbeten und guten Vernehmen nach auch zugesagt erhalten hat. Die einzige Großmacht, die von Unruhen in Armenien unmittelbar Nutzen ziehen könnte, ist Rußland, und ein russischer Einmarsch in armenisches Gebiet unter dem Vorwande gefährlicher Unruhen war eine Möglichkeit, mit der jederzeit gerechnet werden mußte. Niemand weiß dies besser als die durchschnittlich recht gut unterrichtete englische Regierung. Andererseits liegt es auf der Hand, daß mit der Entsendung englischer Reformatoren in großem Umfange England für die Erhaltung der asiatischen Türkei eine große moralische Verantwortung übernimmt, die seinerzeit auch die Möglichkeit von Konflikten mit Rußland in sich birgt. Die offizielle russische Politik setzt sich ja ebenso wie die englische für die Erhaltung des Status quo in der asiatischen Türkei ein, aber die gerade in der russischen Politik besonders häufigen mächtigen Unterströmungen werden sicher früher oder später eine Politik der Ausdehnung in türkisch Armenien befürworten. Englische Instruktoren, welche sich auch auf die etwa 70000 Seelen betragenden, englischamerikanisch erzogenen armenischen Protestanten stützen können, bilden da einen starken Wall gegen russisches Vorgehen. Von diesem Gesichtspunkte aus hat die Entsendung englischer Reformer in die kleinasiatische Verwaltung der Türkei symptomatische Bedeutung. Es ist sehr gut denkbar, daß neben der nur zeitweise ruhenden persischen Frage auch die armenische zu einer englischrussischen Reibungsfläche werden könnte. Die Zahl der Freunde der russischen Entente ist nicht im Zunehmen begriffen. Deshalb verdient jedes Symptom doppelte Beachtung, das darauf hindeutet, daß die Periode des bedingungslosen dauernden Zurückweichens vor Rußland in Asien sich vielleicht ihrem Ende nähert.


Kühlmann


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