Magisches Viereck
Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien
Es war ein Unterfangen von Seltenheitswert. Erstmals öffnete eine Regierung nur wenige Monate nach Abschluß des Krieges ihre offiziellen Archive zu einem der furchtbarsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts - dem Völkermord an den Armenier im Osmanischen Reich 1915 bis 1918. Kein westliches Land konnte mehr zur Aufklärung des Menschheitsverbrechens beitragen als das mit der Türkei verbündete Kaiserreich, denn deutsche Militärs waren in allen militärischen Organisationen der Türkei in Spitzenpositionen vertreten, deutsche Diplomaten hatten zum Teil engen Kontakt zu den Verantwortlichen und noch am ehesten Zutritt zu den Orten des Grauens. Anders als die ebenfalls verbündeten Österreicher und die neutralen Amerikaner konnten die deutschen Diplomaten verschlüsselt per Drahtfunk an ihre Vorgesetzten berichten. Wenn nicht-türkische Dokumente Aufschluß über Ausmaß und Hintergründe des Völkermords geben konnten, dann in erster Linie die deutschen.
Pfarrer Johannes Lepsius war zweifellos derjenige Deutsche, der am meisten über die Armenier wußte. Denn er hatte sich seit den Massakern des Sultans Abdul Hamid an den Armeniern Ende des 19. Jahrhunderts vehement für sie eingesetzt. Ohne Lepsius hätte die deutsche Öffentlichkeit nur wenig von den Ungeheuerlichkeiten erfahren, die die Armenier erst im befreundeten, dann sogar verbündeten Osmanischen Reich zu erleiden hatten. Und bis heute gelten im deutschen Sprachbereich seine Schriften über die Tragödien der Armenier als die wichtigsten.
Es war in Deutschland hauptsächlich Lepsius, der mit seinem im September 1896 erschienenem Buch “Armenien und Europa” die hamidischen Massaker publik machte. Sehr schnell erschienen auch eine französische und eine englische Ausgabe des Werks. Noch berühmter wurde Lepsius mit seinem “Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei”, den er 1916, mitten im Krieg also und in einem von einer rigorosen Pressezensur hermetisch von Informationen abgeriegeltem Kaiserreich, in hoher Auflage (20000 Druckexemplare) an die protestantischen Pfarrämter verteilte. Darin schilderte Lepsius aufgrund eigener Recherchen in Sofia und besonders Konstantinopel, wie Istanbul damals offiziell noch hieß, den “Todesgang des armenischen Volkes” (so der Titel der Buchveröffentlichung nach Kriegsende), den 1915 begonnenen Völkermord an den Armeniern des Osmanischen Reichs.
Dem hohen Ansehen der Person von Johannes Lepsius ist es wohl zu verdanken, daß die Authentizität der in “Deutschland und Armenien” veröffentlichten 444 Dokumente lange Zeit von niemandem angezweifelt worden ist. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Akten des Auswärtigen Amts den Weltkriegs-Forschern zur Verfügung gestellt wurden, entdeckten einige der wenigen Gelehrten auf dem Gebiet des Völkermords, daß die von Lepsius veröffentlichten Akten nicht vollständig sind. Einzig der bedeutende Genozid-Forscher Vahakn N. Dadrian hat bislang versucht, die Vorgänge zu rekonstruieren, doch lagen ihm noch nicht die Bestände des Lepsius-Archivs vor3.
Erst der systematische Vergleich der von Lepsius veröffentlichten Dokumente mit den Originalen des Auswärtigen Amts4 ergab, daß es eine ganze Reihe von Verkürzungen oder auch Fälschungen gab und daß vor allem die Auslassungen Methode hatten: Systematisch wurden wichtige Hinweise auf die Politik des Deutschen Reichs in Sachen Völkermord, eine deutsche Mitverantwortung sowie eine Beteiligung beispielsweise deutscher Offiziere an Repressionen gegen die Armenier unterdrückt. Auch waren die Namen wichtiger türkischer Beteiligter am Völkermord in der Regel ausgelassen worden.
Bis heute hat niemand die Hintergründe dieser Veränderungen und Manipulationen untersucht. Rein formal sind sie Lepsius zuzuschreiben, denn er übernahm im Vorwort ausdrücklich die volle Verantwortung für den Inhalt seines Buches. Und Lepsius hat oft darauf hingewiesen, daß er völlig unabhängig vom Auswärtigen Amt gewesen sei und volle Freiheit bei der Auswahl der Akten hatte. Doch entsprach das den Tatsachen?
Der im Auswärtigen Amt über die Herausgabe der Akten in “Deutschland und Armenien” erhaltene Schriftwechsel mit Lepsius ist ungewöhnlich dürftig. Aus ihm geht nicht hervor, daß Änderungen vorgenommen worden sind und wer für sie verantwortlich ist. Mehr ist über die Hintergründe in der 1999 von Theologie-Professor Hermann Goltz herausgegebenen Mikrofiche-Edition des Lepsius-Nachlasses zu finden, den Goltz verwaltet5. Aber auch dort gibt es keinen Schriftwechsel, der direkt über die eigentlichen Manipulationen Auskunft gibt.
So ist die Rekonstruktion der Manipulationen nur durch ein Puzzle möglich. Tatsächlich gibt es genügend Steinchen, um die damaligen Vorgänge einigermaßen zuverlässig nachzuzeichnen - mit einem erstaunlichen Ergebnis: Nicht Lepsius hat die Dokumente manipuliert, sondern das Auswärtige Amt. Noch erstaunlicher: Lepsius hat - fast - nichts davon gemerkt. Denn jener Mann, der immer wieder die Wissenschaftlichkeit seiner historischen Forschung herausstellte, hat bei der Herausgabe der Akten die Hauptregeln einer Quellenedition mißachtet.
Von Seiten des Auswärtigen Amts war alles geschehen, die Spuren der Manipulationen zu verwischen. In den AA-Akten findet sich eine kurze handschriftliche Notiz des nach Berlin zurückgekehrten früheren kaiserlichen Konsuls in Aleppo, Walter Rößler. Der hatte am 26. Mai 1919 verfügt: ”Die beifolgenden Materialien zur Herausgabe des Buches Deutschland und Armenien, herausgegeben von Dr. Johannes Lepsius, sind aufzubewahren.” Darüberhinaus hatte Rößler angeordnet, daß diese Materialien nach einem Jahr dem Geheimen Legationsrat Göppert wieder vorzulegen seien für die Entscheidung ”ob zu vernichten. Es sind viele Zifferntelegramme darunter”6.
Wie sich das für eine ordentliche Behörde gehört, wurden nach einem Jahr die Materialien wieder vorgelegt. Der bearbeitende Beamte - Göppert war inzwischen Gesandter in Helsingfors, dem damaligen schwedischen Namen für Helsinki - kontaktierte Lepsius und notierte: ”Die beiliegenden Materialien werden nach Angabe des Dr. Lepsius nicht mehr benötigt”. Sodann traf er folgende Verfügung: “1. Das Zentralbüro wolle die Materialien noch einmal daraufhin durchsehen, ob sich keine Urschriften darunter befinden. 2. etwa vorhandene Urschriften sind zu den Akten zu bringen. 3. der Rest ist durch Feuer zu vernichten.” Der Beamte Walter Bölsing von der Geheimen Registratur meldete kurze Zeit drauf Vollzug: ”Dieses Material ist laut Verfügung vom 18. VI. 20. verbrannt worden.”
Die Unterlagen der einzigen quasi-offiziellen Aktenpublikation des Auswärtigen Amts über den Ersten Weltkrieg wurden nur ein Jahr nach der Veröffentlichung der Dokumente verbrannt – ein ungewöhnlicher Vorgang in einer Behörde, die sehr behutsam mit wichtigen Schriftstücken umzugehen gewohnt ist.
Um die Hintergründe der Manipulationen aufzuklären, müssen einige Hintergründe des politischen Lebens des Johannes Lepsius im Ersten Weltkrieg kurz erzählt werden.
Gleich nach der Veröffentlichung seines Berichts über die Lage des armenischen Volks in der Türkei war Lepsius nach Holland ins Exil gegangen. Die quasi offizielle Version ist, daß er in die neutralen Niederlande geflohen sei, um Nachstellungen der deutschen Polizei zu entgehen. “Freunde warnten ihn”, schrieb Lepsius-Nachlaßverwalter Hermann Goltz, “daß ihm Schutzhaft drohe. Bevor man ihm seine Papiere abnehmen konnte, setzte er sich, noch im Sommer 1916, nach Holland ab ... und ließ später seine Familie dorthin nachkommen. Trotz eindringlicher Mahnungen deutscher Regierungsstellen steht er auch im holländischen Exil, das nach außen nur durch seine stark angeschlagene Gesundheit begründet wird, bald wieder in Verbindung mit vielen Armeniern und proarmenischen Organisationen. Er inspiriert in Holland und Skandinavien viele proarmenische Aktionen”7. Auch in der neuesten Veröffentlichung über Lepsius gibt Goltz diese Version wieder. Nach der Konfiszierung der letzten Exemplare seiner Armenier-Schrift, schreibt er, “weicht Lepsius, kurz bevor ihm sein Paß abgenommen werden sollte, in die Niederlande aus und kämpft von dort weiter gegen die vollständige Vernichtung des armenischen Volkes.”8 Das ist die gängige Version vom Hollandaufenthalt des Armenier-Freunds Lepsius.
Es gibt aber noch eine andere, weniger bekannte. Und eine unbekannte. Über die weniger bekannte schreibt der Kirchenhistoriker Uwe Feigel in seiner auch als Buch erschienenen Dissertation, Lepsius sei in Holland auch für die deutsche Regierung tätig gewesen. Feigl: “So wertete er im Auftrag des Auswärtigen Amts die holländische und britische Presse auf Signale der Friedensbereitschaft hin aus”.9
Doch auch das war nur die halbe Wahrheit. Wofür Lepsius hauptsächlich in Holland gearbeitet hatte, verheimlichte er praktisch sein Leben lang. Erst im letzten Artikel in seiner eigenen Zeitschrift “Der Orient” sprach er darüber. Zum Verständnis dieser Beichte ist wichtig zu wissen, daß Lepsius am 25. Juni 1917, als er bereits in Holland lebte, aus seiner noch im 19. Jahrhundert gegründeten Organisation “Deutsche Orient-Mission” ausgetreten war, weil es Meinungsverschiedenheiten mit dem Kuratorium gab. Am meisten hatte Lepsius dabei geärgert, wie er in einem Brief an seinen Vetter Paul Wigand schrieb, daß ihn sein Gegenspieler Superintendent Walter Roedenbeck “als einen fahnenflüchtigen Landesverräter hinzustellen versucht” habe10.
“Bald nach meinem Ausscheiden aus meiner alten Mission wurde mir von einem Kreis politischer Freunde angetragen”, so Lepsius im Orient-Artikel11, “in Holland zu bleiben und fortlaufend über die holländische und englische Presse Bericht zu erstatten. Daß ich dadurch vaterländischen Interessen diente, ergibt sich daraus, daß ich während meines dreijährigen Aufenthalts in Holland täglich für ‚die militärische Stelle des Auswärtigen Amtes’ Presseberichte erstattete, die durch den Botschaftskurier vom Haag nach Berlin gesandt wurden. Gegenüber dieser Tatsache wirkt es etwas komisch, wenn ich gleichzeitig von Superintendent R., der meine Arbeit zu sabotieren versuchte, verdächtigt wurde, ein Vaterlandsverräter zu sein”.
Erstaunlich, daß dieser relativ genaue Hinweis für die Mitarbeit in einer militärischen Stelle des AA von der Lepsius-Forschung nicht zur Kenntnis genommen wurde. Nur einer war sogleich nach Erscheinen des Artikels auf diese Enthüllungen angesprungen: der Armenier Armenag S. Baronigian, mit dem sich Lepsius zum Schluß seines Lebens heftig befehdete. “Bei seinem Aufenthalt in Holland während des Krieges”, schrieb Baronigian, “hat sich Dr. Lepsius in den Dienst der Deutschen Regierung gestellt und hat im buchstäblichen Sinne des Wortes Spionagedienste geleistet, indem er das Gastrecht des neutralen Holland dahingehend missbrauchte, um der deutschen Marine und Militärverwaltung tagtäglich über die feindlichen Heere und Flotten zu berichten und diese Berichte durch den deutschen Botschafter nach Berlin sandte.”12
Diesen verbalen Angriff hatte Lepsius selbst nicht mehr erlebt, weil er inzwischen gestorben war. Die Familie war so empört über die vermeintliche Unterstellung Baronigian’s, daß sie sofort an einen Prozeß dachte und zur Reinwaschung von Johannes Lepsius das Zeugnis des Auswärtigen Amts einholen wollte. Noch viele Jahre später, 1933, sprach Bruder und Nachfolger Bernhard Lepsius von “denunziatorischen Spionagebehauptungen gegen einen Vertrauensmann des A.A.”13. Dem Prozeßbegehren hatte sich schon zwei Jahre zuvor der langjährige Sekretär von Johannes Lepsius, Richard Schäfer, widersetzt. In seinem Brief an die Lepsius-Witwe Alice befand sich ein sibyllinischer Satz, den die Empfängerin - oder ihre Mitleser - nicht verstand, weshalb sie ihn unterstrich und mit einem Fragezeichen versah: “Man soll sich dabei über die holländischen Aufträge als ganz unorientiert zeigen”14.
Schäfer war nämlich einer der ganz wenigen, der genau wußte, worin die “holländischen Aufträge” bestanden. Lepsius selbst hat sie 1920 in einem Privat-Brief an seinen alten Weggefährten Adolf Deißmann präzisiert, der den inzwischen verstorbenen Roedenbeck quasi vertrat. Lepsius wollte seine alte Orient-Mission wiedererwerben und mußte deshalb seine früheren Gründe für die Trennung von der Orient-Mission erklären. “Ich war damals nicht in der Lage”, schrieb er an Deißmann, “da ich mich durch ein Versprechen gebunden hatte, über die Art meiner Tätigkeit im vaterländischen Dienst, die mich in Holland festhielt, Aufschluß zu geben. Während der drei Jahre, die ich in Holland mit meiner Familie verlebte, habe ich im Auftrag politischer Freunde einen Nachrichtendienst über die holländische und englische Presse (die dort trotz des englischen Ausfuhrverbots zugänglich war), eingerichtet und durch fast tägliche Sendungen mittels des Kuriers der Deutschen Botschaft unterhalten, denn die Nachrichten waren bestimmt für die militärische Stelle des Auswärtigen Amts d.h. für den damaligen Oberst jetzt Generalmajor von Haeften, dem Vertreter Ludendorffs im Auswärtigen Amt. Ich konnte in meiner Abwehr gegen die Verdächtigungen von Sup. Roedenbeck diesen Umstand nicht ins Feld führen und wünsche auch in Zukunft keinen öffentlichen Gebrauch davon zu machen.”15
Hans von Haeften war Ludendorffs Mann für die psychologische Kriegsführung. Er hatte die Aufgabe, den geplanten Endsieg im Westen mit geistigen Waffen vorzubereiten, weil es der Führung dämmerte, daß die materiellen Ressourcen für einen militärischen Sieg vielleicht nicht ausreichten. Der Weltkriegs-I-Historiker Fritz Fischer zitiert aus Haeftens Zielplanung: “England im Felde zu schlagen und gleichzeitig diesen Schlag zu einem Zusammenbruch des englischen Kriegsbetriebs, auch in der Heimat (sich) auswirken zu lassen.”16 Haeften, so Fischer, “war nicht an einem Frieden schlechthin interessiert, sondern nur an einem Frieden nach deutschen Bedingungen”. Lepsius fiel in diesem Konzept die Aufgabe zu, die Regierungspartei besonders in England zu schwächen, indem die Opposition, zu der Lepsius Zugang zu haben glaubte, gestärkt werden würde.
Zwei Seelen wohnten seit langem in der Brust des Johannes Lepsius: eine armenische und eine deutsche. Die eine galt dem christlich-armenischen Volk, die andere vornehmlich dem deutschen Kaiser, den Lepsius für einen großen Pazifisten hielt und bewunderte. Wann immer er konnte, versuchte Lepsius beide Lieben miteinander auszusöhnen. Im Weltkrieg aber kam es zum Konflikt: Die sich mit Deutschland besonders auf Drängen des Kaisers verbündeten Türken hatten die Armenier massakriert, und Deutsche hatten das zumindest zugelassen, wenn sie nicht, wie Entente-Politiker behaupteten, sogar die Deportationen angeregt hatten.
Je mehr sich die militärische und politische Lage zuungunsten des Kaiserreichs entwickelte, desto mehr rückte für Lepsius zum Kriegsende die Frage einer deutschen Schuld am Kriegsausbruch allgemein und speziell einer deutschen Mitschuld am Völkermord an den Armeniern in den Vordergrund. Denn dem durch Kontakte und Presse bestens informierten Armenier-Freund waren die hauptsächlich in französischen und englischen Zeitungen verbreiteten Anschuldigungen durchaus bekannt.
Daß Johannes Lepsius für einen Nachrichtendienst des Ludendorff-Vertrauten zum Wohl des Kaiserreichs an einem Siegfrieden für Deutschland arbeitete, war nicht nur einem Teil der Familie verborgen geblieben. Auch Spitzenbeamte des damaligen Auswärtigen Amts waren offensichtlich lange Zeit nicht in die Geheimdiensttätigkeit des Armenier-Freundes eingeweiht. Ende Oktober 1916 beschwerte sich der Chef des Admiralstabs der Marine, Henning von Holtzendorff, beim Reichskanzler, Lepsius würde sich in Holland politisch betätigen und dabei sich auf den Reichskanzler berufen, dessen Partei Gewicht bekommen habe, weil sie die Partei Hindenburgs geworden sei. Deutschland schlage vor, verbreitet Lepsius, “sich auf Kosten der Türkei mit England zu verständigen”.17 Die Agitationen von Lepsius, so daraufhin AA-Chef Gottfried von Jagow, würden “vom Reichskanzler und vom Auswärtigen Amt aufs Schärfste mißbilligt”. Und die angebliche Idee von Lepsius, auf Kosten der Türkei eine Verständigung mit England anzubahnen, nannte Jagow in seiner Antwort “grotesk”. Dem Gesandten Friedrich von Rosen im Haag legte Jagow sogar nahe, die niederländische Regierung zu veranlassen, Lepsius “nach Deutschland abzuschieben”.18
Einer freilich wußte offenbar schon länger von der wahren Rolle des Johannes Lepsius: der spätere Außenminister Wilhelm Heinrich Solf. Schon während des Krieges hatte sich Lepsius mit ihm getroffen. Für den Orientalisten und Indologen Solf war Lepsius wegen seiner Kontakte zu den westlich orientierten Armeniern ein höchst wichtiger Gesprächspartner. Als der langjährige Leiter des Reichskolonialamts im Oktober 1918 zum Staatssekretär des Äußeren aufstieg und die Waffenstillstandsverhandlungen leitete, wurde er für Lepsius zum Schlüsselmann im Auswärtigen Amt.
Neun Tage nach dem Waffenstillstand, am 20. November 1918, schrieb Lepsius an Solf einen Brief, in dem er sich als ”Delegierter für Fragen des Orients, speciell für Armenien” für die Friedensverhandlungen in Paris anbot: ”Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, dass ich nahezu der einzige Deutsche bin, der auch jetzt noch das volle Vertrauen des armenischen Volkes und seiner Führer, der türkischen sowohl als auch der Kaukasischen, besitzt”. ”Antrag ist ernstlich zu prüfen”, schrieb Solf an das Schreiben, ”Lepsius gilt im Ausland!”19.
Zwar wurde es nichts mit der Beraterrolle bei den Friedensverhandlungen, doch Solf und Lepsius wurden sich schnell über ein anderes Projekt einig. Schon im Herbst hatte sich Lepsius nach eigenem Bekunden an Solf gewandt, “mit der Bitte, mir Einblick in die Akten zu gewähren, um den ungeheuerlichen Verleumdungen entgegenzutreten zu können, die in der ganzen Presse des feindlichen und neutralen Auslandes nicht nur kolportiert sondern aufrichtig geglaubt wurden, als habe die deutsche Regierung die Vernichtung des armenischen Volkes der türkischen Regierung befohlen und mit Hilfe deutscher Konsuln, hoher und höchster Offiziere mit deutscher Gründlichkeit organisiert und in Ausführung gebracht. Diese Verleumdungen wurden darum geglaubt, weil sie von türkischer Seite zur Entlastung der eigenen Regierung verbreitet worden waren. Als ich im November nach Berlin zurückkehrte, gab mir Dr. Solf Einblick in die Akten und sprach von seiner Absicht, ein Weißbuch über die Armenische Frage herauszugeben. Schon am nächsten Tage ließ er mir sagen, daß er von der Veröffentlichung eines Weißbuches absehen würde, wenn ich selbst die Aufgabe übernehmen würde, die Haltung Deutschlands in der armenischen Frage aufgrund des Aktenmaterials klarzustellen. Ich nahm das Anerbieten an”.20
Das erwähnte Weißbuch hatte Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann bereits Ende 1915 in Auftrag gegeben mit der Vorgabe, die Deutschen von jeder Mitschuld reinzuwaschen. Daraufhin verfaßte der Jungdiplomat in Konstantinopel und spätere Botschafter in Paris und London, Leopold Gustav Alexander von Hoesch, eine umfangreiche Verteidigungsschrift, die freilich niemals erschien. Denn weit wertvoller als ein Pamphlet, das von der Entente ohnehin nur als Propaganda abgetan worden wäre, war es nun, einen Mann wie Lepsius mit seiner internationalen Reputation als Herausgeber einer Dokumentation zu gewinnen, die dokumentarisch belegen sollte, daß Deutschland keine Mitschuld trifft.
Lepsius habe den Auftrag erhalten, notierte der Legationsrat Otto Göppert am 14. Dezember 1918, “das Aktenmaterial über die Haltung der deutschen Regierung in der Armenierfrage zu veröffentlichen”. Einige Dokumente wolle er “in einer Vorrede zu seiner Schrift über die Armenierverfolgungen” abdrucken. Dann solle “eine Zusammenstellung von Aktenstücken ohne begleitenden Text folgen”21.
Das Auswärtige Amt hatte für das Dokumentenwerk eine eindeutige politische Zielvorgabe: Es sollte Deutschlands Ausgangslage bei den anstehenden Friedensverhandlungen in Paris, die schließlich in den Versailler Verträgen endeten, in einem für Deutschland günstigen Sinn beeinflussen. Auch Lepsius war klar, daß sein Werk in erster Linie der politischen Werbung dienen müsse. “Der grössere Teil ist ja zur Verbreitung zu Propagandazwecken bestimmt” schrieb Lepsius-Sekretär Richard Schäfer im Juni 1919 über die Verwendung der gedruckten Bände22. Für das Auswärtige Amt sollte die “Frage der deutschen Schuld”, wie Göppert sie nannte23, genauer ihre Zurückweisung durch die von Lepsius zu veröffentlichen Dokumente, der Hauptzweck der Veröffentlichung “Deutschland und Armenien” sein. Das sah auch Lepsius so. Er habe den Grundsatz befolgt, schrieb er später, “bei der Auswahl nur den Zweck der Entlastung Deutschlands von türkischen und internationalen Verleumdungen im Auge [zu] behalten”24.
Ging es Göppert und dem Amt ausschließlich darum, eine eventuelle deutsche Mitverantwortung oder Mitschuld zu vertuschen, verfolgte Lepsius als weiteres Ziel - vielleicht sogar sein Hauptziel -, die Faktizität des Völkermords an den Armeniern in den Vordergrund zu stellen, indem er die zum Teil sehr präzisen Berichte deutscher Diplomaten und Augenzeugen veröffentlichen wollte. Über die Auswahl der Texte kam es deshalb immer wieder zum Streit zwischen dem Amt und Lepsius.
“Hätte ich nicht von der Solf’schen Erlaubnis rücksichtslosen Gebrauch gemacht”, beschwerte sich Lepsius in einem Brief an politische Freunde über Göppert, “wäre nicht die Hälfte der wichtigen Aktenstücke ans Licht gekommen. Der betreffende Geheimrat, mit dem ich anstandshalber auf gutem Fuss blieb, versuchte immer, mir die Rosinen aus dem Kuchen herauszupolken, denn er wollte immer noch bei den Türken einen Stein im Brett behalten, die Hauptmissetäter schonen und auch das türkische Ungeziefer aus der Perücke der Botschafter herauskämmen.”25 In “Deutschland und Armenien” habe Lepsius, nach den Worten von Göppert, “unsere Verteidigung ohne Rücksicht auf die Türken geführt”26. Lepsius selbst beschrieb seine Aufgabe in dem Brief so: “Es war eine Kunst zwischen den vier Fronten, Entlastung Deutschlands, Belastung der Türkei, Reservebedürftigkeit des Amtes und Vertrauensgewinnung der Armenier”27.
Dabei mußte er zwangläufig die Schuld der Türken aufdecken, denn, so Lepsius, “es war selbstverständlich nicht möglich, die Mitschuld Deutschlands an den notorischen Massenmorden von Männern, Frauen und Kindern restlos zu entkräften und zugleich die Vorgänge selbst mit dem Schleier der Liebe zu bedecken.”28 Das Ergebnis seiner Arbeit sah Lepsius einigermaßen positiv. “Der temperamentvolle Metternich und die braven Konsuln, die sich nicht damit begnügten den Registrierapparat von Massacres zu bedienen”, schrieb er, “sondern auch menschliche Töne hören liessen, reissen so die Sache vor dem Gewissen der Menschheit, soweit als möglich heraus. Sogar unsere Militärs kommen noch zu Ehren.” Allerdings mußte auch Lepsius eingestehen: “Alles in allem bleibt das Ergebnis dennoch grauenhaft.”29
Ein grauenhaftes und dabei sehr genaues Bild zeichnete Lepsius in der Tat in “Deutschland und Armenien” nur vom eigentlichen Völkermord 1915/16, denn darin kannte er sich aufgrund seiner eigenen Recherchen bestens aus. Und er hatte in Walter Rößler, dem früheren Konsul in Aleppo, einen Zuarbeiter, der ebenfalls ein großes Interesse daran hatte, die historische Wahrheit an den Tag zu bringen, die er während seiner Zeit in der Türkei immer wieder dokumentierte hatte, ohne Echo bei seinen Vorgesetzten in Berlin. Aber in “Deutschland und Armenien” spielt auch der Kaukasus eine - wenn auch weniger wichtige - Rolle. Über die Vorgänge dort – besonders im letzten Kriegsjahr - war Lepsius kaum informiert. So war es für das Auswärtige Amt ein Leichtes, ihn mit ausgewählten Dokument-Passagen in die Irre zu führen, mit Texten, nach denen sich Deutschland aus humanitären Gründen nun der Armenier annahm, selbst auf die Gefahr von Zusammenstößen mit den türkischen Verbündeten. In Wahrheit verfolgte das Reich im Kaukasus eine knallharte Wirtschafts- und Militärpolitik. Hauptziel war der Zugriff auf die Rohstoffe der Region, besonders das Erdöl von Baku, sowie ein Heeres-Korridor durch Persien ins Herz des britischen Weltreichs – Indien. Und in Verfolgung dieses Ziels nahm die Reichsleitung auch Scharmützel mit den Türken inkauf. Oft nur aus Nebenaspekten bastelten Göppert & Co für das Aktenwerk eine scheinbare Anteilnahme für die gejagten Armenier, die der Armenierfreund Lepsius offensichtlich für die Wirklichkeit hielt und dankbar aufnahm. Denn während er in seinen Privatbriefen den Konflikt der Darstellung des Völkermords 1915/16 ansprach, findet sich kein Wort über die Verdrehungen der Wahrheit im Kaukasus.
Das Auswärtige Amt hätte womöglich damit rechnen können, daß Lepsius aus patriotischen Gründen bereit gewesen wäre, Deutschland auch da rein zu waschen, wo es schmutzige Hände hatte, indem er belastende Stellen streichen oder abschwächen würde (und in der Tat war Lepsius dazu in Grenzen auch bereit, wie sich zeigen sollte), aber Göppert und Solf waren sich offenbar nicht sicher, ob Lepsius wirklich mitspielte. Deshalb entschied sich das AA für einen anderen, sichereren Weg: Es überließ Lepsius nicht die Originale, sondern stellte ihm ausschließlich Kopien zu Verfügung. Und diese Kopien waren zuvor präpariert worden.
Ein Beleg dafür, daß Lepsius nur mit Kopien gearbeitet hat, findet sich in der handschriftlichen Anweisung zum Verbrennen der Unterlagen. Das zur Stellungnahme aufgeforderte Zentralbüro schrieb unter dem 21.6.1920 zur Bitte der Prüfung, ob sich Urschriften unter dem Material befänden: ”Urschriften waren nicht unter dem Material. Die Abschriften werden demnächst verbrannt werden.”30 Die vom Amt aufbewahrten Unterlagen waren also nur Abschriften.
Da sich Lepsius zur Zeit der Arbeit an “Deutschland und Armenien” noch in Holland aufhielt, war es normal, daß das AA ihm nur Abschriften zustellte. Und daß Lepsius diese Abschriften in seinem Aktenwerk “Deutschland und Armenien” nicht als Kopien kenntlich machte, war auch normal. Denn das hätte ja schlecht ausgesehen, wenn die Dokumentation Deutschlands zu einem der wichtigsten Ereignisse des Ersten Weltkriegs in aller Öffentlichkeit als Dokumentation von Abschriften erklärt worden wäre. Kein Zweifel besteht ferner daran, daß Lepsius genau wußte, daß es sich um Abschriften handelte, denn die Originale unterscheiden sich in sehr vielen Kriterien eindeutig von Abschriften. Unfaßbar ist, daß Lepsius offensichtlich überhaupt keine Anstalten gemacht hat, die Kopien mit den Originalen zu vergleichen, obgleich er dazu bei seinen Besuchen im Auswärtigen Amt in Berlin durchaus in der Lage gewesen wäre.
Wie ein solches Dokument aus der Serie der verbrannten Akten ausgesehen haben mag, könnte das in dieser Internet-Edition enthaltene Dokument 1915-10-05-DE-011 deutlich machen. Das Original dieses Dokuments befindet sich in den Akten der Botschaft Konstantinopel (Band 97) und ist eine Reinschrift des mit der Berichterstattung über die armenischen Angelegenheiten abgestellten Generalkonsuls Johann Heinrich Hermann Mordtmann. Mordtmann beendete das Telegramm wie üblich mit “u.S.E”., der Abkürzung für ”unter Seiner Exzellenz”. Der offizielle Absender war also der amtierende Botschafter Hans Freiherr von Wangenheim. Aber nicht der todkranke Wangenheim (er starb drei Wochen später) zeichnete das herausgehende Schriftstück ab, sondern der Botschaftsrat von Neurath, der nach Wangenheims Tod auch die Geschäfte führte. Ein genau arbeitender Akten-Herausgeber hätte also als Absender Wangenheim angegeben.
In der Lepsius-Dokumentation aber firmiert Neurath als Absender dieses Dokuments. Und Neurath ist auch der Absender einer Abschrift des Auswärtigen Amts, die sich im Ordner R14088 – offenbar an Stelle des Originals, das dort nicht abgelegt wurde - befindet. In diesem ausdrücklich als ”Abschrift” gekennzeichnetem Schriftstück sind bereits mehrere Passagen des Mordtmann-Schriftsatzes gestrichen, die auch bei Lepsius fehlen. Aber es befindet sich noch ein Schlußsatz in dieser Abschrift, der in “Deutschland und Armenien” ebenfalls fehlt. Dieser Schlußsatz ist durch ein Treppenzeichen vom übrigen Text getrennt.
Markierungen von Sachbearbeitern im Berliner Auswärtigen Amt kamen sehr häufig vor. Wenn Schriftsätze von Botschaftern, Gesandten oder Konsuln an diplomatische Vertretungen Deutschlands informationshalber weitergeschickt werden sollten, markierte der Sachbearbeiter oder auch schon mal der Außenminister selbst jene Stellen, die er zur Kenntnis geben wollte. Diese Markierungen sind ausnahmslos eckige Klammern, und sie befinden sich fast immer in den Originalen. Hatte sich im Fall des Dokuments 1915-10-05-DE-011 ein Schriftstück in die Ablage verirrt, das eigentlich für eine der fleißigen Damen bestimmt war, die die Abschriften für Lepsius besorgten?
Wohl sind die Kopien für “Deutschland und Armenien” vom AA verbrannt worden, aber nicht alle Kopien sind vernichtet. Denn Lepsius hatte die Abschriften der oder vieler Originale, die er gern veröffentlicht hätte, aber nicht veröffentlichen durfte, beiseitegelegt. Und auch noch nach Fertigstellung der Dokumentation hatte Göppert auf Bitten von Lepsius (“Mir liegt daran, mein Material möglichst zu vervollständigen. Denn die weitere Diskussion fordert, dass ich aufs beste unterrichtet bin”31) dem renomierten Herausgeber weitere Akten “zu Ihrer Information” zur Verfügung gestellt unter der Bedingung, “daß Sie davon Dritten gegenüber keinerlei Gebrauch machen, ohne sich vorher mit mir geeinigt zu haben”32. Diese Dokumente befinden sich heute im Lepsius-Archiv - insgesamt ein ganzer Aktenordner. Sie sind ohne Ausnahme alle als Abschriften kenntlich gemacht oder eindeutig als Abschriften zu erkennen. Eine Analyse dieser Akten ermöglicht weitere Schlüsse, wie die Veränderungen zustande gekommen sind.
Da waren einmal Manipulationen harmloser Art. Lepsius nahm es mit dem Wortlaut der Originale nicht so genau. Wenn er meinte, der Autor habe sich nicht präzise genug ausgedrückt, verbesserte er schon einmal den Wortlaut, in der Regel aber, ohne den Sinn zu verfälschen. Änderungen dieser Art kommen in “Deutschland und Armenien” sehr häufig vor und finden sich auch in den zurückbehaltenen Akten als handschriftliche Korrekturen.
Den Inhalt verfälschend sind in den veröffentlichten Akten über den Völkermord vor allem Auslassungen, die Taten deutscher Staatsangehöriger gegen die Armenier beschreiben, ferner politisch brisante Ansichten deutscher Diplomaten oder offizieller Vertreter, seien sie nun rassistischer Art oder schlicht nur Belege für deutschen Weltmachtanspruch. Streichungen dieser Art finden sich nicht nur in den in “Deutschland und Armenien” veröffentlichten Dokumenten, sondern auch in den Abschriften des Lepsius-Archivs - sie sind folglich bereits vom Auswärtigen Amt vorgenommen worden.
Als Beispiel kann der Bericht des deutschen Konsuls Wilhelm Litten gelten, der auf seiner Reise von Bagdad nach Aleppo tagebuchartige Notizen anfertigte und diese seinem Kollegen in Aleppo, dem Konsul Walter Rößler, zur Verfügung stellte. Diesen Bericht hätte Lepsius offensichtlich gern in “Deutschland und Armenien” aufgenommen, wurde aber von Göppert daran gehindert. “Im Orient veröffentlichen” schrieb Lepsius mit dickem Stift auf das Manuskript, und tatsächlich publizierte er den Bericht in seinem Blatt und auch als Flugblatt.
Auch dieser von Lepsius - frei von AA-Auflagen - veröffentlichte Litten-Bericht enthält Streichungen unterschiedlicher Art. Zum einen war das Fazit Littens vom Auswärtigen Amt fast auf die Hälfte zusammengestrichen, was Lepsius ganz offensichtlich nicht bemerkte. Littens Bemerkung von “einer armenischen Bevölkerung”, die “an den Ufern des Euphrats von der Quelle bis zum Schatt el Arab angesiedelt sein wird”, fiel darunter oder sein Bedauern, daß die deutschen Lehrer der für die Armenier eingerichteten deutschen Schulen in der Türkei “nicht deutschen Geist in die Zöglinge verpflanzen, sondern im Gegenteil von den armenischen Schülern beeinflusst und in die Netze der armenischen Propaganda hineingezogen werden”. Auch die Begründung von Littens Klage, die Armenier, statt sie verhungern zu lassen, besser zum Straßenbau einzusetzen (“In Persien tragen unsere Landsleute ihre Haut zu Markte und warten mit leeren Patronengurten sehnlichst auf die Munition, die bei den jämmerlichen türkischen Etappenverhältnissen irgendwo zwischen Konstantinopel und Bagdad in einer überverstopften Etappe festliegt”), hatte das AA gestrichen.
Gerade diese letzte Streichung aber findet ein merkwürdiges Pendant in einer Streichung, die Lepsius aus eigenen Stücken veranlaßt hatte. Er strich in der Detailschilderung des 2. Februar, wo von 20 Ochsenwagen “mit Säcken und Hausrat beladen. Darauf Frauen und Kinder” die Rede war, den Zusatz: “Könnte man die Wagen nicht besser für Munitionstransporte gebrauchen?”. Die Kriterien des Auswärtigen Amts und die von Johannes Lepsius für Manipulationen der Dokumente waren zumindest in diesem Fall identisch.
Auch andere Streichungen gehen auf das Konto von Lepsius, was aus umfangreichen handschriftlichen Aufzeichnungen hervorgeht, die er zum Verfassen des Vorworts angefertigt hatte. So notierte er ausdrücklich den Ort Fundadjak, in dem die armenische Bevölkerung sehr wahrscheinlich mit deutscher Hilfe zusammengeschossen worden war. Dieser Ort ist in dem von Lepsius in “Deutschland und Armenien” veröffentlichten Dokument 19333 nicht mehr vorhanden. Ob Lepsius diese Streichungen nach Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt vorgenommen hat oder nicht, geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor. Allerdings notiert er einige Male den Namen “Göppert”, möglicherweise als Merkzeichen für Telefonate.
Das Studium der Kopien, besonders jener, die niemals von Lepsius veröffentlicht worden sind, und ihr Vergleich mit den Originalen macht klar: Nahezu alle Streichungen gingen auf das Auswärtige Amt zurück, nur wenige sind von Lepsius selbst vorgenommen worden.
Das erklärt auch, warum die Lepsius-Tochter und damalige Sekretärin ihres Vaters, Brigitte Lepsius, 1978 Dadrian gegenüber behauptete, von niemandem angewiesen worden zu sein, die Manuskripte zu ändern oder Textstellen auszulassen34. Die wenigen von ihrem Vater veranlaßten Auslassungen hatte sie – 60 Jahre danach – offensichtlich vergessen.
Aber das Auswärtige Amt strich nicht nur, es verwischte auch Spuren der Verantwortung. In einem Privat-Brief35 wunderte sich Lepsius über den Tatbestand, daß der Reichskanzler nur ein einziges Mal, und zwar auf Intervention der deutschen kirchlichen Kreise (Lepsius: “Auf eine von mir provozierte Erklärung auf die Eingabe von Vertretern der evangelischen Kirche”) zum Genozid an den Armeniern Stellung genommen habe. Vom Kanzler selbst aber stammt die - in “Deutschland und Armenien” fehlende - klare Anweisung, auf die Armenier keine Rücksicht zu nehmen (“Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht”36). Es war die Antwort auf eine Aufforderung des deutschen Botschafters Wolff-Metternich, öffentlich den Völkermord anzuprangern. Lepsius hatte den Bericht - allerdings in sehr verkürzter Form - veröffentlicht (Dok. 209), nicht aber die zustimmenden Bemerkungen des Unterstaatssekretärs Zimmermanns und des AA-Chefs Jagow, und nicht die harsche Ablehnung des Kanzlers.
Der Wortlaut dieser Ablehnung befindet sich aber unter den AA-Kopien im Lepsius-Archiv37, allerdings mit einem falschen Absender. Als Autor stand unter den wortwörtlichen Einlassungen Bethmann Hollwegs (und nur die waren wiedergegeben worden) das Kürzel “U.St. (Z.)” - also der Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann. Möglicherweise wollte das AA dem Fall vorbeugen, daß Lepsius die Fälschung bemerkt und sich dann mit Irrtum herausreden. Lepsius reagierte aber offensichtlich gar nicht auf diesen Kernsatz zur deutschen Armenien-Politik, der auch dann außerordentlich gewesen wäre, wenn er “nur” von Zimmermann gestammt hätte. Offenbar war auch Lepsius fest entschlossen, die deutsche Rolle zu vertuschen.
Lepsius hat sich nicht damit gebrüstet, die AA-Akten selbst gründlich studiert zu haben. Nur ein einziges Mal spricht er davon, 30 Bände Akten durchgesehen zu haben (die Dokumente stammen aus mehr als 40 Bänden). Das war ganz anders bei der zweiten großen Aktenpublikation, die Lepsius gleich nach “Deutschland und Armenien” in Angriff nahm: Auch dieses später “Große Politik der europäischen Kabinette” genannte Werk mit Akten des Auswärtigen Amts aus dem Zeitraum 1878 bis 1914 sollte nach dem Willen der Regierung von Männern herausgegeben werden, “deren Sachkenntnis und Unabhängigkeit im neutralen und feindlichen Ausland so unzweifelhaft anerkannt ist, daß nicht der Anschein einer Tendenzschrift erweckt wird”, so der Solf-Mitarbeiter Freytag an Lepsius, dem als einem von drei Herausgebern die Gebiete Balkan, Orient und Rußland angeboten wurden. 38
Kaum ein Brief an seine Freunde, in dem Lepsius nicht von seiner großen Arbeitsanstrengung für dieses Werk sprach. Es finden sich nach einer ersten groben Durchsicht keine der Aktensammlung “Deutschland und Armenien” vergleichbaren Eingriffe in die veröffentlichten Dokumente selbst (von der Lepsius-Unart des Glättens holpriger Sätze abgesehen), aber die politische Zielsetzung war die gleiche. In seinem Kapitel über die Orientpolitik der Großmächte, schrieb Lepsius, seien “zum erstenmal Dokumente gesammelt, die den Beweis von der Perfidie der englischen und der russischen Politik und der Korrektheit der deutschen erbringen”39. Denn auch diese Dokumentation sollte vor allem Deutschland von dem im Versailler Vertrag proklamierten Grundsatz reinwaschen, die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu tragen – diente also vorwiegend propagandistischen Zwecken. ”Die historische Wahrheit ist mir gleichgültig”, habe ihm Richard Delbrück, der Leiter der auftraggebenden AA-Abteilung, gesagt, schrieb Lepsius an Freunde.40
Eine erfolgreiche Propaganda-Funktion beider Geschichts-Werke läßt sich am besten messen an der Aufnahme durch jene Stellen, die diese Propaganda in Politik umsetzt: die Presse. Während die deutsche Presse das Lepsius-Werk “Deutschland und Armenien” unisono lobte - aber was war schon die in kritischer Berichterstattung unerfahrene und unbedarfte deutsche Presse, noch dazu nach Jahren der Knebelung - kam die erhoffte Botschaft bei der ausländischen, insbesondere der angelsächsischen Presse nicht an. “Der Erfolg des Buches ‚Deutschland und Armenien’”, schrieb Göppert an Lepsius, “hat uns leider doch Enttäuschungen gebracht. Die mir zugegangenen nordischen Pressestimmen sind sämtlich ungünstig und die “Times” benutzt das Buch ... geradezu als Beweis für die deutsche Schuld und als Hetzmittel.”41
Folge: Die bereits fertiggestellten englischen und französischen Übersetzungen von “Deutschland und Armenien” wanderten in die Asservatenkammer des Auswärtigen Amts, wo sie vielleicht heute noch vor sich hin stauben, offiziell sollen sie unauffindbar sein. Die Kritik der Briten, die Lepsius durch jahrelange Lektüre bestens kannte, tat er zynisch ab: “Die ‚Times‘ ist verlogen wie immer”42.
Zumindest ein Echo auf die Große Politik wird ihn hingegen sehr geschmerzt haben. Seinen ersten Artikel über die Ergebnisse Bismarckscher Politik hatten ihm seine Schweizer Bekannten noch höchst interessiert abgenommen. Die Basler Nachrichten brachten sie in voller Länge. Als Lepsius seinen zweiten Artikel über weitere Bismarck-Funde an die führende Schweizer Zeitung schickte, bekam er von dem verantwortlichen Redakteur Albert Oeri, einem Schwager seines langjährigen Angestellten Andreas Vischer, handschriftlich eine eher unerwartete Antwort: “Leider können wir den beiliegenden Artikel nicht bringen. Schon sein Vorgänger, den wir gebracht haben, enthielt mehr Propaganda als sachliche Mitteilung. Wir können unser Blatt unmöglich mit Bismarck-Propaganda überschwemmen lassen.”43
Die Manipulationen im Dokumentenwerk “Deutschland und Armenien” werfen einen Schatten auf Johannes Lepsius, aber nur einen kleinen Schatten auf einen großen Mann. Einen größeren werfen sie auf die Herren in der Berliner Wilhelmstraße, dem Sitz des Auswärtigen Amts. Aber auch die Außenpolitiker können notfalls als Entlastung vorbringen, daß sie in erster Linie deutsche Politik gestalteten und das hieß: Schaden von Deutschland abzuwenden, auch wenn es nur mit Hilfe von Manipulationen möglich war. Das war – und ist – nicht unübliche Praxis.
Einen langen Schatten, seinen sehr langen Schatten werfen die Dokumente zum Völkermord an den Armeniern, Manipulationen inklusive, auf eine deutsche akademische Welt, die nicht in der Lage war, die Wahrheit über eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts herauszufinden. Was vor allem angelsächsischen, aber auch skandinavischen Journalisten anhand der von Lepsius veröffentlichten Dokumente sofort auffiel - die Verstrickung Deutschlands in das Megaverbrechen – blieb den Augen der deutschen Wissenschaftler der Zwischenkriegszeit, aber auch noch der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, allen voran den Historikern, unverständlicherweise verborgen. Oder sie wollten die Wahrheit nicht sehen, weil sie den geschichtlichen deutschen Sonderweg, der sich als verhängnisvoller Holzweg entpuppen sollte, bewußt mittrugen. Die in dieser Internet-Publikation veröffentlichten Dokumente sind oft peinliche, manchmal schwer zu ertragende Belege für deutsches imperiales Denken und Rassismus. Ihr Kulturhochmut ließ die Deutschen oft nicht erkennen, daß die Armenier auf dem Weg zu einer westlichen Zivilisation weiter waren als sie selbst – eine Blindheit, an der allerdings auch Lepsius litt.
Denn auch Johannes Lepsius schwamm mit diesem Strom. Seine Haltung besonders gegenüber dem Versailler Vertrag war die eines deutschen Nationalisten, der nicht gewillt war, ein Abkommen, das vielleicht einmal als ein unter den damaligen Umständen durchaus gerechter Friede auch in die deutsche Geschichte eingehen wird, zu akzeptieren oder auch nur sachlich zu analysieren. Seine schmerzhaften Erfahrungen im Umgang mit der von ihm bewunderten Minderheit der Armenier im Osmanischen Reich öffneten ihm nicht den Blick für das Schicksal von Minderheiten im Deutschen Reich. Als die völkische Springflut in Deutschland sichtbar wurde, ließ er kurzerhand “seine” Armenier in einem förmlichen Gutachten zu Ariern deklarieren.
Aber Johannes Lepsius war einer der ganz wenigen in Deutschland, die sich für eine verfolgte Minderheit vehement einsetzten. Dazu war nicht die – von Lepsius darob heftig gescholtene - protestantische Kirche in Deutschland bereit und auch nicht die katholische, die beide nur höchst egoistische Positionen bezogen. Es gehörte schon viel Mut dazu, in der unmittelbaren Nachkriegszeit den Völkermord an den Armeniern mit deutschen Dokumenten zu belegen und viel Kraft, dieses auch durchzusetzen.
Die Verantwortung für die Fehler der Quellenedition “Deutschland und Armenien” allein dem Herausgeber Johannes Lepsius aufzubürden, wäre der denkbar schlechteste Ansatz für eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit im Osmanischen Reich. Für die Armenier war und ist Lepsius eine Ikone, und er war und ist es zu Recht - eine Ikone mit Farbfehlern sicher, aber dennoch eine Ikone von hohem Wert.
1 “Deutschland, Armenien und die Türkei 1895-1915. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg; zusammengetellt von Hermann Goltz und Axel Meissner”. K. G. Saur München 1999 (im folgenden zitiert als LAH), 7243 (1). 2 “Deutschland und Armenien 1914-1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke” . Herausgegeben von Dr. Johannes Lepsius, Tempelverlag Berlin, 1919. Nachdruck im Donat & Temmen Verlag, Bremen, 1986. 3 Vahakn N. Dadrian: The History of the Armenian Genocide: Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus; Berghan Books, New York (USA), Oxford (UK) 1995; S. 278-279. 4 Veröffentlicht auf dieser Internet-Seite unter "Manipulationen". 5 Siehe Fußnote 1. 6 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (nachfolgend zitiert als “PA-AA”), Aktenband R14106. 7 Hermann Goltz: Pfarrer D. Dr. Johannes Lepsius (1858-1926) – Helfer und Anwalt des armenischen Volkes; Akten des Internationalen Dr. Johannes-Lepsius-Symposiums 1986 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; S. 41. 8 Deutschland, Armenien und die Türkei 1895 – 1925. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; teil 1. Katalog. Zusammengestellt und bearbeitet von Hermann Goltz und Axel Meissner, S. XIV. K. G. Saur, München 1998. 9 Uwe Feigl: Das evangelische Deutschland und Armenien. Die Armenierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen; S. 221. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1989. 10 LAH 15820(2). 11 Jahrgang 1925, Nummer 8, Seite 105; LAH 032 12 LAH 15635. 13 LAH 15643. 14 LAH 15639. 15 LAH 15100 (4). 16 Fritz Fischer: “Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/8”; Droste-Verlag, Düsseldorf 1967; Nachdruck (1984) der Sondersausgabe in Droste Taschenbücher Geschichte, S. 538f. 17 PA-AA R14094, A 28987. 18 PA-AA R14096 A 34247. 19 PA-AA/ R14105, A 50121. 20 LAH 13533. 21 PA-AA/R14105. 22 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (nachfolgend zitiert als B.Arch), R901/71562, Blatt 29. 23 LAH 14335 (1). 24 LAH 14213 (6). 25 LAH 7243 (2). 26 LAH 14335 (1). 27 LAH 7243 (3). 28 LAH 13533 (3). 29 LAH 7243 (3). 30 PA-AA/R14106. 31 LAH 14334 (2). 32 LAH 14341 (2). 33 Dok. 1915-11-08-DE-001 dieser Edition. 34 Dadrian a.a.O. S. 298, Fußnote 93. 35 LAH 7243 (1). 36 Dok. 1915-12-07-DE-001. 37 LAH 13824. 38 LAH 14387 (3). 39 LAH 14213 (11). 40 LAH 14503 (3). 41 LAH 14341. 42 B.Arch. R901/71562 Blatt 62. 43 LAH 13522.