1909-08-10-DE-001

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Quelle: DE/PA-AA/R14077
Zentraljournal: 1909-A-15575
Erste Internetveröffentlichung: 2009 April
Edition: Adana 1909
Telegramm-Abgang: 08/10/1909
Praesentatsdatum: 09/21/1909 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Sonderberichterstatter und Generalkonsul Eberhard Graf von Mülinen über seine Eindrücke im Südosten der Türkei

Bericht

Aleppo, den 10.8.09.

Abschrift.

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Daß sich die Ausschreitungen vorerst ausschließlich gegen die Armenier wandten, während andere Christen unbehelligt blieben, läßt sich aus dem besonderen Charakter der Armenier im Taurusgebirge erklären, der nichts von der Furchtsamkeit seiner Landsleute in Konstantinopel u. in Kurdistan hat. Vielmehr blickt er auf eine noch nicht sehr ferne glorreiche Vergangenheit zurück, in der das Königreich Kleinarmenien eine bedeutende Machtstellung einnahm. Seine Fürsten, deren einer vom Römischen Kaiser deutscher Nation bestätigt wurde, waren mit den Regentenhäusern der Kreuzfahrer verschwägert u. herrschten zeitweise über Zypern. Weder den Seldschuken u. Karamanoglus, noch den Mamelukensultanen und den Osmanen gelang es, diese Gebirgsbewohner vollständig zu unterwerfen, u. trotz den Anfeindungen der wilden Zulqadr [?] in Marasch behaupteten sie sich in ihrer Freiheit bis in unsere Tage; erst das Ende des Jahres 1895 sah den Fall ihrer Festung Zeitun. Auch ihr heutiger Nachkomme träumt von Selbständigkeit, u. seit Beginn der neuen Ära in der Türkei sucht er seine Wünsche mit all der ihm eigenen Verwegenheit u. Verschlagenheit zu verwirklichen. Öffentlich sprach man davon, daß nun die Zeit der Abwerfung des verhaßten Türkenjochs gekommen sei u. es fehlte nicht an Beleidigungen u. Verletzungen der herrschenden Rasse. Schon seit Ende des letzten Winters hatten sich in dem ehemaligen Kleinarmenien die Verhältnisse so zugespitzt, die Feindschaft zwischen Armeniern und Muhammedanern war derart weit gediehen, daß ein offener Kampf unvermeidlich schien. Als die Konstantinopler Gegenrevolution das Zeichen dazu gab, wehrten sich die Armenier des Gebirges in den Wilajets Adana und Aleppo, die mit Waffen reichlich versehen waren, gegen die Übermacht bis aufs äußerste; die Armenier von Antiochia ließen sich widerstandslos hinschlachten.

Die Haltung der hiesigen Regierung war bei diesen Vorfällen eine abwartende, sogar verdächtige. Statt für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen u. jede Ausschreitung, sei es seitens der Armenier oder seitens der Muhammedaner, strenge zu bestrafen, ließ man, unter dem Vorwande des Mangels an Truppen, die Greueltaten ruhig geschehen.

Die Führer der Soldatenabteilung, die in Antiochia endlich, als nach den Massakres keine armenischen Männer mehr übrig waren - die Massakres dauerten vom Montag, den 19. bis Freitag, den 23. 4. - eingetroffen war, antworteten auf die Frage, warum sie den Marsch so lange verzögert hätten, mit dem Hinweis auf den ihnen zugegangenen Befehl, an dem bestimmten Tage zur festgesetzten Stunde einzurücken. Der wegen seines damaligen Verhaltens abgesetzte Kaimakam von Antiochia, Muharram Pascha, teilte hier eine ihm vom Wali chiffriert übersandten Order des Inhalts mit, daß, falls Unruhen ausbrechen würden, er die Fremden zu schützen habe. Allgemein wird dieser Befehl so gedeutet, wie ihn Muharram Pascha auffaßte, daß er nämlich im übrigen den Ereignissen freien Lauf lassen solle. Der Wali seinerseits verteidigte sich gegen den darin liegenden Vorwurf durch die Erklärung, daß das Telegramm ihm von Konstantinopel übermitteln u. von ihm bloß weitergegeben worden sei.

Es ist schwer zu entscheiden, ob die Metzeleien bei längerer Dauer sich nicht auch gegen andere Christen gerichtet haben würden. Die Stadt Aleppo selbst u. wohl die ganze Provinz, war in gleicher Gefahr wie Antiochia, worauf verschiedene Anzeichen, wie das Attentat auf den französischen Konsul Roqueferrier am 23. 4 schließen lassen; man darf es daher nur dem raschen Vordringen der macedonischen Truppen gegen Konstantinopel, das in hiesiger Stadt sofort von den Telegraphenbeamten zur öffentlichen Kenntnis gebracht wurde, zuschreiben, wenn Aleppo verschont wurde. Nach der Auffassung verständiger Männer mochte der Wali es für klüger gehalten haben, trotz der Aufforderung von Konstantinopel die Massakres vorläufig noch hinantzuhalten, sollte die Gegenrevolution in der Residenz siegreich bleiben, so hinderte nichts ihre nachträgliche Voranstellung.

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Von großem Nachteil für den Handel ist die Auswanderung der Armenier, die noch andauert u. sich massenhaft nach Egypten und Amerika wendet. Türkischerseits versucht man zwar die Armenier zum Bleiben zu bereden, indem man ihnen vorstellt, daß für sie jetzt kein Grund zur Beunruhigung mehr vorliege, u., wie die Konstantinopler Zeitungen bemüht sich auf die Sadai Schahba für Vergessen des Vergangenen zu wirken u. alle ottoman. Untertanen zum Frieden u. zur Eintracht zu ermahnen. Die Armenier, des Aufenthalts in der Türkei, wo sie sich im Zeitlaufe von 15 Jahren jetzt zweimal der Ausrottung ausgesetzt sahen, überdrüssig, lassen sich jedoch nicht abhalten; sie glauben als Motiv dieser Beschwichtigungsversuche nur die Angst der herrschenden Klasse zu erblicken, welche z. Z. wegen der kretischen Frage in Differenzen mit dem zahlreichsten christlichen Bevölkerungsteil, den Griechen, geraten ist.

Den Armeniern schließen sich in diesen Wochen andere Christen an, um der allgem. Wehrpflicht zu entgehen, die in den letzten Julitagen durch Parlamentsbeschluß eingeführt wurde. Schon behaupten die Kaufleute vorauszusehen, daß sie bei einer Ausdehnung der Landesflucht der Christen in Zukunft gar keine Angestellten mehr finden würden.

pp.


[Graf v. Mülinen]



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