1913-07-14-DE-004
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Quelle: DE/PA-AA/R 14080
Zentraljournal: 1913-A-14922
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Telegramm-Abgang: 07/14/1913
Praesentatsdatum: 07/23/1913 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 217
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Therapia, den 14. Juli 1913

Nachdem mein letzter Bericht über das russische Reformprojekt für Armenien sich in erster Linie mit der räumlichen Abgrenzung der Reformzone beschäftigt sollen nunmehr im Folgenden die administrativen Bestimmungen desselben einer näheren Betrachtung unterzogen werden.

Einteilung der Provinzialverwaltung. Unter der Voraussetzung, daß die von Rußland vorgeschlagene Zusammenfassung der Reformzone zu einem einzigen Vilajet nicht zur Ausführung kommt, sondern daß in Armenien eine Mehrheit von Vilajets, sei es in der jetzigen, sei es in veränderter Zahl und Abgrenzung bestehen bleibt, ist gegen die in Art. I §2 enthaltene Einteilung der Vilajets in Sandjaks, Kazas und Nahijes nichts einzuwenden, zumal sie dem bisherigen Zustande entspricht und auch in Art. 1 des neuen türkischen Vilajetsgesetzes zum Ausdruck gebracht ist.

Generalgouverneur (Vali). In Art. II sieht der russische Entwurf für Armenien einen vom Sultan mit Zustimmung der Mächte auf 5 Jahre ernannten christlichen, am besten europäischen Generalgouverneur vor. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Rußland, selbst wenn es infolge unseres Widerspruchs auf die Schaffung eines einzigen armenischen Vilajets verzichtet, versuchen wird, unter allen Umständen wenigstens einen gemeinsamen Oberkommissär für die gegenwärtig bestehenden armenischen Provinzen durchzusetzen und ihn mit den gleichen Attributionen auszustatten, die es jetzt dem alleinigen Generalgouverneur zugedacht hat. Er soll, wie Art. III besagt,

Die Verwirklichung dieses Teiles des russischen Torschlages würde dem Generalgouverneur eine Machtvollkommenheit gewähren, die über diejenige eines Valis weit hinausgehen, und die seine Abhängigkeit von der Zentralregierung nicht einmal dem Scheine nach aufrechterhalten würde. Der russische Vorschlag stützt sich auf Art. 1 des Libanonreglements, das dem Gouverneur gleichfalls das Recht einräumt, die Beamten und Richter zu ernennen. Die Erfahrungen aber, die dort mit dieser Einrichtung gemacht worden sind, können durchaus nicht zu einer Wiederholung des Experiments ermutigen. Jeder Gouverneurwechsel würde, wie dies auch im Libanon geschieht, ein allgemeines Revirement der Beamten und Richter nach sich ziehen, das sicherste Mittel, um die in einem zu reformierenden Gebiete doppelt unentbehrliche Kontinuität in Verwaltung und Rechtsprechung von vornherein auszuschließen.

Auch auf die Moralität der betreffenden Richter und Beamten müßte eine solche Einrichtung von verderblichster Wirkung sein. Für den Kenner des orientalischen Charakters kann es keinem Zweifel unterliegen, daß jeder eingeborene Beamte oder Richter, der weiß, daß er nach Ablauf von 5 Jahren nur geringe Aussicht hat, in seiner Stellung zu bleiben, seine Amtsperiode dazu benutzen wird, sich möglichst ausgiebige Mittel für seine späteres Existenz zu verschaffen und sich diejenigen Notabeln zu verpflichten, aus deren Einfluß er später persönlich Vorteil zu ziehen hofft. Auch in dieser Richtung können die Verhältnisse im Libanon als Beleg dienen.

Doch selbst wenn sich die fragliche Einrichtung im Libanon bewährt hätte, wäre es immer noch ein höchst bedenkliches Unternehmen, sie in ein Gebiet einzuführen, das etwa 80mal größer ist als die Libanonprovinz . Ebensowenig wie in Preußen jemand daran denken würde, mit den Verwaltungseinrichtungen des Kreises Teltow das ganze Königreich zu regieren, ebenso ungerechtfertigt ist der Vorschlag, das weite Armenien in das Prokrustresbett des Libanonreglements zu zwängen.

Einem Generalgouverneur oder Oberkommissär das Recht geben, alle Beamten und Richter seines Bezirks ein- und abzusetzen, heißt in Wirklichkeit nichts anderes, als ihn zum selbständigen Beherrscher einer autonomen Provinz machen und wesentliche Bestandteile der Souveränität des Sultans ausschalten. Das russische Projekt unterstreicht diesen Gedanken noch durch den Vorschlag, daß der Vali nur mit Zustimmung der Mächte vom Sultan ernannt werden könnte, eine Bestimmung, die gleichfalls in den Statuten aller ehemaligen und jetzigen autonomen Provinzen wiederkehrt. Wohin eine derartige Autonomie führt und führen muß, das zu erkennen dürfte heute selbst der mittelmäßigsten Intelligenz nicht sehr schwer fallen. Es ist verständlich, daß Russland seinen Vorteil darin sieht, die Türkei auf diese Gleitbahn anzusetzen; uns aber muß der gleiche Gedankengang dahin führen, jeden Reformplan abzulehnen, der auf eine Schmälerung der Souveränitätsrechte des Sultans hinausläuft.

Wir werden daher von den Attributionen, die nach dem russischen Entwurfe dem Generalgouverneur zufallen sollen, die Zustimmung der Mächte zu seiner Ernennung sowie sein Recht, alle Beamten ein- und abzusetzen, und die Richter zu ernennen, streichen müssen. Zieht man nun dieses Recht von den in Art. III des russischen Projekts genannten Befugnissen des Generalgouverneurs ab, so bleibt noch übrig, daß er der Chef der Exekutivgewalt ist, das Kommando über die Polizei und Gendarmerie seines Bezirks hat und zur Aufrechterhaltung der Ordnung über die militärischen Kräfte verfügen kann. Das sind indessen alles Befugnisse, die das neue Vilajetsgesetz in Artt. 20, 25 und 26 bereits allen türkischen Valis eingeräumt hat. Sie in Armenien den Valis nehmen und einem Oberkommissär geben, käme der Herabdrückung der armenischen Vilajets auf die Stufe von Sandjaks gleich, was in dem unzugänglichen Lande, wie im Vorbericht dargelegt ist, sehr bald wieder zu einer Verselbständigung derselben und somit zur Wiederherstellung des jetzigen Zustandes führen müßte. Andererseits geht es nicht an, den Oberkommissär mit den gleichen Befugnissen auszustatten, wie sie den Valis zustehen, da alsdann die Kompetenzkonflikte kein Ende nehmen würden. Man muß daher zu dem Schluß kommen, daß es nicht angängig ist, in den armenischen Provinzen eine Instanz zu schaffen, deren Machtvollkommenheit hinsichtlich der laufenden Verwaltungsgeschäfte über die Befugnisse des Valis hinausginge.

Damit soll keineswegs gesagt sein, daß es überhaupt unmöglich ist, in den Provinzen eine höhere Instanz zu schaffen, als es der Vali ist. Es herrscht Einigkeit darüber, daß die Türkei dringend der Reformen bedarf, es ist klar, daß diese Reformen bei der Verschiedenheit von Religion, Rasse, Klima, Bodenbeschaffenheit und sonstigen Bedingungen in den verschiedenen Gebieten des Reichs verschieden sein müssen. Es liegt daher nahe, diejenigen Provinzen, die hinsichtlich der angedeuteten Bedingungen einander ähneln, unter dem Gesichtspunkte der Reformen zu einer höheren Einheit zusammenzufassen, ohne indessen hierdurch die administrative Selbständigkeit der einzelnen Vilajets zu zerstören. Der Beamte, der an der Spitze dieser höheren Einheit stände, müßte, um Reformen ein- und durchzuführen zu können, eine inspizierende, organisierende und korrigierende Tätigkeit entfalten und sich um die nach wie vor von den Valis und ihren Unterorganen wahrgenommenen laufenden Verwaltungsgeschäfte nur insoweit kümmern, als es durch den Reformgedanken geboten ist.

Wenn es Rußland in Armenien nur um Reformen zu tun ist muß es bereit sein, die Wirksamkeit des von ihm vorgeschlagenen Oberkommissärs oder "Vali umumi" auf die soeben skizzierte Tätigkeit zu beschränken. In diesem Falle würden wir dagegen keinerlei Bedenken tragen, und es würde uns nur übrigbleiben, Rußland darauf hinzuweisen, daß die Türkei soeben im Begriff ist, in Armenien und in noch 5 anderen "Generalinspektionen" , die sich über das ganze Reich erstrecken, die gedachte Einrichtung ins Leben zu rufen. Die Befugnisse der Generalinspektoren, wie sie in den von der Pforte mitgeteilten Instrukionen niedergelegt sind, beschränken sich auf eine inspizierende , organisierende und korrigierende Tätigkeit, sind aber innerhalb dieser Grenzen von weitestmöglichem Umfange. Sie überwachen die Anwendung aller Gesetze und Reglements und kontrollieren zu diesem Zwecke alle Beamten, sie organisieren neue Reformen, indem sie die bezüglichen Gesetzes- oder Verordnungsvorschläge ausarbeiten und der Pforte vorlegen, sie korrigieren endlich die sich ergebenden Mißstände, indem sie die schuldigen Beamten ab- oder versetzen. Die Erledigung der laufenden Regierungsgeschäfte dagegen bleibt im Allgemeinen den ordentlichen Vilajetsorganen vorbehalten. Die Generalinspektoren sind im Wesentlichen gewissermassen ein in die Provinz verlegter Teil der überwachenden und gesetzesvorbereitenden Zentralgewalt. Hinsichtlich der Person der Generalinspektoren besagt das Zirkulartelegramm der Pforte an ihre Botschafter, daß an der Spitze der wichtigsten, insbesondere der östlichen Sektoren, fremde Generalinspektoren stehen sollen, welchen fremde und türkische Spezialisten für Gendarmarie, Justiz, öffentliche Arbeiten und Landwirtschaft unterstellt werden sollen; außerdem sollen in den Ministerien ein vortragender Rat und ein Inspektor Fremde sein und für gewisse Departements fremde Beamte ernannt werden. Der Form nach trägt diese Ankündigung, die hinsichtlich der Verwendung fremder Kräfte weit über die russische Forderung hinausgeht, lediglich den Charakter eines Versprechens. Es müßte daher auf die Pforte in dem Sinne eingewirkt werden, daß sie dieses Versprechen in eine bindende Verpflichtung umwandelt.

Provinzial-Verwaltungsrat. Nach Art. IV. des russischen Entwurfes soll dem Vali ein Provinzialverwaltungsrat zur Seite stehen, der sich aus folgenden Mitgliedern zusammensetzt:

Ein in seiner Zusammensetzung ähnlicher Verwaltungsrat ist bereits im Vilajetsgesetz Art. 62 vorgesehen, wonach er aus folgenden Personen bestehen soll: Es dürfte nicht schwer fallen, die Pforte zur Aufnahme der europäischen technischen Beiräte in den Verwaltungsrat zu bestimmen und so in dieser Beziehung einen Ausgleich zwischen dem russischen Projekt und dem türkischen Gesetz herbeizuführen.

Dagegen erscheint der russische Vorschlag, daß von 6 aus der Provinzialversammlung gewählten Mitgliedern drei Christen und drei Muhammedaner sein sollen, in dieser Verallgemeinerung nicht durch die tatsächlichen Verhältnisse begründet. Die beabsichtigte Beruhigung und Reformierung des Landes erfordert vielmehr als obersten Grundsatz die strickte Vermeidung jeder Bevorzugung irgend einer Rasse oder Religion. Es würde daher der Billigkeit entsprechen, wenn die Sitze der sechs gewählten Beiräte zwischen Muhammedanern und Christen nach dem Verhältnis ihrer Bevölkerungsziffer verteilt würden.

Während die Abweichungen beider Reformpläne hinsichtlich der Zusammensetzung des Vilajetsrates der Provinz verhältnismäßig geringfügig sind, gehen die Bestimmungen über die Zuständigkeit desselben denkbar weit auseinander. Der russische Entwurf legt dem Verwaltungsrat lediglich einen konsultativen Charakter bei, während ihm nach Art. 66-68 des Vilajetsgesetzes wesentliche administrative Befugnisse zustehen.

Gegenüber der Frage, welche der beiden Methoden den Vorzug verdient, wird man sich vergegenwärtigen müssen, daß der russische Vorschlag ein bisher im türkischen Verwaltungsrecht nie vorhanden gewesenes Novum einführen will, und daß als erkennbares Motiv hierfür einzig das Streben in Betracht kommt, die Macht des Valis, der nach russischer Ansicht allein ganz Armenien beherrschen soll, und als welchen wie inzwischen bereits bekannt geworden, Rußland einen russischen Kandidaten in Bereitschaft hatte, von allen sie beengenden Faktoren zu befreien. Demgegenüber wird man sich den Bedenken nicht verschließen können, die sich gegen die ausschließliche Vereinigung der gesamten Exekutivgewalt einer Provinz in die Hände eines einzigen Beamten erheben. Da dieser stets ein türkischer Staatsangehöriger ist, so sind ihm gegenüber alle diejenigen Korrektive am Platze, welche bestimmt sind, einer allzu einseitigen Einflußnahme des Valis auf die laufenden Geschäfte entgegenzuwirken. Gerade in Gebieten, die einer intensiveren wirtschaftlichen Entwickelung und Erschließung entgegengeführt werden sollen, muß es als ausgeschlossen gelten, daß der Vali sich mit den mannigfachen Einzelheiten auch nur der wichtigsten Konzessionen, Verträge und sonstigen die Provinz betreffenden Unternehmungen vertraut machen kann. Er wird daher gerade in Zukunft noch weniger als bisher auf die Mithilfe seiner Ressortschefs und anderer kompetenter Persönlichkeiten verzichten können, und es dürfte im Interesse einer gesunden Entwicklung liegen, diese Letzteren auch an den Entscheidungen und an der Verantwortung für gewisse wichtige Verwaltungsmaßnahmen teilnehmen zu lassen. Insbesondere wird man sich von der Zugehörigkeit der europäischen technischen Beiräte zum Verwaltungsrat eine stimulierende Wirkung auf die Arbeitskraft und Entschlußfähigkeit dieser Behörde und damit auch des ihr vorsitzenden Valis versprechen dürfen.

Ein weiteres Argument für die Ausstattung der Provinzialverwaltungsräte mit gewissem administrativen Befugnissen läßt sich aus dem Umstande herleiten, daß auch die ganz analog zusammengesetzten Verwaltungsräte der Sandjaks und Kazas sowohl nach Art. VIII des russischen Entwurfes wie nach Artt. 66-71 des Vilajetsgesetzes eine entscheidende Einwirkung auf eine Reihe wichtiger Verwaltungsgeschäfte besitzen. Es ist kein trifftiger Grund ersichtlich, warum zwischen diesen Behörden und der entsprechenden Einrichtung des Vilajets hinsichtlich ihrer Wirksamkeit ein wesentlicher Unterschied konstruiert werden sollte.

Es wird sich also empfehlen, dafür einzutreten, daß die Befugnisse des Provinzialverwaltungsrates in der Hauptsache so belassen werden, wie sie in Artt. 66-68 des Vilajetsgesetzes fixiert sind.

Provinzialversammlung. Die im russischen Entwurf in Art. V-VII behandelte Provinzialversammlung ist gleichfalls im Prinzip bereits im Vilajetsgesetz (Artt. 103-135) vorgesehen. Hinsichtlich des Wahlmodus der Mitglieder stimmen beide Reformpläne annähernd überein, indem sie die Wahl in die Kazas verlegen und durch ad hoc konstituierte Wahlkollegien vornehmen lassen, für welche das türkische Gesetz weiter bestimmt, daß sie aus den Kammerwählern zweiten Grades und den Mitgliedern des Munizipalitätsrates der Kazahauptstadt bestehen sollen. Während auf diese Weise eine annähernd proportionelle Verteilung der Sitze zwischen Christen und Muhammedanern zustande kommen würde, verläßt nun das russische Projekt den Grundsatz der gleichen Behandlung aller Bevölkerungselemente und demnach der proportionellen Verteilung der Sitze in der Provinzialversammlung, indem es verlangt, daß in dieser Muhammedaner und Christen in gleicher Anzahl vertreten sein sollen.

Eine derartige Forderung würde sich nur für eine Provinz rechtfertigen lassen in der das muhammedanische und christliche Element einander numerisch die Waage hielten. In diesem Falle jedoch würde der dem Gerechtigkeitsgefühl entsprechende Grundsatz der proportionellen Vertretung zu demselben Ergebnis führen müssen. Bei jedem anderen Verhältnis der beiden Religionen würde die Forderung der gleichen Anzahl Vertreter notwendig die Zurücksetzung des einen oder des anderen Bevölkerungsteiles zur Folge haben und daher nicht nur keinen Ausgleich der Gegensätze bewirken, sondern die Provinzialversammlung zu einem Zerrspiegel der wirklichen Bevölkerungszusammensetzung des betreffenden Vilajets machen, bei dem benachteiligten Element die Erbitterung steigern und so das ständig forttönende Signal zu den heftigsten Nationalitätskämpfen abgeben. Ein einheitliches Zusammenarbeiten von Christen und Muhammedanern wäre unter diesen Umständen selbstredend ausgeschlossen.

Eine brauchbare, zuverlässige Statistik der Bevölkerung fehlt zur Zeit noch in der Türkei. Nach den ziemlich vagen Angaben der Regierung dürfte das armenische Element in den in Frage kommenden Provinzen 30-35 % der Gesamtbevölkerung nicht überschreiten, während die naturgemäß tendenziöse Statistik des armenischen Patriarchats den Christen 45,2 %, den Muhammedanern 45,1 % und den anderen Religionen zusammen 9,7 % der Gesamtbevölkerung Armeniens zuteilt. Gerade der Mangel einwandfreier Zahlen bildet aber ein Hauptargument gegen die von Rußland vorgeschlagene absolute Festlegung des Bevölkerungsverhältnisses in der Provinzialversammlung.

Ebenso angreifbar ist der in Art. V § 3 des russischen Entwurfs vorgesehene Verteilungsmodus der Sitze in der Provinzialversammlung auf die einzelnen Kazas. Er bestimmt, daß die Zahl der Sitze, die den muhammedanischen und den christlichen Nationalitäten zustehen, für jedes Kaza getrennt festgesetzt werden soll. Diese Zahl soll der Stärke der Elemente in dem betreffenden Kaza proportioniert sein, soweit dies mit dem Grundsatz der gleichen Gesamtzahl von Sitzen für Muhammedaner und Christen vereinbar ist. Es ist nun aber schwer einzusehen, wie bei einer absoluten Festlegung der Gesamtziffer eine proportionelle Verteilung auf die einzelnen Kazas ermöglicht werden könnte, und es erhebt sich sofort die Frage: was soll geschehen, wenn eine solche proportionelle Verteilung mit dem Grundsatz der gleichen Gesamtzahl nicht vereinbar ist? Die einzige, unter Wahrung des Hauptprinzips denkbare Lösung wäre in diesem Falle, daß alsdann in dem betreffenden Kaza von einer proportionellen Verteilung abgesehen werden müßte, ein Verfahren, von dem wohl niemand erwarten wird, daß es zur Beruhigung der Bevölkerung beitragen würde. Wir werden daher dafür eintreten müssen, daß das proportionelle Wahlsystem in den Kazas, wie es das Vilajetsgesetz in Art. 103 festlegt, zunächst unbeschränkt zur Anwendung gelangt, und daß etwaige Verbesserungsvorschläge in dieser Hinsicht den Generalinspektoren überlassen werden.

Für die Legislaturperiode der Provinzialversammlung sieht der russische Entwurf (Art. VI §1) fünf Jahre vor, während das türkische Vilajetsgesetz in Art. 108 dafür vier Jahre festsetzt. Eine wesentliche Bedeutung dürfte diesem Unterschiede nicht zukommen. Es empfiehlt sich daher, die bereits in Kraft befindliche türkische Bestimmung nicht zu ändern, zumal für die Generalinspektoren bereits eine fünfjährige Amtsdauer in Aussicht genommen ist und eine gleichzeitige Erneuerung der Generalinspektoren und der Provinzialversammlung eine allzu starke innerpolitische Erschütterung des betreffenden Verwaltungsgebietes mit sich bringen würde.

Die Dauer der alljährlichen Session wird von dem russischen Entwurf auf 2 Monate, von dem türkischen Gesetz auf 40 Tage festgesetzt. In beiden Plänen ist eine Verlängerung durch den Generalgouverneur vorgesehen, die in Art. 113 auf 15 Tage begrenzt ist. Nur die Praxis kann hier entscheiden, welcher Modus den Vorzug verdient. Es ist aber ratsam, zunächst abzuwarten, ob sich die Bestimmung des türkischen Gesetzes bewährt, und es im negativen Falle den Generalinspektoren zu überlassen, an die türkische Regierung mit Verbesserungsvorschlägen heranzutreten.

Sowohl der russische Entwurf wie das türkische Gesetz sehen für die Provinzialversammlung die Möglichkeit einer außerordentlichen Einberufung vor. Beide räumen dem Vali das Recht ein, dieselbe ergehen zu lassen, wenn er es für erforderlich erachtet. Beide gestatten ferner auch der Provinzialversammlung, die Einberufung einer außerordentlichen Session anzuregen, und verlangen für einen solchen Antrag eine Zweidrittelmehrheit. Nur gehen beide darin auseinander, daß für diesen Fall der russische Entwurf den Generalgouverneur zur Einberufung verpflichtet, während er nach Art. 115 des Vilajetsgesetzes den Antrag der Zweidrittelmajorität nebst eigener Meinungsäußerung dem Minister des Innern übermittelt, der über die Einberufung entscheidet. Hier dürfte de lege ferenda der russische Vorschlag wegen der darin liegenden dezentralistischen Tendenz der türkischen Bestimmung vorzuziehen sein. Sollte es zu einem gemeinsamen Schritt der Mächte bei der Pforte im Sinne einer weiteren Ausgestaltung der Reformaktion kommen, so könnte eine Anregung zu entsprechender Änderung des Art. 115 des Vilajetsgesetzes ins Auge gefaßt werden.

Nach Art. VI § 3 des russischen Entwurfes steht dem Generalgouverneur das Recht zu, die Provinzialversammlung aufzulösen. Dagegen gestattet Art. 125 des Vilajetsgesetzes dem Vali nur, die Sitzungen derselben auf eine Woche zu suspendieren, und verpflichtet ihn für diesen Fall zu sofortiger Benachrichtigung des Ministers des Innern. Erachtet der Vali die Auflösung der Provinzialversammlung für geboten, so hat er nach dem Vilajetsgesetz gleichfalls die Motive dafür dem Minister des Innern zu unterbreiten, der die Frage dem Ministerrat vorlegt. Keinesfalls kann die Auflösung anders als durch Dekret des Sultans erfolgen.

Es scheint mir nicht unbedenklich, dem Vali ein unbeschränktes Auflösungsrecht einzuräumen, da dasselbe in den Händen eines autoritären und nicht lediglich von sachlichen Erwägungen geleiteten Valis leicht mißbraucht werden kann und dann unvermeidlich eine tiefe Erbitterung in der Bevölkerung gegen den Vali hervorrufen muß. Ich möchte daher befürworten, es bezüglich der Auflösung der Provinzialversammlung bei den eine sachliche Behandlung der Frage gewährleistenden Bestimmungen des Vilajetsgesetzes zu belassen.

Beide Reformpläne sehen für den Fall der Auflösung sofortige Neuwahlen und den alsbaldigen Zusammentritt der erneuten Provinizialversammlung vor. Das russische Projekt setzt hierfür eine Frist von vier, das türkische eine solche von drei Monaten fest. Der Grund zu der Differenz von einem Monat ist vermutlich in der nach dem russischen Projekte erheblich größeren Ausdehnung des Wahlgebietes zu suchen. Da wir diese grundsätzlich ablehnen, haben wir keine Veranlassung einer Änderung der türkischen Vorschrift das Wort zu reden.

Hinsichtlich der Zuständigkeit der Provinzialversammlung bestimmt Art. VII §§ 1 & 2 des russischen Entwurfes, daß sich die gesetzgeberische Tätigkeit derselben auf die Materien erstreckt, die ein provinzielles Interesse bieten, und daß sie mindestens ebenso umfassend sein soll, wie die in den Art. 82-93 des von der europäischen Kommission 1880 ausgearbeiteten Projektes vorgesehene.

Das Vilajetsgesetz spricht sich über die Zuständigkeitsfrage weniger klar aus. Sicher ist, daß es der Provinzialversammlung das Recht einräumt, das Budget der Provinzialverwaltung zu bewilligen und seine Innehaltung zu kontrollieren (Artt. 128, 129), die Quote des ordentlichen oder außerordentlichen Steuerzuschlags festzusetzen (Art. 131), die Pläne und Kostenanschläge der budgetmäßig bewilligten Arbeiten sowie die Ausgaben auf das vorige Budget zu prüfen (Artt. 132, 133). Die Provinzialversammlung darf ferner Wünsche äußern hinsichtlich derjenigen Unternehmungen, die über das Provinzialinteresse hinausgehen, und Vorschläge machen hinsichtlich des Verfahrens bei Verteilung und Erhebung der Steuern und derjenigen Maßnahmen, die sie für gesetz- oder verordnungsmäßig erachtet.

Ob der Provinzialversammlung darüber hinaus eine legislatorische Befugnis zusteht, insbesondere in den zahlreichen Materien, die ihr in Art. 82 des von der europäischen Kommission 1880 für die europäische Türkei ausgearbeiteten Vilajetsgesetzentwurfes zugewiesen sind, ist aus dem Text des türkischen Gesetzes nicht ersichtlich. Art. 123 bestimmt nur ganz allgemein, daß jedes Mitglied die Diskussion von Fragen, die das Vilajet interessieren, vorschlagen kann. Wenn ein solcher Vorschlag von der absoluten Mehrheit angenommen ist, wird die Diskussion über die betr. Frage auf die Tagesordnung gesetzt. Ob die Provinzialversammlung in derartigen Fragen gesetzgeberische Befugnisse hat, ist nirgends zu erkennen. Das Zirkulartelegramm der Pforte an die türkischen Botschafter sagt allerdings: "Il a été accordéaux Conseils Généraux le droit de décision pour les affaires d'intérêt local."

Man wird daher abwarten müssen, wie diese Frage in praxi gelöst werden wird. Wird die gesetzgeberische Befugnis der Provinzialversammlung auf alle Materien ausgedehnt, welche die Provinz interessieren, so dürfte ihre Zuständigkeit nicht hinter dem zurückbleiben, was der russische Entwurf als Mindestmaß bezeichnet. Andernfalls würde auf eine Vervollständigung der Zuständigkeit hinzuwirken sein.

Daß die einzelnen Provinzen dadurch in die Lage versetzt werden, Provinzialgesetze oder- verordnungen zu schaffen, die dem Gesamtinteresse des Staates zuwiderlaufen, ist nicht zu befürchten; denn zu ihrem Inkrafttreten bedürfen diese nach Art. VII § 3 des russischen Entwurfes der Sanktion durch den Sultan; nach Art. 135 des Vilajetsgesetzes sind die Entscheidungen der Provinzialversammlung endgültig, wenn sie vom Vali gutgeheißen werden. Im anderen Falle hat der Vali binnen 20 Tagen Einspruch zu erheben, worauf die Angelegenheit vom Staatsrat entschieden wird. Die Sanktion des Sultans hinsichtlich der von der Provinzialversammlung beschlossenen Gesetze ist im Vilajetsgesetz nicht ausdrücklich erwähnt, ist aber als verfassungsgemäß selbstverständlich.

Hinsichtlich der Behandlung der Beschlüsse der Provinzialversammlung dürfte der türkische Modus vor dem russischen den Vorzug verdienen; denn da das russische Projekt nur die Sanktion des Sultans verlangt, würde die Prüfung aller von den Provinzialversammlungen beschlossenen Gesetze dem Sekretariat des Sultans zufallen, eine Behörde, die für eine derartige Aufgabe kaum als kompetent anzusehen wäre.

Verwaltungsräte der Sandjaks und Kazas. Die Zusammensetzung der Verwaltungsräte der Sandjaks und Kazas, wie sie im Art. VIII §§ 1 u. 2 des russischen Entwurfes vorgesehen ist, entspricht im Allgemeinen den Bestimmungen der Artt. 63 u. 64 des Vilajetsgesetzes. Nur wird auch hier, ebenso wie beim Verwaltungsrat des Vilajets, die von Rußland vorgeschlagene absolute Festlegung der Zahl der christlichen und der muhammedanischen Beisitzer (je 3 für den Verwaltungsrat des Sandjaks und je 2 für den des Kazas) durch den Grundsatz der proportionellen Verteilung zu ersetzen sein.

Für die Zuständigkeit der beiden Körperschaften sollen nach dem russischen Entwurf die Artt. 115, 116, 139, 140 des Projektes der europäischen Kommission von 1880 maßgebend sein. Dies dürfte im Wesentlichen mit den Bestimmungen der Artt. 69-71 des Vilajetsgesetzes in Einklang zu bringen sein, die über die Zuständigkeit der Verwaltungsräte eine Reihe von Fragen offen lassen und daher besser durch eine präzisere Fassung zu ersetzen wären. Ob hierzu die genannten Artikel des Projekts von 1880 geeignet sind oder ob auch diese eine den heutigen Verhältnissen Rechnung tragende Ergänzung bedürfen, ist eine Frage, deren Lösung am besten den Generalinspektoren vorbehalten bleibt.

Gemeinden. Die in Art. IX des russischen Entwurfs enthaltenen Vorschläge für die Einteilung und Verwaltung der Gemeinden entsprechen den in den Art. 7-9 des Reformdekrets von 1895 getroffenen Bestimmungen und geben zu Bedenken umsoweniger Anlaß, als die Pforte, wie das im Entwurf vorliegende Gemeindegesetz zeigt, im Begriffe ist, sie in die türkische Gesetzgebung aufzunehmen. Die Durchführung der Neueinteilung der Gemeinden zu überwachen, wird eine der Aufgaben der Generalinspekteure bilden, die dabei den Grundsätzen des Reformdekrets Rechnung tragen könnten.

Gerichte. Die Verbesserung der Rechtsprechung bildet einen der wichtigsten Bestandteile der nicht nur in Armenien, sondern im ganzen türkischen Reiche erforderlichen Reformen. Die Pforte hat diesen Gedanken in ihrer Reformgesetzgebung durch Annahme des Gesetzes über die Friedensrichter sowie des Grundsatzes der ambulanten Gerichte zur Geltung gebracht. In dieselbe Richtung zielen die Vorschläge des Art. V des russischen Entwurfes. Es wird sich indessen empfehlen, zunächst abzuwarten, welche Wirkung die von der Türkei freiwillig eingeführten Neuerungen unter der Aufsicht der Generalinspektoren in praxi haben werden. Wie in den meisten Rechts- und Verwaltungsfragen in der Türkei kommt es auch hier weniger auf die Einzelheiten des Gesetzes als vielmehr auf dessen sinn- und sachgemäße Anwendung an, die fast stets eine Personalfrage ist. Gerade in dieser Hinsicht aber sind den Generalinspektoren in den von der Pforte mitgeteilten Instruktionen die weitestgehenden Vollmachten erteilt, ein Faktor, der mehr als jeder andere eine Verbesserung der Rechtsprechung herbeizuführen geeignet ist. Sollte sich bei der Durchführung der Justizreform herausstellen, daß die einschlägigen türkischen Gesetze Lücken aufweisen oder änderungsbedürftig sind, so werden die Generalinspektoren auf Grund ihrer Erfahrungen und ihrer Amtsbefugnisse als die zuständigste Stelle zur Ausarbeitung von Verbesserungsvorschlägen angesehen werden müssen.

Polizei und Gendarmerie. Art. XI des russischen Entwurfes verlangt die Bildung eines Polizei- und eines Gendarmeriekorps für die Provinz. Das Polizeikorps ist für den Dienst innerhalb der Gemeinden bestimmt, während der Aktionsradius der Gendarmerie die ganze Provinz umfaßt. Grundsätzliche Bedenken sind gegen diese Einrichtung nicht zu erheben, die auch in der türkischen Organisation vorgesehen ist. Doch wird es sich auch hier empfehlen, den Grundsatz der absolut gleichen Zahl von Christen und Muhammedanern durch den gerechteren der Proportionalität zu ersetzen. Art XI § 2 des russischen Entwurfs bestimmt, daß das Oberkommando von Polizei und Gendarmerie europäischen Offizieren, die von der türkischen Regierung anzustellen wären, anvertraut werden solle. Die Türkei ist bereits im Begriff, diese Forderung zu verwirklichen. In dem Zirkulartelegramm an die türkischen Botschafter stellt sie ausdrücklich das Engagement fremder, allerdings auch einheimischer Spezialisten für Gendarmerie usw. in Aussicht. Es ist anzunehmen, daß sie gerade in die östlichen Vilajets, wo die Reformfrage besonders dringend ist, nicht einheimische, sondern fremde Spezialisten entsenden wird. Gleichwohl erscheint die Hervorhebung dieser Notwendigkeit durch die Mächte nicht unangebracht.

Die in Art. XI § 3 des russischen Projekts verlangte Anstellung von Feldhütern ist bereits in dem im Entwurf fertiggestellten türkischen Gemeindegesetz vorgesehen.

Militär. Gänzlich unannehmbar dagegen ist der Art. XII § 1 des russischen Entwurfs, wonach die in Armenien beheimateten Rekruten in Friedenszeiten nur dort ihrer Militärpflicht zu genügen haben. Es ist dies gleichfalls eine derjenigen Bestimmungen, die auf die Bildung einer autonomen Provinz hinzielen und die zu dem eisernen Bestand aller in der türkischen Geschichte wiederkehrenden Autonomiebestrebungen gehören. Au ein Gebiet von dem Umfange Armeniens angewandt, würde ihre Verwirklichung eine durch nichts gerechtfertigte Beschränkung der Landesverteidigung bedeuten und damit die Sicherung des türkischen Reiches gegen innere und äussere Feinde, die auch den armenischen Provinzen zugute kommt, verhindern, ganz abgesehen von der darin enthaltenen Schmälerung der Kommandogewalt des Sultans als obersten Kriegsherrn, die ein wesentliches Attribut seiner Souveränität darstellt.

Dagegen dürfte die in Art. XII § 2 enthaltene und bereits im Reformpaket von 1895 von der Pforte bewilligte Forderung der Auflösung der leichten kurdischen Kavallerieregimenter gerechtfertigt sein. Diese fasst ausschließlich aus Kurden rekrutierte Truppe hat sich in dem Nationalitätskampfe zwischen diesen und den Armeniern als ein äußerst unruhiges Element hervorgetan, das der türkischen Heeresdisziplin nur in beschränktem Maße unterworfen war und den Befehlen der Zentralregierung nur dann nachzukommen pflegte, wenn dadurch die Interessen der kurdischen Nation nicht berührt wurden. Die Beseitigung der Truppe ist daher für die Pazifizierung des Landes dringend geboten. Eine Schwächung der türkischen Wehrmacht ist von dieser Maßnahme nicht zu befürchten, da es der türkischen Heeresleitung unbenommen bleibt, das dadurch freiwerdende Soldatenmaterial in andere Truppenteile von gemischter Nationalität einzustellen.

Nationalität der Beamten. Gegenüber der in Art. XIII § 1 des russischen Entwurfes vorgeschlagenen Bestimmung, daß die Verwaltungsbeamten und Richter in Armenien zur Hälfte Christen und zur Hälfte Muhammedaner sein sollen, würden wir aus den oben dargelegten Gründen an dem Grundsatze der proportionellen Verteilung festhalten müssen. Jede andere Regelung müßte zur Zurücksetzung des einen oder des anderen Bevölkerungselements und damit zur Autorisierung des Nationalitätenkampfes führen.

Aus diesem Gesichtspunkte erscheint die Bestimmung des §2 desselben Artikels durchaus annehmbar, wonach bei der Verteilung der Mütessarif- und Kaimakamposten die Ziffern der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Betracht zu ziehen sind. Bedenklich dagegen ist der weitere russische Vorschlag, hierbei auch die Wichtigkeit der wirtschaftlichen Interessen derselben zu berücksichtigen; denn es dürfte unmöglich sein, die letztere auf eine kommensurable , d.h. ziffernmäßige Formel zu bringen. Bei jedem anderen Verfahren aber wäre willkürlichen Auffassungen und damit der Anhäufung neuen Zündstoffes Tür und Tor geöffnet.

Empfehlenswert wäre auch die Einführung einer Maßnahme die bereits im Reformplan von 1895 vorgesehen war, daß nämlich dem Vali, Mütessarif und Kaimakam, wenn er Muhammedaner ist, ein Christ und umgekehrt, wenn er Christ, ein Muhammedaner als Muavin (Gehilfe) beigegeben werden muß.

Nomaden. Die Forderung des Art. XIV, daß nur der seßhaften Bevölkerung das aktive und passive Wahlrecht zustehen solle, dürfte Erwägungen praktischer Natur entsprungen sein, deren Berechtigung sich nicht leugnen läßt. Bereits im Reformprojekt von 1895 ist eine analoge Bestimmung enthalten.

Amtssprache. Auch gegen die Vorschläge des Art. XV sind Einwendungen nicht zu erheben, da sie auf dem Grundsatz der gleichen Behandlung der drei Hauptnationalitäten, Türken, Armenier und Kurden beruhen und mutatis mutandis bereits für das arabische Sprachgebiet von der Türkei in dem vom 6. April d.J. datierten Zirkulartelegramm des Ministers des Innern an die Valis der arabischen Provinzen anerkannt sind.

Schulen. Ebensowenig Anlaß zu Bedenken geben die Bestimmungen in Art. XVI des russischen Entwurfs über die Gründung nationaler Privatschulen unter Aufsicht des Generalgouverneurs.

Strittiger Grundbesitz. Art. XVII des russischen Projekts schlägt vor, unter dem Vorsitze des Valis eine Kommission zu bilden zum Studium der Bedingungen für die Rückgabe der ursprünglich Armeniern gehörigen, okkupierten Ländereien bezw. für eine entsprechende Entschädigung der Eigentümer in Geld oder anderen Ländereien. Eine ähnliche Kommission war schon im Reformdekret von 1895 von der Pforte vorgesehen. Nach Erlaß der türkischen Immobiliarreformgesetze erscheint indessen eine derartige Maßnahme überflüssig, denn die Artt. 20 ff. des Gesetzes über Abgrenzung und Abschätzung von Immobilien vom 11.Rebi-ul-Ewel 1331 (5. Februar 1328) schreiben bereits eine eingehende Prüfung der Eigentumsverhältnisse vor und dürften, unter der Kontrolle der Generalinspektoren auf armenische Verhältnisse sachgemäß angewandt, zu demselben Ergebnis führen, wie die von Rußland vorgeschlagene Spezialkommission, nämlich zur Klärung und Festlegung der sehr verwickelten Eigentumsfragen am Grundbesitz.

Die Frage der Entschädigung ist eine reine Rechtsfrage. Eine Verpflichtung der türkischen Regierung, die depossedierten Armenier mit Geld oder Ländereien zu entschädigen, wird nur dann anerkannt werden können, wenn im Einzelfalle ein Verschulden der Regierung nachweisbar ist. Es wird Sache der Generalinspektoren sein, auf eine objektive Behandlung dieser Frage hinzuwirken; ebenso wird ihnen überlassen werden müssen, zu prüfen, wieweit und unter welchen Bedingungen über die rechtlichen Verpflichtungen der Regierung hinaus depossedierten armenischen Ackerbauern im Interesse der Beruhigung des Landes Staatsländereien überlassen werden können.

Sonderrechte der armenischen Nation. Der russische Entwurf schlägt in Art. XVIII vor, die Unverletzlichkeit der im Sahmanatrutium [?] von 1863 und im Beraten der Sultane der armenischen Nation gewährten Recht und Privilegien ausdrücklich anzuerkennen. Es handelt sich hierbei um die Stellung der armenischen Nation als selbständiger Religionsgemeinschaft. Gegen die nochmalige ausdrückliche Anerkennung der in dieser Beziehung vorhandenen wohlerworbenen Rechte der Armenier durch die Pforte bestehen keinerlei Bedenken.

Muhadschirs. Unannehmbar dagegen ist der in Art. XIX des russischen Entwurfes formulierte Vorschlag, daß in Armenien keine muhammedanischen Rückwanderer aus christlichen Ländern (Muhadschirs) angesiedelt werden sollen. Der Zweck dieses Vorschlages ist offenbar, zu verhindern, daß das gegenwärtige Stärkeverhältnis von Muhammedanern und Christen zu Ungunsten der Letzteren verschoben werde. Dann würde indessen der als wirksamste Garantie für die Beruhigung des Landes an die Spitze jeder Reformaktion zu stellende Grundsatz der gleichen Behandlung aller Bevölkerungselemente erheischen, daß auch die armenischen Rückwanderer aus Amerika, deren Zahl nach Einführung der Reformen beträchtlich steigen wird, nicht in Armenien angesiedelt werden dürfen, eine Bestimmung, zu der sich Rußland kaum wird verstehen wollen.

Wir werden daher dafür eintreten müssen, daß sowohl für Christen wie für Muhammedaner der Grundsatz der Niederlassungsfreiheit in Armenien offen gehalten wird, zumal im Interesse der wirtschaftlichen Entwickelung der Ostprovinzen Kleinasiens der Zuzug der übrigen, arbeitsamen und mit neuen Methoden bekannten Rückwanderer nur willkommen geheißen werden kann. Die Verwirklichung des russischen Vorschlages würde, ganz abgesehen von dem Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des türkischen Staates und der darin liegenden Souveränitätsverletzung, die armenischen Provinzen auch hinsichtlich der Rückwandererfrage zu einer Ausnahmezone stempeln, deren Verhinderung im Interesse der Einheitlichkeit der Türkei dringend geboten erscheint.

Die in Art. XX u. XXI des russischen Entwurfes enthaltenen Vorschläge betreffend Ausarbeitung eines organischen Statuts für die armenische Provinz sowie von Sonderbestimmungen zugunsten der außerhalb derselben, besonders in Kilikien ansässigen Armenier sind für uns unannehmbar, da sie die in Art. I des russischen Projektes vorgesehene und von uns bereits abgelehnte Zusammenfassung der sechs alten armenischen Vilajets zu einer einzigen Provinz zur Voraussetzung haben.

Kontrolle der Reformen durch die Mächte. Art. XXII des russischen Entwurfes schlägt vor, daß die Mächte die Ausführung aller Bestimmungen des Reformplanes kontrollieren sollen. Über die Form dieser Kontrolle ist nichts Näheres gesagt; die Prüfung der Einzelheiten wird daher voraussichtlich bei den Beratungen der Botschafter erfolgen.

Sowohl das Memorandum von 1895 wie das Reformdekret vom selben Jahre sahen eine ständige Kontrollkommission vor, die aus einem muselmanischen Präsidenten und zur Hälfte aus christlichen, zur Hälfte aus muhammedanischen Mitgliedern bestehend, auf der Pforte tagen sollte. Als Aufgabe dieser lediglich aus türkischen Beamten zusammengesetzten Kommission wird im Reformdekret bezeichnet "de surveiller l'exacte application des réformes." Es wird ferner bestimmt, daß die Botschaften die Ansichten, Mitteilungen und Informationen, die sie für nötig erachten, durch ihre Dragomane der Kontrollkommission vorlegen sollen.

Nach den bisherigen privaten Besprechungen zwischen den Botschaften scheinen diese darin einig zu sein, daß bei der bevorstehenden Reformaktion den Mächten eine weitergehende Kontrolle einzuräumen sei. Über die Form derselben haben noch keine näheren Untersuchungen stattgefunden.

Es dürften in der Hauptsache zwei Typen in Frage kommen, je nachdem, ob man eine Kontrollkommission für unerläßlich erachtet oder nicht. Im ersteren Falle würde die Bildung einer internationalen Kontrollkommission ins Auge zu fassen sein, in die jede der beteiligten Botschaften einen Delegierten zu entsenden hätte. Den so vorhandenen sechs fremden Mitgliedern müßten, um die Frage für die Pforte überhaupt diskutierbar zu machen, mindestens ebensoviel türkische Delegierte an die Seite gestellt werden; auch wird der Vorsitzende voraussichtlich ein Türke sein müssen. Als Sitz dieser Kommission käme entweder Constantinopel oder eine der wichtigsten Städte Armeniens, etwa Erzurum oder Kharput in Betracht. Für die letztere Alternative spräche die Möglichkeit einer besonderen Beobachtung, während Constantinopel den Vorzug der unmittelbaren Fühlung mit den Zentralbehörden für sich hätte. In diesem Falle könnte die persönliche Beobachtung durch Unterkommissionen, die alljährlich die armenischen Provinzen zu bereisen hätten, ausgeführt werden.

Es fragt sich indessen, ob die Mächte nach Bildung der Generalinspektorate nicht überhaupt von der Einsetzung einer Kontrollkommission absehen könnten. Die nötige Kontrolle könnte in diesem Falle in der Weise ausgeübt werden, daß die Generalinspektoren der armenischen Sektoren gehalten würden, Abschriften ihrer an die Zentralregierung gesandten Berichte dem Doyen der Botschafter zugehen zu lassen, der sie an die Vertreter der fünf anderen interessierten Großmächte weiterzugeben hätte. Die Botschafter würden auf diese Weise über alle Stadien der armenischen Reformaktion auf dem Laufenden gehalten und wären in die Lage versetzt, etwaige Widerstände der Pforte gegen berechtigte vom Generalinspektor angeregte Neuerungen zu beseitigen. Die Botschafter würden zwar bei Ausübung ihrer Kontrolle in erster Linie auf die Generalinspektoren als Informationsquelle angewiesen sein, doch hätten sie stets die Möglichkeit, deren Angaben durch ihre in Armenien befindlichen Konsuln oder durch gelegentliche Reisen von Botschaftsbeamten in den betreffenden Gebieten nachprüfen zu lassen. Der größte Vorteil, den diese Kontrollmethode böte, läge darin, daß die zahllosen Beschwerden der Armenier, die jetzt den einzelnen Botschaften zugehen und von diesen je nach ihrem Verhältnis zur Pforte verschieden und daher fast nie erfolgreich behandelt werden, an die Generalinspektoren als die einzig zuständige Stelle verwiesen und dadurch einer höchst wünschenswerten und zweckdienlichen Kanalisation zugeführt werden könnten.

Auch dürfte es wesentlich leichter sein, die Pforte zur Annahme dieser in der Sache sehr wirksamen, in der Form aber der Öffentlichkeit verborgenen Kontrolle zu bewegen, als zu einer Ueberwachung durch eine internationale Kommission, die der türkischen öffentlichen Meinung stets als Ausdruck des Mißtrauens der Mächte gegen die Aufrichtigkeit der Pforte und als schwerer Eingriff in die türkische Souveränität erscheinen müßte.



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