1915-08-21-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14087
Zentraljournal: 1915-A-24724
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 08/22/1915 a.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Direktor des Deutschen Hülfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient Friedrich Schuchardt an das Auswärtige Amt

Privatschreiben



Frankfurt a. Main, den 21. August 1915
Unter Bezugnahme auf mein gestriges Schreiben überreiche ich Ihnen heute einen mir ferner zugegangenen Bericht. Ich befürchte, dass sehr bald in den Blättern des neutralen und des uns feindlichen Auslandes diese und ähnliche Berichte erscheinen werden und dass man unser Vaterland mitschuldig macht an den Ereignissen, die sich im Lande unserer Bundesgenossen und zum Teil unter den Augen der von Deutschland gestellten Vertreter vollziehen.

Hochachtungsvoll
F. Schuchardt

Anlage
Bericht über die Lage in Ersindjan, (28.)1 Juni 1915. [siehe auch Dokument 1915-07-28-DE-001]

Die beiden Unterzeichneten haben einige Jahre unter Armeniern und Kurden gearbeitet. Vom Oktober 1914 bis April 1915 pflegten wir in Erzerum türkische Soldaten und traten dann in den Dienst des Roten Kreuzes in Ersingjan, wo ein Hospital eingerichtet ist mit 4 deutschen Ärzten und einem grossen Pflegepersonal.

Anfang Juni teilte uns der Leiter der Rote Kreuz Expedition, Stabsarzt Dr. Colley mit, dass die Armenier in Wan sich gegen die Regierung erhoben hätten und dass Befehl gekommen sei, ihre Volksgenossen aus den Provinzen, wo sie in der Majorität sind, nach der mesopotamischen Ebene zu verpflanzen. Es würden aber keine Massaker stattfinden, sondern die Ausgewiesenen sollten mit allem Nötigen versehen werden, und für ihre Sicherheit würde durch militärische Eskorte gesorgt. Jeglicher Verkehr mit den durchziehenden Armeniern wurde uns verboten, ebenso wurden weitere Ritte und Spaziergänge untersagt. Die in Ersingjan wohnenden Armenier bekamen einige Tage Zeit, um ihre Sachen zu verkaufen, und vor dem Auszug wurden die Schlüssel ihrer Häuser der Behörde übergeben.

Am 7. Juni ging der erste Transport ab. Er bestand hauptsächlich aus Wohlhabenderen, die sich einen Wagen mieten konnten, und sie sollen wirklich das nächste Reiseziel Charput erreicht haben. Am 8. 9. & 10. Juni verliessen neue Scharen die Stadt, im Ganzen 20 – 25000 Personen. Nach Aussagen der anwesenden deutschen Ärzte ging der Auszug in völliger Ordnung vor sich, die kleinen Kinder waren vielfach auf Ochsenwagen untergebracht und der Zug von Militär begleitet. Sehr bald hörten wir Gerüchte, dass die Kurden hier die wehrlose Schar überfallen und völlig ausgeraubt hätten. Die Wahrheit dieser Gerüchte wurde von unserer türkischen Köchin bestätigt. Die Frau erzählte uns unter Tränen, dass die Kurden die Frauen misshandelt und getötet hätten und die Kinder in den Eufrat geworfen, sie sagte uns auch, dass viele armenische Kinder in Ersingjan zurückgeblieben und von den Türken aufgenommen wären, ihr Sohn hätte auch eine genommen.

Durch den armenischen Arzt Kafafian erfuhren wir folgendes:

Zwei junge, auf dem amerikanischen College in Charput ausgebildete Lehrerinnen waren mit den übrigen Ausgewiesenen auf dem Wege durch das Kemagh Tal, als sie am 10. Juni unter Kreuzfeuer genommen wurden, vorne Kurden, hinten nach ihrer Meinung die halbregulären Truppen eines gewissen Talaat. In ihrem Schrecken warfen sie sich zu Boden und stellten sich tot. Als das Schiessen aufgehört hatte, gelang es ihnen und dem Verlobten der einen, der als Frau verkleidet war, nach Ersingjan zurückzukommen. Ein türkischer Klassengefährte des jungen Mannes war ihnen behilflich. Als sie die Stadt erreicht hatten, wollte ein Gendarm die Braut in sein Haus führen und als der Verlobte protestierte, erschoss er diesen. Die beiden jungen Mädchen wurden in vornehmen türkischen Häusern untergebracht und liessen uns durch den oben erwähnten Arzt flehentlich bitten, sie ja nach Charput zu bringen. Am 11. Juni wurden nun reguläre Truppen nachgeschickt, um ”die Kurden zu bestrafen.” Anstatt dessen haben sie - die Truppen - die ganze wehrlose Schar, die zum allergrössten Teile aus Frauen und Kindern bestand, niedergemacht. Aus dem Munde türkischer Soldaten, die selber dabei waren, haben wir es hören müssen, wie die Frauen auf den Knieen um Erbarmen gefleht und wie manche ihre Kinder selber in den Fluss geworfen. Auf unser entsetztes: ”Und ihr schiesst auf Frauen und Kinder” kam die Antwort: ”Was sollen wir machen. Es ist ja Befehl.“ Einer fügte hinzu: ”Es war ein Jammer mitanzusehen; ich habe auch nicht geschossen, ich tat nur so.“ Uns erfasste ein tiefes Mitleid mit den armen Jungen, die jetzt systematisch zu Teufeln gemacht werden. Die Soldaten erzählten, das es das 86. Kavallerieregiment gewesen sei, dass unter Führung sämtlicher Offiziere die Untat vollbracht habe. Sie hätten 4 Stunden nötig gehabt, um alles zu töten. Dann hätten Ochsenwagen bereitgestanden, um die Leichen in den Fluss zu schaffen. Am Abend konnte man die ”Krieger” mit Raub beladen nach Hause kehren sehen. ”Haben wir unsere Sache nicht gut gemacht?” frugen einige von ihnen den deutschen Apotheker, Herrn Gehlsen, der auch türkisch verstand und ebenso entrüstet war wie wir. Sowohl Armenier wie Türken waren leider der Ansicht, dass die Deutschen dies Vorgehen billigen und wurden in ihrer Auffassung dadurch bestärkt, dass Dr. Colley erklärte, in der Sache keinen Finger rühren zu wollen, er habe höhere Interessen zu wahren. Er liess es auch zu, dass die Familien der bei uns diensttuenden Krankenwärter und Handwerker weggeführt wurden. 2 der Aerzte haben da Einspruch erhoben, doch ohne Dr. Colley und ohne Erfolg. Sogar die typhuskranke Frau eines Soldaten, der bei uns war, musste fort. Unser armenischer Hospitalschuster gab uns einen Einblick in seine Gefühle: ”Ich bin 46 Jahre alt und habe nie etwas wider die Regierung getan. Seit meiner Kindheit ist alle Jahre für mich Lösegeld gegeben worden; nun muss ich doch Soldatendienst tun und man nimmt mir meine Familie, meine krummgebeugte 70jährige Mutter, meine Frau und 5 Kinder.” Und nun jammerte er um sein jüngstes Töchterchen von 1 1/2 Jahren: ”Nie hast du solch ein schönes Kind gesehen, es hatte Augen wie Teller so gross und immer rief es nach Vater. Wenn ich nur könnte, wie eine Schlange wollte ich ihr auf dem Bauche nachkriechen.” Und er weinte. Am folgenden Tage kam er ganz still und sagte: ”Jetzt weiss ich es, sie sind alle tot.” Es war, als ob die Gewissheit über ihr Schicksal ihn beruhigte.

Unsere türkischen Wärter sagten uns, dass auch diese armenischen Soldaten bald getötet werden würden und zeigten dabei auf einen Berg, hinter den man sie dann führenden würde. Nach der Metzelei wurden mehrere Tage in den Kornfeldern um Ersingjan herum Menschenjagd gehalten, wo sich viele versteckt haben sollen. Wir beide sannen darüber nach, was wir tun könnten, um den Ausgewiesenen zu helfen. Wir wussten damals noch nicht, dass man entschlossen war, das ganze Volk umzubringen und dachten, wir könnten wenigstens einem der vielen Züge von Nutzen sein, wenn wir ihn durch das Kemagh Tal nach Charput begleiteten. Da wir unter den Kurden Einfluss haben, hofften wir, die Unglücklichen gegen deren Angriffe sowie gegen die Grausamkeiten der Gendarmen schützen zu können. Als wir Dr. Colley diesen Plan mitteilten, sagte er: ”Es ist mir lieb, dass sich unsere Gedanken begegnen, denn Sie, Schwester Eva Elvers haben eine Äusserung getan, durch die Sie sich schwer am türkischen Staate versündigt haben. Der Verwalter des Hospitals hat sich bei mir beklagt, dass sie zu den Kranken gesagt hätten, Gott würde Verbrechen an Frauen und Kindern strafen.” (Schwester Eva hat das nicht den Kranken, sondern nur dem Verwalter gesagt, der eine hässliche Bemerkung über die Armenier gemacht hatte.) Ich schreibe noch heute an den hiesigen Regierungsvertreter, dass Sie gehen, weil ich sonst dem Manne nicht unter die Augen treten kann, aber Sie können noch einige Tage bleiben, bis Sie Ihre Sachen geordnet haben.” Wir telegrafierten unsere Entlassung an den deutschen Konsul in Erzerum, Herrn von Scheubner-Richter, der von den sonst so deutschfeindlichen Armeniern sehr gerühmt wurde, da er sich unausgesetzt für sie bemüht. Wir frugen auch, ob er im Interesse Deutschlands nicht nach Ersingjan kommen könnte. Antwort: ”Abkommen jetzt unmöglich: Dienstag den 22. 6. durchreisende Österreicher abwarten.”

Von jetzt an kamen fortwährend Züge von Ausgewiesenen durch Ersingjan, doch sahen wir sie nicht, da sie meist in der Nacht vorbeigetrieben wurden oder auf anderem Wege. Doch am Abend des 18. gingen wir mit unserem Freunde, Herrn Gehlsen, vor unserem Hause auf und ab. Da begegnete uns ein Gendarm, der uns erzählte, dass kaum 10 Minuten oberhalb des Hospitals eine Schar Frauen und Kinder aus der Baiburtgegend übernachte. Er hatte sie selber treiben helfen und erzählte nun in erschütternder Weise, wie es ihnen auf dem weiten Wege ergangen sei. ”Schlachtend, schlachtend, bringen sie sie daher. Jeden Tag 10 – 12 Männer getötet und in die Schluchten geworfen, den Kindern, die nicht mitkommen könnten, die Schädel eingeschlagen, die Frauen bei jedem neuen Dorfe beraubt und geschändet. Ich selber habe 3 nackte Frauenleichen begraben lassen, Gott möge es mir zurechnen”, so schloss er seinen grauenerregenden Bericht. Während wir mit diesem Manne sprachen, waren die deutschen Herren zu Gaste bei einem türkischen Offizier, der seine Genesung vom Typhus mit einem Gartenfeste feierte.

Am folgenden Morgen in alle Frühe hörten wir, wie die Todgeweihten vorüberzogen. Wir schlossen uns ihnen an und gingen mit ihnen zur Stadt. Der Jammer war unbeschreiblich. Es waren nur 2 Männer übrig geblieben, von den Frauen waren einige geisteskrank geworden; eine rief: ”Wir wollen Moslem werden. Wir wollen Deutsche werden, was ihr wollt, nur rettet uns, jetzt bringen sie uns nach Kemagh und schneiden uns die Hälse ab.” Dabei machte sie eine bezeichnende Gebärde. Andere flehten uns für ihre Kinder an, wieder andere zogen stumpf und teilnahmslos daher. Als wir uns der Stadt näherten, kamen viele Türken geritten und holten sich Kinder oder junge Mädchen. Am Eingang der Stadt, wo auch die deutschen Aerzte ihr Haus haben, machte die Schar einen Augenblick halt, ehe sie den Weg nach Kemagh einschlug. Hier war es der reine Sklavenmarkt, nur dass nichts gezahlt wurde; die Mütter schienen die Kinder gutwillig abzugeben und Widerstand hätte auch nichts genützt. Wir nahmen 6 Jungens von 8 – 14 Jahren, die sich verzweifelt an uns festkrallten und 1 kleines Mädchen. Dann zog die übrige Schar, vielleicht einige hunderte, weiter unter lautem Jammergeschrei, während die berittenen Gendarmen ihre Peitschen über ihnen schwangen. Das kleine Mädchen übergaben wir nun der freundlichen Köchin in Dr. Colleys Hause mit der Bitte, sie in ihrer Küche zu behalten, bis wir sie am Abend abholen könnten. Doch der Adjutant von Dr. Colley, Riza Bey, schlug die Frau und warf das Kind auf die Strasse. Unterdes gingen wir mit unseren Jungens in das Hospital zurück, wo wir von Dr. Colley Erlaubnis erhielten, sie in unseren Zimmern zu lassen, bis wir unsere Sachen gepackt hatten. Sie bekamen auch zu essen und wurden bald ruhiger. ”Nun sind wir gerettet”, riefen sie voller Freude, als wir sie angenommen hatten und liessen unsere Hände nicht los und als wir im Hause waren: ”Könnt ihr uns helfen, dass wir nicht Moslem werden brauchen? Und ist euer Kreuz auch das unsre?” Der Kleinste, Krikor, der Sohn eines reichen Mannes in Baiburt, wollte sich nicht trösten lassen, er sah zum Erbarmen aus, wie er da sass in der Jacke seiner Mutter mit einem vom Weinen aufgedunsenen Gesicht. Plötzlich schoss er wie ein Pfeil zum Fenster und auf einen vorübergehenden Gendarmen zeigend, rief er: ”Das ist der Mann, der meinen Vater tötete!” Die Jungens kramten nun ihr bisschen Geld heraus, und übergaben es uns. 475 Piaster. Ihre Väter hatten es ihnen anvertraut in der Hoffnung, dass man es bei ihnen nicht suchen würde. Wir ritten nun in die Stadt und zeigten bei der Behörde an, dass wir Jungens genommen und sie gern nach Mesereh oder auch nach Deutschland bringen wollten. Es fiel uns auf, dass uns auf der Regierung niemand die Pferde abnahm, sonst aber war man freundlich und versprach, den Knaben für die Reise türkische Namen geben zu wollen. Daraufhin packten wir im Hospital unsere Sachen und zogen dann am Abend mit unseren Sachen in ein Hotel, wo wir die Nacht verbrachten. Einmal wurde laut angeklopft und gefragt, ob dort 2 deutsche Frauen wären, sonst geschah nichts besonderes. Am Morgen frühstückten wir in der Kaffeehalle. Der Hotelbesitzer knüpfte ein Gespräch mit uns an und erzählte, dass von Konstantinopel Befehl gekommen sei, sämtliche Ausgewiesene zu töten. Sie hätten dieses Schicksal verdient, weil die Armenier in Wan solche Greuel an den Türken verübt hätten. Wir sagten ihnen und den Anderen, die dabei waren, dass, wenn die Armenier sich versündigt hätten, sollte man die Schuldigen standrechtlich hinrichten zu Hunderten, ja zu Tausenden, wenn nötig, dass aber die Abschlachtung von wehrlosen Unschuldigen Teufelswerk wäre. Der Chodscha – mohammedanische Geistliche unseres Hospitals – wollte uns noch klar machen, dass die Türken eigentlich mit grosser Milde verführen; die Armenier hätten die Türken gemartert, weil ihre Religion eine geringere sei und sie selber unwissend, die erleuchteten Moslems aber dürften solches nicht vergelten, sondern müssten sich damit begnügen, ihre Opfer einfach zu töten. Er schloss mit dem Ausspruch: ”Diese Sache ist von Gott; wenn er nicht Mitleid hat, warum sollt ihr es haben?”.

Wir gingen nun nochmals zum Gouverneur, um unsere Angelegenheit endgültig zu erledigen. Bisher hatten wir immer nur seinen Vertreter getroffen, diesmal war er selber da und schien entschlossen, uns seine Ueberlegenheit recht fühlen zu lassen. Mit lauter Stimme schrie er uns wütend an. Wir als Frauen hätten uns nicht um Politik zu kümmern, sondern müssten der Regierung Ehrfurcht erweisen. Und so wie uns Dr. Colley am Arm genommen habe und auf die Strasse gesetzt, so werfe er uns auch jetzt zum Lande hinaus. Die Jungens durften wir nicht behalten, er schickte gleich einen Gendarmen hin, um sie zu holen. Auf unsere Frage, was wir eigentlich verbrochen hätten, antwortete er: ”Das wisst Ihr und Dr. Colley” und unsere Einwendung, dass es sich garnicht um Politik handle, da es nur unser Wunsch sei, zu retten, einerlei ob Christen oder Moslem im Elend wären, machte gar keinen Eindruck. Damit verliessen wir diesen Wüterich. Auf dem Wege begegneten uns die Jungens, die schnell an uns vorbeigetrieben wurden, sodass wir ihnen nichts sagen konnten und auch nicht das Geld zurückgeben. In all dem Grauenhaften war das vielleicht das bitterste, dass die Kinder am Ende denken konnten, dass wir, ihre letzten Freunde, sie auch betrügen wollten. Wir baten deshalb einen der Aerzte, ihre Aufenthalt ausfindig zu machen. Zu dem Zweck musste er aber einen Türken fragen, und am Tage unserer Abreise forderte uns der oben erwähnte Riza Bey das Geld ab unter dem Vorwande, es den Jungen zurückgeben zu wollen und das, obschon wir von anderer Seite erfahren hatten, dass sie schon erschossen waren.

Als wir ins Hotel zurückkamen, wollte man uns dort nicht mehr haben, sondern schickte uns in das entfernte armenische Viertel und wies uns eines der leeren Häuser an. Es war zu traurig, alle diese Wohnstätten zu durchwandern, wo bis vor kurzem glückliche Familien gehaust hatten, und jetzt lauter Verwüstung. Leute gingen ein und aus und holten sich, was ihnen noch wertvoll erschien. 2 grosse Hausbibeln sah ich auf der Strasse liegen. Wir wurden in einem Hause untergebracht, wo augenscheinlich grosse Ordnung und Sauberkeit geherrscht hatte, es war, als ob der Geist der Hausfrau noch da weilte. Im Vorraum sass ein Türke mit einer Armenierin, der er als Magd aufgenommen hatte, und deren Kinde. Der Mann spielte freundlich mit der Kleinen, aber die Frau wagte es nicht, mit uns zu sprechen. Bald verschwanden alle drei und wir waren nun allein, ohne die Tür verschliessen zu können und ohne Möglichkeit, uns Wasser und Nahrung zu verschaffen. Doch Dr. Colley hatte erfahren, in welcher Lage wir uns befanden und war freundlich genug, uns durch Dr. Lindenberg mit einem Wagen abholen zu lassen. Dies war der 19. Juni. Am folgenden Tag schickte der Gouverneur einen Lastwagen ohne Dach, auf dem wir 7 Tage bis Siwas fahren sollten. Uns wurde nämlich nicht erlaubt, über Mesereh zu gehen, wo unsere Sachen waren, wir hätten dort wohl gar zu viele Leichen gesehen. Wir weigerten uns aber ganz entschieden, einen solchen Wagen zu benutzen, und auf Dr. Colleys Vorstellungen hin bequemte sich der Gouverneur, am folgenden Tage einen Reisewagen zu schicken mit der Drohung, uns verhaften zu lassen, wenn wir nicht abreisten, da wir seine Leute rebellisch machten und er nicht dafür einstehen könne, dass wir nicht von ihnen erschossen würden. Wir hatten ihm ja gesagt, dass wir nach der Weisung des Konsuls, die österreichischen Offiziere abwarten wollten, die am 22. kommen sollten. Die türkischen Wärter, die uns freundlich gesinnt waren, sagten: ”Geht nicht, Ihr werdet unterwegs getötet!” Aber Dr. Colley erklärte uns vielleicht nicht mehr schützen zu können, und so zogen wir es vor, zu gehen. Herr Gehlsen war auch entlassen worden, durfte aber die Offiziere abwarten. So reisten wir am 21. Juni von Ersingjan ab. Die ersten beiden Tage war Dr. Lindenberg so freundlich, uns zu begleiten. Wir sahen am ersten Tage drei, am 2. zwei Leichen am Wege liegen. Bei der einen lag ein Hund und unser Kutscher meinte, der Gouverneur sollte doch die Leichen begraben lassen, sonst lernten die Hunde Menschenfleisch fressen. Unterwegs gesellten sich zwei angeblich türkische Offiziere zu uns, die einen armenischen Kutscher hatten. Am Abend sagte uns der uns begleitende Gendarm, dass die beiden Armenier seien, und auf unsere Frage, ob sie auch getötet würden, antwortete er: ”Sie werden wohl auch an ihren Ort gehen.” Sie unterhielten sich eifrig mit Dr. Lindenberg, dem gegenüber sie als echte Türken, sogar die Verschleierung der Frau priesen. Uebrigens hatte sich das Gerücht verbreitet, dass auch wir Armenierinnen wären; das erklärte die finstere Zurückhaltung der Gendarme, die später einem freundlicheren Wesen Platz machte. Die Leute konnten sich eben nicht denken, dass Deutsche etwas für die Armenier tun könnten. In Ersingjan sprachen wir mit einem ganz jungen Unterarzt über die Sache. Er sagte: ”Wenn in Deutschland ein Stamm Aufruhr machte, würdet Ihr ihn dann nicht niedermachen?” Als Schwester Eva antwortete: ”Wir würden die Schuldigen bestrafen, nie und nimmer aber Frauen und Kinder töten” meinte er: ”Dann sind Sie eben keine Deutsche.”

Auf dem Weg begegnete uns ein grosser Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in gutem Stande waren. Wir mussten lange halten, um sie vorüber zu lassen, und nie werden wir den Anblick vergessen. Einige wenige Männer, sonst Frauen und eine Menge Kinder, viele davon mit hellem Haar und grossen blauen Augen, die uns so toternst und mit solch unbewusster Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts. In lautloser Stille zogen sie dahin, die Kleinen und die Grossen bis auf die uralte Frau, die man nur mit Mühe auf dem Esel halten konnte, alle, alle um zusammengebunden vom hohen Felsen in die Fluten des Euphrat gestürzt zu werden. In jenem Tale des Fluchs Kemagh Boghasy. So machte man es jetzt, erzählte uns ein griechischer Kutscher, und die Leichen sind ja auch flussabwärts tiefer unten gesehen worden. Das Herz wurde einem zu Eis. Unser Gendarm erzählte, er habe eben einen solchen Zug von 3000 Frauen und Kindern von Mama Chatun, 2 Tage von Erzerum, nach Kemagh gebracht. ”Alle weg”, ”Hep gitdi bitdi”, sagte er. Wir: ”Wenn ihr sie töten wollt, warum tut Ihr es nicht in ihren Dörfern, warum erst sie so namenlos elend machen?” Er: ”So ist es recht, sie müssen elend werden. Und – wo sollten wir mit den Leichen hin? Die würden ja stinken!!!”

Die Nacht verbrachten wir in Enderes, in einem armenischen Hause, wo die Männer schon weg waren, während die Frauen noch unten hausten. Sie sollten am folgenden Tag abgeführt werden, wurde uns gesagt, sie selbst aber wussten es nicht, und waren deshalb noch verhältnismässig ruhig und konnten sich sogar freuen, als wir den Kindern Süssigkeiten schenkten. An der Wand unseres Zimmers stand mit Bleistift auf türkisch geschrieben: ”Unsere Wohnung ist die Bergesspitze, ein Zimmer brauchen wir nicht mehr; wir haben den bitteren Todestrunk getrunken, den Richter brauchen wir nicht mehr.” Es war ein heller Mondscheinabend. Kurz nach dem zu Bette gehen hörte ich mehrere Gewehrschüsse mit vorangehenden Kommandorufen. Ich verstand sofort, was es bedeutete und förmlich beruhigt schlief ich ein, froh, dass diese Opfer wenigstens einen schnellen Tod gefunden und jetzt vor Gott standen. Am Morgen wurde die Zivilbevölkerung aufgerufen, um auf Flüchtlinge Jagd zu machen. In allen Richtungen ritten Bewaffnete; unter einem schattigen Baum sassen zwei Männer und teilten die Beute, der eine hielt gerade eine blaue Tuchhose in die Höhe. Die Leichen werden ja alle nackt ausgezogen, wir sahen eine ohne Kopf. An jenem Morgen brachen die erwähnten Offiziere nicht mit uns auf. Auf unsere Frage antwortete man: ”Fragt nicht nach denen, die gehen Euch nichts an!” Um die Mittagszeit machten wir halt in einem entzückend gelegenen griechischen Dorf. Ueberhaupt prangte die Gegend, die wir durchreisten, in solcher Schönheit und Blumenpracht, wie wir sie in der Türkei noch nicht erlebt haben. In dem Dorfe trafen wir einen wild aussehenden bewaffneten Mann, der uns erzählte, dass er dort postiert sei, um die Reisenden zu überwachen, d.h. die Armenier zu töten. Er habe deren schon viele getötet und einen von ihnen zum König gemacht. Unser Kutscher erklärte uns, er meine damit 250 Wegearbeiter, deren Richtplatz wir unterwegs gesehen hatten. Es lag noch viel geronnenes Blut da, aber die Leichen waren entfernt. Dieser Mann hatte telephonische Anweisung, die beiden Offiziere zu erschiessen und wartete nun auf sie.

Am Nachmittag kamen wir in ein Tal, wo drei Haufen Wegearbeiter sassen, Moslems, Griechen und Armenier für sich. Vor den letzteren standen einige Offiziere. Wir fahren weiter einen Hügel hinan. Da zeigt der Kutscher in das Tal hinunter, wo etwa 100 Männer von der Landstrasse abmarschiert werden und neben einer Senkung in einer Reihe aufgestellt. Wir wussten, was nun geschehen würde, sahen es aber nicht. An einem andern Orte wiederholte sich dasselbe Schauspiel. Im Missionshospital in Siwas sahen wir einen Mann, der einem solchen Massakre entronnen war. Er war mit 95 anderen Wegearbeitern (die alle Soldaten sind) in eine Reihe gestellt worden, daraufhin hätten die 10 beigegebenen Gendarmen soviel wie sie konnten erschossen, die übrigen wurden von anderen Moslems mit Messern oder Steinen getötet, 10 waren geflohen. Der Mann selber hatte eine furchtbare Wunde im Nacken; er war zuerst ohnmächtig geworden; nach dem Erwachen gelang es ihm jedoch, den 2 Tage weiten Weg nach Siwas zu machen. Möge er in der Beziehung ein Bild seines Volkes sein, dass er die ihm jetzt geschlagene tödliche Wunde verwinden kann.

Eine Nacht verbrachten wir im Regierungsgebäude zu Zara. Dort sass ein Gendarm vor der Tür und sang unausgesetzt: ”Ermenilery hep kesditer” (Die Armenier sind alle getötet). Und im Telephon im Nebenraum unterhielt man sich über die noch einzufangenden. Einmal übernachteten wir in einem Hause, wo die Frauen gerade die Todesnachricht ihrer Männer erhalten hatten und die Nacht hindurch wehklagten. Der Gendarm sagte: ”Dieses Geschrei belästigt Euch, ich will hingehen und es ihnen verbieten!” Glücklicherweise konnten wir ihn daran verhindern. Wir versuchten es, mit den Aermsten zu reden, aber sie waren ganz ausser sich: ”Was ist das für ein König, der solches zulässt! Euer Kaiser muss doch helfen können, warum tut er es nicht u.s.w.” Bei einer anderen Gelegenheit waren sie von Todesangst gequält. „Alles, alles mögen sie uns nehmen bis aufs Hemd, nur das nackte Leben lassen.” Solches mussten wir immer wieder anhören und konnten nicht helfen und retten, konnten nichts tun, als auf den hinweisen, der den Tod überwunden hat. Am 28. Juni kamen wir in Siwas an, wo wir bei den Amerikanern wohnen durften und 2 Tage blieben. Dort waren 1200 Männer im Gefängnis, später hörten wir, dass die ganze armenische Bevölkerung weggeführt oder getötet wurde. In Kaisarieh wollte man uns internieren, doch gelang es den amerikanischen Missionaren, uns frei zu bekommen, dass wir bei ihnen wohnen durften. Durch Vermittlung der Deutschen Botschaft in Konstantinopel bekamen wir die Erlaubnis zum Weiterreisen. Ueber den Stand der Dinge dort und in Siwas wird natürlich von amerikanischer Seite berichtet werden, doch will ich hier von den Mädchen in Gemerek erzählen. Als die Männer alle weg waren, bekamen die älteren Frauen Erlaubnis, zu gehen, wohin sie wollten. 30 der hübschesten jungen Frauen und Mädchen aber wurden gesammelt und man sagte ihnen: ”Entweder Ihr werdet Moslem oder Ihr sterbt.” ”Dann sterben wir”, lautete die kühne Antwort. Daraufhin wurde an den Wali in Siwas telegraphiert, der die Weisung gab, die tapferen jungen Menschenkinder, deren viele in amerikanischen Schulen erzogen sind, an Moslem zu verteilen.

Von der russischen Grenze bis westlich von Siwas ist das Land jetzt ziemlich vollständig von Armeniern ”gesäubert” und es ist nur ein trauriger Trost, dass die Türkei durch das Morden ihrer besten Leute sich selber ruiniert hat. Die Türken selbst freuen sich auf den Tag, wo eine fremde Macht die Zügel in die Hand nehmen wird und Gerechtigkeit schaffen, und die geschehenen Untaten wurden keineswegs vom türkischen Volke als solches allgemein gebilligt, wohl aber von den sogenannten Gebildeten desselben.


Thora von Wedel-Jarlsberg/Eva Elvers

[Auswärtiges Amt 27. 8. an Botschaft Konstantinopel (Nr. 652)]


z. gefl. Information erg. übersandt.
1 letzter Tag der Aufzeichnung.



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