1915-06-17-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14086
Zentraljournal: 1915-A-18628
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/28/2012


Johannes Lepsius an den Legationsrat im Auswärtigen Amt Rosenberg

Schreiben



Potsdam, den 17. Juni 1915

Auf Veranlassung von Herrn von Tiedemann überreiche ich beiliegend eine Kopie der beiden unter dem 11. 6. an Excellenz von Wangenheim gerichteten Schreiben für die Akten des Auswärtigen Amtes.

Ergebenst


Johannes Lepsius


Anlage 1
Potsdam, den 11.6.1915

Excellenz

wollen mir gestatten, in Anknüpfung an den Depeschenwechsel mit dem Auswärtigen Amt die Gründe darzulegen, welche mir im gegenwärtigen Zeitpunkt einen Besuch in Konstantinopel im deutschen und türkischen Interesse nützlich erscheinen lassen.

Harte Maßregeln gegen armenische Untertanen, wie sie zur Unterdrückung von Spionage und lokalen Unruhen notwendig erscheinen, sind nur von episodischer Bedeutung und berühren unser deutsches Interesse nicht, wenn zugleich dafür gesorgt wird, dass das normale Verhältnis zwischen den leitenden armenischen Kreisen und der Pforte aufrechterhalten, und um so mehr befestigt wird.

Eine nüchterne Beurteilung der Lage der Armenier in der Türkei darf nicht vergessen, dass nur die Hälfte des armenischen Volkes in der Türkei, die andre volle Hälfte in Russland lebt. Es kann nicht günstig wirken, wenn die eine, die russische Hälfte, beständig umschmeichelt und umworben, und die andre, türkische Hälfte, nur Repressalien ausgesetzt ist. Die armenische Nation als Ganzes wird zuletzt der Seite zufallen, die, wie beim Seilziehen, die stärkere Kraft einsetzt, um die andre zu sich hinüberzuziehen. Es ist unmöglich das Seil zu zerschneiden. Sprache, Literatur, Kirche, Sitte sind ein unzerreissbares Band. Die Ausrottungspolitik Abdul Hamids hat das Seil nur noch fester gedreht. Eine Nation von 4 Millionen kann man nicht als quantité négligeable behandeln. Tut man es, so lehrt die Geschichte Albaniens, wohin der Weg führt. Die Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Russland wird ja mit dem gegenwärtigen Krieg nicht beendigt sein.

Vor 1895 war das Los der russischen Armenier im Kaukasus das gleiche wie das der türkischen in Hocharmenien. Wie hier den Kurden, so waren sie dort den Tataren preisgegeben. Woronzow Daschkow machte, als er 1905 zum Statthalter des Kaukasus berufen wurde, die Kursänderung in der Behandlung der Armenier zur Bedingung der Übernahme seines Amtes. Er fing sogleich an das armenische Seil auf die russische Walze aufzurollen, mit dem Erfolge, dass die kaukasischen Armenier jetzt enthusiastisch für Russland in den Krieg zogen, was sie 1895 fanatisch abgelehnt haben würden. Es ist den leitenden armenischen Kreisen in Konstantinopel hoch anzurechnen, dass sie trotz übelster Zwischenfälle, wie in Adana 1908 und trotz des fühlbaren Mangels an Gegenliebe unentwegt zur Komitee-Partei hielten und die Politik von Talaat und Enver rückhaltlos unterstützten. Ihr grundsätzlicher Standpunkt ist und bleibt, dass das armenische Volk seinen nationalen Charakter in Sprache, Kirche und Sitte, nur als Glied des osmanischen Reiches bewahren kann, nicht aber, wenn es dem russischen Völkerhunger als Fraß hingeworfen wird. Diese Grundanschauung zu bestärken und als Panier für alle Armenier aufzupflanzen, müsste eins der vornehmsten Ziele der türkischen inneren Politik sein.

Der gegenwärtige Krieg hat die Entente genötigt, ihre Teilungsabsichten auf die Türkei zu enthüllen, - ein unschätzbarer Gewinn für die deutsche auf die Erhaltung der Türkei gerichtete Politik. Auch die armenische Frage wird künftig nicht mehr zu Scheinmanövern benützt werden können. Umsomehr fordert sie eine befriedigende Lösung zu Gunsten der Türkei.

Das erfolgreiche Eintreten Ew. Excellenz für die armenischen Reformen bewirkte bei dem türkisch-russischen Seilziehen einen merkbaren Ruck nach der türkischen Seite. Die Entlassung von Hoff und Westenenk ein ebenso starkes Nachlassen nach der russischen Seite. Die Anwesenheit der Inspekteure hätte genügt, um den russischen Umtrieben den Boden zu entziehen. Der Weg nach Erzerum und Van von Konstantinopel aus ist weit, von Tiflis nah, ein Übelstand, der auch dem Einfluss der armenischen leitenden Kreise in Konstantinopel hinderlich ist. Sie können oft nicht, wie sie wollen, weil die Russen früher auf dem Platze sind und ihnen den Wind aus den Segeln nehmen. Wo es an regulären türkischen Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung fehlt, werden die armenischen Dörfer zwischen den russischen und kurdischen Mühlsteinen zermahlen. Darum darf man ihnen Selbstverteidigung nicht übel nehmen. Kurden und Russen stecken oft genug unter einer Decke.

Diese Interna könnte man im Kriege sich selbst überlassen, wenn im übrigen die Pforte den Armeniern den Rücken gegen Russland steifen und ihnen das Vertrauen einflößen würde, dass nach dem Kriege Alles wieder zurecht kommt.

Der Vorsprung, den Russland seit 10 Jahren durch ostentative Umschmeichelung der Armenier gewonnen hat, ist seit Kriegsbeginn von den englischen, französischen und russischen Pro Armenia-Komitees (denen nicht einmal Armenier angehören) nach Kräften ausgenützt worden. Die Agenten sind zwischen Paris, London und Petersburg hin und hergereist, um von den Entente-Regierungen grosse Befreiungsprogramme für die Armenier herauszuschlagen. Zwar spaltete sich auch hier das russische und englische Interesse. Russland wollte seinen Anteil an der Beute bis Alexandrette ausdehnen, aber keine Autonomie gewähren, England verlangte für die gesamte russische Beute Autonomie (mit dem Hintergedanken, das autonome Grossarmenien den Russen später wieder abzujagen).

Nun würde kein vernünftiger Armenier den Sperling in der Hand gegen die Taube auf dem Dache hergeben. Aber der Sperling (der armenische Reformplan) war leider schon vor den Tauben davongeflogen.

Ob einzelne türkische Armenier oder auch armenische Banden von Russland und England durch Geld und schöne Worte gedungen werden, ändert an der Gesamtlage ebensowenig wie die Käuflichkeit einzelner Türken und die Umsturzversuche der liberalen Unionisten. An den letzteren haben sich von Armeniern nur Handschakisten beteiligt, die in der Türkei fast keine Anhänger haben. Die Daschnakzagan haben mit der türkischen Oppositionspartei keine Verbindung und hatten mit den Umsturzplänen nichts zu tun.

Die führenden armenischen Kreise, Patriarchat, Nationalversammlung, Daschnakzagan sind auch jetzt noch gewillt, sich vor den Wagen der Türkei zu spannen und die russischen Armenier mit herüberzuziehen. Dr. Liparit hat auch von Sofia aus in diesem Sinne auf die armenischen Balkan-Komitees eingewirkt und der Förderung russischer Sympathien entgegengearbeitet. Es scheint, dass auch im Kaukasus die prorussische Bewegung abzuflauen beginnt, weil zwar viel versprochen, aber im gegebenen Fall nichts gehalten wird.

Ich nehme die Maßregeln des Kriegsministers gegen armenische Schulen, Presse u.s.w. nicht tragisch. Die Schließung der amerikanischen Colleges wird beim Patriarchat am wenigsten auf Widerstand stoßen. Auch Deportationen wären unbedenklich, wenn nicht die türkische Verwaltungstechnik (wie die Tscherkessen beweisen) meist den Erfolg hätte, dass die Deportierten eingehen.

Umsomehr sollte verhütet werden, dass durch Maßnahmen, deren militärischen Wert ich nicht beurteilen kann, das Vertrauen der türkischen Armenier zur Regierung untergraben wird. Die Türkei muss auch nach dem Krieg mit den Armeniern leben und deutsche Wirtschaftspolitik kann sie nicht entbehren. Man kann den bekannten Spruch auch umkehren: Si vis bellum, para pacem.

Die Folgerungen, die man meines Erachtens schon jetzt aus der Lage ziehen kann, sind folgende:

1. Es ist nichts damit erreicht, wenn man englisch-amerikanische und französische Schulen schliesst, man muss auch im gleichen Maaße deutsche Schulen eröffnen - oder sich mindestens nicht die Wege zu einer deutschen Schulpolitik verschütten. Wenn die Armenier, Griechen, Syrer u.s.w. künftig nicht deutsch lernen, werden sie auch künftig französisch und englisch sprechen und denken.

2. Will man den Einfluss der französisch-englisch-russischen Pro Armenia Komitees unterbinden, so muss man die Bestrebungen der deutsch-armenischen Gesellschaften und Vereine unterstützen. Jene arbeiten gegen diese für das türkische Interesse. Wir laufen Gefahr die Sympathien bei den mit uns verbundenen armenischen Führern und Volkskreisen zu verlieren, wenn wir in kritischen Situationen, die von den Ententekomitees fieberhaft ausgenützt werden, teilnahmlos und untätig bei Seite stehen und auf eine Geltendmachung unseres Einflusses verzichten müssen. Schon die Tatsache, dass ich Gelegenheit hätte, in Konstantinopel im Patriarchat und bei den führenden Männern beruhigend einzuwirken, würde genügen, um unseren bisherigen Einfluss zu sichern und die Brücke zu weiteren Verständigungen zu schlagen.

3. Wenn die Entente ihre armenischen Freunde mit der Türkischen Opposition zusammenführt, wie dies bei Scheriff Pascha in Paris geschieht, so sollten wir erst recht die Armenier, die auf uns hören, in ihrer Loyalität gegenüber der Türkei bestärken und ihr Einvernehmen mit der Pforte fördern. Es sollte durchaus möglich sein, zu verhüten, dass unsre türkischen Freunde durch armenische Sympathien, deren Wasser wir auf ihre Mühle leiten wollen, nicht verschnupft werden.

4. Man sollte sich nicht darauf beschränken, die türkischen Armenier mit der Pforte auszusöhnen. Die Türkei sollte auch die Sympathien der kaukasischen Armenier gewinnen. Es ist zehnmal mehr berechtigt, den Kaukasus, oder mindestens Kars, Eriwan und das Araxestal als Irredenta des türkischen Armeniens anzusehen, als umgekehrt Hocharmenien für eine russische Irredenta auszugeben.

5. Es ist nicht gering zu schätzen, dass wir die deutschen Sympathien für Armenien von Anfang an in das türkische Fahrwasser geleitet haben. Deutschland bringt jetzt noch jährlich ca. ¾ Millionen für Waisenhäuser, Kliniken, Schulen und Werkstätten auf, die in den 90er Jahren für die Opfer der Hamidischen Schreckenszeit gegründet wurden. Auch jetzt noch steuert jedes Dorf und jede Stadt in Deutschland für diese Anstalten bei. Man sollte diesen Kreisen die Gewissensbeängstigung ersparen, dass unser deutsch-türkisches Bündnis uns zwingen könnte, die Christen des Orients preiszugeben, und ihnen den Beistand vorzuenthalten, den sie von uns als ihren Glaubensgenossen erwarten können.

Auch in dieser Beziehung würde es beruhigend einwirken, wenn ich gegenüber den Verleumdungen, die schon jetzt von der Entente-Presse über deutsches Christentum in vollen Schalen ausgegossen werden, auf Grund eigener Einsicht erklären könnte, dass die Türkei die Grenze der militärischen Maßnahmen nicht überschreitet und im übrigen Wert darauf legt, mit ihren christlichen Untertanen ein gutes Einvernehmen zu unterhalten.

Ew. Excellenz ergebenster


[Dr. Johannes Lepsius]


Anlage 2

Kopie

Potsdam, den 11.6.1915

Die Vorstände der Deutschen Orient-Mission und der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, die heut versammelt sind, sprechen Ew. Excellenz für die oft bewiesene Unterstützung ihrer Bestrebungen ihren Dank aus und vertrauen darauf, dass auch in der gegenwärtigen kritischen Lage, Ew. Excellenz auf eine gerechte und maßvolle Behandlung der christlichen Bevölkerungselemente, die in die Wirren hineingezogen worden sind, hinwirken werden. Um unsre Beziehungen zum Patriarchat und den führenden armenischen Kreisen aufrechtzuerhalten und diese in ihrer loyalen Haltung gegenüber der Pforte zu bestärken, scheint es uns wünschenswert, dass unser Vorsitzender Dr. Lepsius nach Konstantinopel kommt, und im Einvernehmen mit Ew. Excellenz unsre armenischen Freunde berät.

gez. Dr. Paul Rohrbach
Roedenbeck, Superintendant.
Prof. D. Deissmann
Lürssen
P. Winckler
Dr. Johannes Lepsius
Dr. James Greenfield



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