1915-11-29-DE-003
Deutsch :: en de
Home: www.armenocide.net
Link: http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-11-29-DE-003
Quelle: DE/PA-AA/R14089
Zentraljournal: 1915-A-35268
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 12/06/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: No. 701
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/03/2012


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Wolff-Metternich) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



No. 701
Pera, den 29. November 1915

1 Anlage.

Im Anschluss an den Vorbericht vom 20. d. Mts. – J.No. 10102 1. – und mit Bezug auf die Berichte des Kaiserlichen Konsuls in Aleppo an Euere Exzellenz vom 8. und 16. d.Mts. (No. 25112 und 25773 A 35046.) beehre ich mich Euerer Exzellenz in der Anlage Abschrift der hier vom Ministerresidenten a.D. von Oppenheim überreichten Aufzeichnung betreffend den Armenieraufruhr in Urfa zu überreichen.


Metternich

Anlage

Die Armenierunruhen in Urfa.


Der Keim der Unruhen liegt monatelang zurück: er ist schon in den Vaner Ereignissen zu suchen. Die Kunde davon schuf bis nach Urfa eine gewisse abwartende Erregung, geschürt durch offenbar von jenem Aufruhrherd herübergekommene Propagandisten. Die Aufregung wuchs, als im Zusammenhang mit den allgemeinen Schutzmassregeln gegen ein Umsichgreifen der armenischen Gefahr auch in Urfa eine Reihe von Verhaftungen unter den Häuptern der Armenier erfolgten und die Betroffenen auf dem Wege der Verschickung umgebracht wurden. Weiter wurde diese Stimmung in Atem gehalten durch die Durchtransporte der aus der Gegend von Diarbekir und Van ausgewiesenen Armenier, die in einem ziemlich trostlosen Zustande Urfa passiert haben und dort massenhaft an Hunger und Krankheit zugrundegegangen sein sollen. Immerhin war wochenlang äusserlich von den sich vorbereitenden Ereignissen noch nichts zu spüren, sodass eine Verschickung der armenischen Einwohnerschaft von Urfa in grösserem Stile zunächst gar nicht in Frage gezogen wurde. Dass die feindlichen internierten Staatsangehörigen eine Rolle in der Vorbereitung der Revolte gespielt hatten, nimmt Graf Wolffskehl nicht an4..

Das Signal zum offenen Ausbruch der Unruhen gaben 2 deutlich bestimmbare Ereignisse. Das erste fällt in das Ende des Monats August. Damals wurde eine Gendarmeriepatrouille, die in einem Hause des Armenierviertels nach Waffen suchte, zur Hälfte niedergeschossen, der Rest flüchtete. Kaum wurde dieser Vorfall im Basar und umliegenden türkischen Viertel bekannt, so nahm die empörte muhammendanische Bevölkerung ihre Rache an den gerade im Basar und auf den Strassen befindlichen Armeniern, von denen gegen 100 niedergemacht wurden. Durch Eingreifen des Mutessarifs wurde jedoch weiteren Massacres rasch vorgebeugt. Die Armenier blieben darauf einige Tage in ihrem Viertel, wo sie sich verbarrikadierten, im übrigen aber ruhig verhielten. Es erfolgte andrerseits auch gegen sie nichts, nicht einmal eine Untersuchung wegen des Überfalls gegen die Gendarmeriepatrouille. So kehrte nach gewisser Zeit anscheinend der normale Zustand zurück.

Dann kam Ende September das zweite Ereignis: wiederum eine Schiesserei im Armenierviertel, deren Grund jedoch nicht aufgeklärt ist (auch nicht gegen wen sie gerichtet war). Sie war an sich ohne Bedeutung, da offenbar niemand verletzt wurde, hatte aber zur Folge, dass am nächsten Tage eine stärkere Gendarmeriepatrouille in das Viertel geschickt wurde, um den Vorfall zu untersuchen. Auf diese Patrouille wurde abermals geschossen und mehrere Gendarmen getötet; der Rest entkam durch Flucht. Nun zogen sich alle Armenier, die zufällig ausserhalb des Viertels waren, schleunigst in dieses hinein und in kürzester Zeit war der ganze armenische Stadtteil verbarrikadiert und in Verteidigungszustand gesetzt.

Das armenische Viertel, annähernd die Hälfte der ganzen Stadt, liegt für eine Verteidigung äusserst günstig auf einem Hügel, der vielfach Höhlen aufweist. Zu diesen hatten die Armenier in sehr geschickter Weise Zugänge aus den Häusern gegraben, und dort, ebenso, wie in Seitenstellen, die von tiefen Brunnen aus vorgetrieben waren, waren die Vorräte an Waffen und Munition versteckt (später, nach der Niederwerfung des eigentlichen Aufstandes dienten diese unterirdischen Anlagen den letzten Verteidigern als schwer auffindbare Zufluchtsstätten). Die Häuser des Viertels sind sämtlich aus Stein gebaut, zum Teil sehr fest. Auch in der Einrichtung der Häuser zur Verteidigung war mit unleugbarem militärischen Geschick vorgegangen worden: alle Türen und Fenster waren verbarrikadiert, in die Wände Schiesscharten gebrochen, die wenigen Strassenzugänge, die in das Viertel von aussen führen, konnten von quer vorliegenden Häusern, die besonders stark besetzt waren, der Länge nach bestrichen werden. Dasselbe System war auch weiter im Innern des winkligen Viertels immer wieder mit Erfolg und Geschick angewandt: das eine Gasse sperrende Haus jedesmal als besonderer Stützpunkt hergerichtet. Die Hauptstützpunkte waren: im Norden die von den Armeniern mit Gewalt besetzte amerikanische Mission, im Südwesten die armenische Kirche, Schule und umliegende Häuser, im Osten einige Gruppen besonders starker Häuser. Das ganze Viertel war in einzelne Abschnitte eingeteilt, deren jeder unter einem eigenen Führer stand. Die Führer dürften zum grossen Teil von auswärts gekommen sein (aus Diarbekir, Van, Zeitun). Die Verteidiger betrugen etwa 2000 waffenfähige Männer. Sie waren reichlich mit Gewehren, auch vielen kleinkalibrigen versehen und verfügten über viel Munition. Ein Maschinengewehr besassen sie nicht, dagegen sehr viel selbst fabrizierte Handgranaten. Der Gedanke liegt nahe, dass das hierfür notwendige Dynamit von den vielen beim Bahnbau angestellten armenischen Arbeitern im Laufe der Zeit beiseitegeschafft worden war.

Im Augenblick des Beginns der Verteidigung (Ende September) befanden sich auf türkischer Seite an bewaffneter Macht in Urfa nur 70-80 Gendarme, die natürlich völlig ohnmächtig waren. In den ersten Tagen des Oktober kam die erste militärische Unterstützung in Gestalt eines Bataillons an; aber auch dieses konnte noch an keinen ernsthaften Angriff denken. Am 4. Oktober traf[en] Fakri Pascha [und Graf Wolffskehl]5 ein. Am 5. folgte ein weiteres Bataillon mit 2 Feldgeschützen.

Am 6. Oktober begann der Kampf, in dessen Verlauf (am 12.) noch ein drittes Bataillon mit 2 12 ctm.-Haubitzen auf dem Platze erschien. Am 13. erfolgte dann der Hauptangriff von Süden aus dem Tale herauf gegen die Kirche. Am 14. wurde die letztere und die umliegenden Häuser gestürmt, am 15. die amerikanische Mission. Damit war der eigentliche Widerstand gebrochen. Die letzten Aufrührer verkrochen sich, wie schon angedeutet, in die Höhlen und Brunnen, aus denen sie dann im Laufe der nächsten 14 Tage hervorgeholt wurden; dabei kam es immer noch zu kleinen Einzelkämpfen.

Eine grössere Anzahl Häuser war durch das Geschützfeuer zerstört worden; auch die amerikanische Mission hatte einen Treffer in der Werkstatt und einen weiteren in der Kuppel ihrer Kirche. Auch durch entstehende Brände wurde eine Reihe von Häusern niedergelegt. Die Armenier mögen im Kampfe 3 - 400 Mann verloren haben, der Rest wurde gefangen genommen und harrt der weiteren Entscheidung.

Die türkischen Verluste betrugen während des Kampfes einige 50 Tote und 120 - 130 Verwundete; einige weitere Opfer wurden noch durch die Suche nach den letzten Versteckten gefordert.

Noch einige kurze Bemerkungen zur Rolle der amerikanischen Mission und ihres Leiters. Wie schon kurz erwähnt, hatten die Armenier bei Verbarrikadierung ihres Viertels die amerikanische Mission mit Gewalt besetzt. Gleichzeitig mit dem Vorteil, den ihnen für die Verteidigung das starke Gebäude bot, hofften sie wohl, man werde türkischerseits nicht auf die Mission zu schiessen wagen, solange sich der amerikanische Missionar darin befinde; deshalb hielten sie diesen gefangen in der Mission zurück. Der Missionar versuchte alsbald einen Brief an den Mutessarif mit der Bitte um Hilfe zu schreiben; der Brief wurde jedoch aufgefangen. Ein zweiter Brief, von einem Boten über die Mauer der deutschen Fabrik geworfen, gelangte glücklich an den Mutessarif und von diesem an das Militär. Der Antwortbrief von letzterem des Inhalts, der Missionar mit den bei ihm befindlichen Fremden, Waisenkindern etc. könne ruhig herauskommen (man wusste damals noch nicht, dass er von den Armeniern gefangen gehalten werde, sondern glaubte, er fürchte sich nur, die türkischen Vorposten zu passieren) wurde jedoch wieder aufgefangen. Als nach mehreren Tagen nichts erfolgte, schrieb man seitens des Militärs eine gleiche Botschaft für den Missionar mit schwarzen Buchstaben auf eine grosse weisse Leinwand (die Entfernung der Vorposten von der Mission betrug nicht mehr als 60 Schritt). Diese Nachricht wurde von dem Missionar richtig gelesen; trotz seiner Vorstellungen, dass nach diesem Avis für das türkische Militär keinerlei Verpflichtung mehr vorliege, das Gebäude der Mission um seiner Person willen zu schonen, liessen ihn aber auch jetzt die Armenier nicht frei, erklärten ihm vielmehr kategorisch, dass er niedergeschossen würde, sobald er den Versuch machte, das Haus zu verlassen. Der Missionar hat dann noch seinerseits auf ein grosses Tuch die Worte malen können: ”man lässt mich nicht heraus”. Im übrigen musste er während des ganzen Kampfes aushalten und wurde erst durch den Sturm der Türken auf die Mission befreit. Er und seine Leute waren unversehrt.


1A 34383 bei A 35115.
2A 35045.
3A 35046.
4Letzter Satz für den Verteiler gestrichen..
5Inhalb der Klammern für den Verteiler gestrichen.



Copyright © 1995-2024 Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.): www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved