1915-05-18-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/BoKon/168
Botschaftsjournal: A53a/1915/3343
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Leiter des Waisenhauses in Mamuret-ul-Aziz Johannes Ehmann an den Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim)

Schreiben



Mamuret-ul-Aziz, den 18. Mai 1915

Ew. Excellenz!

Der Unterzeichnete bittet Ew. Excellenz um Entschuldigung, wenn er seinem Bericht vom 5. Mai einen neuen folgen lässt. Der Ernst der Lage drängt ihn dazu.

Obwohl der besonnene und menschenfreundliche Generalgouverneur nach der Aussprache vom 5. Mai auch sehr anerkennenswerte Schritte zur Beruhigung der Bevölkerung getan hatte, so nehmen in den letzten Tagen die Haussuchungen und Verhaftungen wieder einen ernsteren Charakter an. Bis jetzt sind in M. Aziz und Umgebung schon 70 - 80 Personen verhaftet worden, während von den ferner gelegenen Bezirken des Vilajets dem Unterzeichneten keine genauen Berichte vorliegen. Doch soll die Lage in Egin und Arabkir noch ernster sein.

Die Türken sagen, wohl einigermassen mit Recht, dass die Armenier an der Front zum Teil zu den Russen übergelaufen seien, dass das armenische Volk gegen die Türken sei, dass armenische Freischärler in der Gegend von Wan und in Persien die Türken bekämpft hätten, dass in Dersim von Seiten der Armenier unter den Kizilbasch Propaganda für einen Anschluss der letzteren an die Russen gemacht worden sei, dass in Diarbekir Bomben und in Egin Dynamit gefunden worden seien und die Armenier im Innern im Falle eines Einmarsches der Russen sich sofort auf die Seite der Feinde schlagen würden.

Aus all diesen Gedanken heraus kann man die strengen Massnahmen der Regierung für die völlige Entwaffnung der Christen, während man den Türken und Kurden trotz formellen Befehl zur Ablieferung die Waffen lässt, verstehen.

Die hiesigen Christen wiederum, ohne Unterschied der Nationalität und der Denomination (unter den Verhafteten befinden sich Armenier und Syrer, Armenische Gregorianer, Römische Katholiken und Protestanten) sind in einer sehr ernsten Lage. So sehr sie auch etwaige Vorkomnisse in Wan bedauern und der Regierung das Recht und die Pflicht strengster Strafen gegen politische Verbrecher zuerkennen, meinen sie doch, sie könnten für die Handlungen der Christen in Wan oder einiger Schuldiger in diesem Vilajet nicht verantwortlich gemacht werden. Männer, Frauen und Kinder beben bei dem Gedanken an die bei dem Verhör der Verhafteten ab und zu angewandten Schläge und der für die Armenier naheliegenden Folgerung, dass das Ende all dieser Massnahmen ein allgemeines Massacre sein werde, umsomehr als Gerüchte von einem über die Bevölkerung von Wan verhängten schweren Strafgerichte bereits hier kursieren. Das gegenseitige Vertrauen zwischen Muhammedanern und Christen ist fast ganz in die Brüche gegangen.

In unserer Stadt und Umgegend ist bis jetzt schwer belastendes Material für die Untreue vieler Christen nicht gefunden worden. Es ist aber möglich, dass unter den Verhafteten mehrere Schuldige sind. Ob die Berichte über Umtriebe der Armenier unter den Dersimkurden wahrheitsgetreu oder übertrieben sind, kann der Unterzeichnete von hier aus nicht feststellen. Doch sind bei der Überreizung der Nerven und dem Mangel an gegenseitigem Vertrauen Übertreibungen sehr leicht möglich. Auch an den Berichten über den Dynamitfund in Egin wird man vielleicht einiges abstreichen dürfen, da verschiedene Personen die Sache etwas verschieden erzählen.

Die Regierung geht besonders scharf gegen die Angehörigen der Vereinigungen „Daschnag“ und „Hintschag“ vor, die allerdings weder für den türkischen Staat noch für das armenische Volk ein Segen gewesen sind und die bei den für einen Verfassungsstaat völlig unreifen Verhältnissen des Innern vom türkischen Staat vielleicht besser nie anerkannt worden wären und deren Auflösung selbst von einem grossen Teile des armenischen Volks mit Freude begrüsst würde. Doch nachdem dieselben einmal staatlich anerkannt sind, dürfte jetzt die Zugehörigkeit zu einer solchen Partei nicht zu einem Verbrechen gestempelt werden, es sei denn dass dem einzelnen Verein oder der einzelnen Person staatsgefährliche oder aufrührerische Tendenzen und Umtriebe nachgewiesen werden können.

Auch der Besitz von gesetzlich verbotenen schon vor Jahren erworbenen Waffen, der im Innern bei Muhammedanern und Christen nicht ganz selten ist, dürfte noch kein Zeichen von aufrührerischen Absichten sein, da die türkische Bevölkerung solche Waffen in noch grösserer Anzahl hat. Nach ziemlich zuverlässigen Aussagen der Christen sollten ihre Waffen allein der Notwehr im Falle eines Überfalles von Seiten der muhammedanischen Bevölkerung dienen. Trotz alledem aber entsprang die Anschaffung von gesetzlich erlaubten oder verbotenen Waffen zum Teil einer grossen Kurzsichtigkeit, ja einer fast geradezu unverzeihlichen Torheit, da sie damit die Muhammedaner reizten und das Vertrauen der Regierung in die Christen gefährdeten umsomehr als sowohl die Regierung als auch die muhammedanische Bevölkerung der Waffenanschaffung der Armenier andere Absichten unterzuschieben geneigt sein musste. Seit 3 bis 4 Jahren soll übrigens der Eifer zum Waffenkauf sehr nachgelassen wenn nicht ganz aufgehört haben.

Vertreter der verschiedenen christlichen Denominationen versicherten vor 3 Tagen den Generalgouverneur der Treue und Ergebung der Christen und baten ihn um Verlängerung der Waffenablieferungsfrist, die ihnen für weitere 8 Tage freundlichst gewährt wurde.

Der Generalgouverneur, von dessen Wohlwollen und Gerechtigkeitssinn man allgemein überzeugt ist, befindet sich in einer nicht gerade leichten Lage, da starke armenierfeindliche Elemente die Schuld der Christen gerne zu grell beleuchten und allem [Anschein] nach für die durchgreifendsten Massnahmen der Regierung sind. Eine Abberufung des Valis, von deren Möglichkeit vor etwa einer Woche ziemlich viel gesprochen wurde, würde die Angelegenheit wohl noch mehr verschlimmern und wäre bei seiner grossen Tüchtigkeit und aufrichtigen Deutschfreundlichkeit sehr zu bedauern, so dass man sein Verbleiben nur dringend wünschen kann.

Dass die aussergewöhnlich friedlich gesonnenen Christen dieser Gegend seit Ausbruch des Krieges keine Umtriebe gegen die Regierung beabsichtigt hatten, erhellt auch aus der Tatsache, dass trotz aller harten Massnahmen der Regierung (Aufgraben von den Fussböden der Wohnungen und Kirchen) nirgends ein Auflauf oder ein Zusammenrotten gegen die Polizei oder die türkische Bevölkerung vorgekommen und dass nirgends in Stadt und Umgegend von Seiten der Christen von einer Waffe Gebrauch gemacht worden ist.

Jedenfalls ist die Lage sehr ernst. Die höheren Beamten, ganz besonders der Generalgouverneur, versichern, dass man nur die Schuldigen zu bestrafen gedenke und dass für die Allgemeinheit der Christen keine Gefahr bestehe.

Da es aber nicht vorauszusehen ist, wie die Verhältnisse sich weiter entwickeln, ersuche ich Ew. Excellenz abermals zur Aufklärung der türkischen Zentralregierung über die hiesigen Verhältnisse gütigst Schritte tun zu wollen.

Verehrungsvollst


Johannes Ehmann



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