1915-06-21-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/BoKon 96/Bl. 20-22
Botschaftsjournal: 10-12/1915/5138
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Chefarzt des deutschen Lazaretts in Ersindschan Theodor Colley an die Botschaft Konstantinopel

Schreiben



Erzinghian, den 21. Juni 1915

Der Kaiserlichen Botschaft erlaube ich mir ganz gehorsamst zu meinen Telegrammen vom 16. und 19. d.Mts. folgende Erklärung zu senden.

Ich darf als bekannt voraussetzen, daß die türkische Regierung sich genötigt sieht, die armenische Bevölkerung der Aufstände wegen aus den Grenzgebieten in das Innere des Landes zu verpflanzen. Daß diese Maßnahmen nicht ohne Beschwerden für die Betroffenen abgehen, daß sie für Frauen, Kinder und Greise oftmals mit Härten verbunden sein müssen, liegt in der Natur des Landes. Es hatten sich nun unter den Mitgliedern des deutschen Lazarettes unglaubliche, unkontrollierbare Gerüchte verbreitet, von denen auch nicht ein einziges als positive Tatsache erwiesen werden konnte, über Mord und Raub an den Auswanderern, über Verbrechen, denen sich nicht nur Kurden, sondern auch reguläre Truppen schuldig gemacht haben sollten. Einige Mitglieder des deutschen Lazarettes wurden deswegen in ihrem Innern ganz außerordentlich beunruhigt, und es macht ihrem guten Herzen alle Ehre, daß sie auf Abhilfe sannen. Ich sollte an deutsche Behörden telegraphieren, bei türkischen zum mindesten protestieren. Ich faßte die Stellung eines deutschen Lazarettes in der Türkei aber anders auf und glaubte nicht das Recht zu haben, mich in innertürkische Angelegenheiten zu mischen; ganz abgesehen davon, daß ich ja keine Spur von einer Gewalt in Händen habe, und daß ich in letzter Linie jeglichem Etappenklatsch ablehnend gegenüberstehe. Ich wurde aber direkt und indirekt derartig heftig gedrängt, daß ich mich am 16. d.M. zu dem ersten Telegramm an die Deutsche Botschaft entschloß. Damit war der Bann gebrochen. Man beruhigte sich, als man sah, daß ich nicht einfach auf meiner ablehnenden Haltung bestand, sondern die Autorität der Botschaft anrief. Dazu kommt, daß noch andere Ereignisse eingetreten waren, auf die einzugehen ich mir im Folgenden erlaube, und durch welche die hauptsächlichsten Verbreiter alarmierender Gerüchte ausgeschaltet wurden. So konnte ich dann Tage später das zweite Telegramm absenden.

Seit Ende April versahen im hiesigen deutschen Lazarett auf Empfehlung des Konsulats in Erzerum neben den Schwestern vom roten Kreuz zwei Damen die Krankenpflege, deren Pässe sich als stark veraltet erwiesen: Fräulein Eva Elvers, eine Deutsche, und Fräulein Tora Wedel-Jarlsberg, eine Norwegerin. Ich habe die Pässe, da sie nicht in Ordnung waren, der hiesigen Regierung vorgelegt und zur Antwort bekommen, daß Bedenken nicht vorlägen. Die Damen, zwei Missionarinnen, die längere Zeit bei der armenischen Bevölkerung tätig gewesen sind, bekamen von mir genaue Anweisungen, sich jeglicher Bekehrungsversuche und jeglicher Betätigung armenierfreundlicher Gesinnung zu enthalten. Das letztere hat ihnen wiederholentlich auch Herr Dr. Lindenberg eingeschärft. Da meldete mir am 12. d.Mts. der Ordnungsoffizier des Lazarettes, ein türkischer Soldat habe sich bei ihm über Äußerungen der Schwester Eva Elvers beschwert, die dahin gingen, die Türken hätten armenische Frauen und Kinder ermordet, Gott werde sie dafür strafen. Dem Ordnungsoffizier selber habe die Schwester, als er seinem armenischen Soldaten den Urlaub verweigerte, Ähnliches gesagt. Die Urlaubsverweigerung war auf meinen Befehl geschehen, da ich der dauernden Fahnenflucht vorbeugen wollte. Während ich noch überlegte, ob ich die Dame sofort entlassen müsste, oder ob noch ein anderer Weg gangbar sei, ließen sich beide Damen bei mir melden. Sie baten um ihre Entlassung, wollten armenische Flüchtlinge begleiten. Ich stimmte zu, ließ aber die Damen nicht im Zweifel über meine Ansichten wegen der Äußerungen des Fräulein Elvers. Zu dieser Unterredung hatte ich zwei Schwestern vom roten Kreuz hinzugezogen. Die beiden entlassenen Damen, über die ich nun keine Macht mehr hatte, haben es in den folgenden Tagen verstanden, sich in schier unglaublicher Weise bei der türkischen Regierung unbeliebt zu machen: bald wollten sie abreisen, und wenn die Regierung alles vorbereitet hatte, wollten sie wieder bleiben (das wiederholte sich drei oder viermal, wenn ich recht unterrichtet bin), bald nahmen sie eine Anzahl – sechs oder acht – halbwüchsige armenische Jungen in ihr Quartier, bald wieder riefen sie in einem öffentlichen Kaffelocal Gottes Zorn auf die Türken herab; bald verließen sie unser Lazarett und nahmen in der Stadt Wohnung, bald kehrten sie wieder in unseren Schutz zurück, den ich ihnen immer reichlich und willig angediehen ließ, wenn mich ihr Benehmen schon oftmals mehr als unwillig machte. Da schickte der Regierungspräsident gestern Reisewagen, die die Damen über Sivas nach Constantinopel befördern sollten; sie stiegen nicht ein. Heute früh erschien dann ein Gensdarmenieoffizier wieder mit Wagen, der die Weisung hatte, sie auf alle Fälle fortzuschaffen. Es wäre mir ja zweifellos auf dem Wege der Vorstellungen gelungen, das Äußerste, die Anwendung von Gewalt seitens türkischer Gensdarmen gegen deutsche Frauen, abzuwenden: als sie sich zur Abreise entschlossen. Einer unserer Ärzte, Herr Dr. Lindenberg, begleitet sie zwei Tagesreisen weit, da sie sich wegen der Unsicherheit des Weges in großer Furcht befinden.

Ich habe oftmals Gelegenheit gehabt, den Langmut des Mutessarifs in dieser Angelegenheit zu bewundern.


Colley.



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