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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

01. Geplanter Tod durch Massaker, Krankheit, Hunger, Durst, Ertränken, Kälte

Dokument 1.13

Hinweise für Lehrkräfte

Bauernfeind wollte selbst seinem türkischem Freund, einem Bürgermeister, Berichte über Massaker und eine beabsichtigte Auslöschung nicht glauben. Nach und nach erkennt er, wie er sich getäuscht hat und wie er betrogen wurde.

Quelle

L’Extermination des Déportés Arméniens Ottomans dans les Camps de Concentration de Syrie-Mésopotamie (1915-1916). La deuxiéme Phase du Génocide, Bd. 2, Paris 1998, S. 265 ff.






Der armenischen Bevölkerung bemächtigt sich eine gewisse Erregung.

Aus dem Tagebuch des Missionars Hans Bauernfeind in Malatia


4. Mai 1915

Die Regierung scheint jedes Zutrauen zu den Armeniern verloren zu haben. Als wir Sonntag bei Chosroff Effendi (Apotheker, Hausfreund) einen Besuch machten, erzählte uns die alte Mutter, die wir allein zu Hause trafen, dass die Regierung in vielen armenischen Häusern unter anderem auch bei ihnen, Haussuchung veranstaltet habe. Sie suchen nach Waffen, Büchern, Zeitungen, Briefen und Flüchtlingen. Mehrere Verhaftungen sind schon erfolgt. Der armenischen Bevölkerung bemächtigt sich begreiflicherweise eine gewisse Erregung. … Eines ist sicher: Die Regierung hält hier strenge Haussuchungen, geht unverständig vor, was beim Volk Erbitterung hervorrufen muss. …

16. Mai

Die Haussuchungen und Gefangennahmen gehen weiter. Ein sehr braves Mädchen … ist gefangen nach Mesereh geführt, weil bei ihr einige geschriebene, von einem armenischen Priester verfasste armenische Lieder gefunden worden sind. Soweit wir die Sache beurteilen können, eine ganz harmlose Sache und ein grausamer Missgriff der Regierung. Das Desertieren ist zu einer Art Versteckspiel mit der Regierung ausgeartet. ...

28. Mai

Der Muhasebedschi bat heute, für acht bis 14 Tage bei uns wohnen zu dürfen. Sein von ihm angegebener Grund ist folgender: Er wohnt dem Gefängnis gegenüber; dort werden jetzt jede Nacht Armenier verprügelt, scheinbar oft maßlos. Das können sie nicht mehr ertragen. … Die Gewaltmaßnahmen gegen Armenier treffen natürlicherweise, da einmal das berechtigte Misstrauen da ist, auch öfters Unschuldige, obwohl wir bisher dafür keine Beweise haben. … Doch scheint es tatsächlich vorzukommen, dass Leute heimlich Gewehre kaufen, um welche abliefern zu können, wenn sie durch Gefängnis und Prügel dazu gezwungen werden sollen. …

9. Juni

Die [Schläge] sollen allerdings oft unmenschlich sein. Wenn die Leute halbtot geschlagen sind, werden sie ins Wasser geworfen, bis sie wieder zu Bewusstsein kommen, um dann weiter geschlagen zu werden. Starke Dorfleute prügeln, und nur Polizisten sind dabei, kein höherer Beamter. … Das Gefängnis ist nach Beschreibung des Stadtarztes ein Raum von etwa 160 Quadratmeter Größe, niedrig, dunkel, feucht, mit nur einem winzigen Luftloch an der Decke, in dem augenblicklich 200 Armenier eingesperrt sind. …

Bei der Verabschiedung des Müfetisch [Deportationsinspekteurs ?] im Hof der Schule waren sämtliche Spitzen [der lokalen Gesellschaft] zugegen. Er zeigte dort eine Nummer einer Kriminalzeitschrift mit Abbildungen von Massen von Gewehren, Bomben und dergleichen, die bei Armeniern … gefunden sein sollen. … Der Stellvertreter des Mutessarif erzählte mir außerdem, gestern seien in Mesereh an 5000 Bomben gefunden. Das türkische Volk wird mehr und mehr gegen die Armenier aufgereizt; die Atmosphäre ist äußerst gespannt. …

14. Juni

Ich war eben bei Mustapha Aga [dem türkischen Bürgermeister]. … Er versichert mir wiederholt, die Regierung ließe jede Nacht 3, 4 Gefangene heimlich verschwinden, die totgeschlagen oder ins Wasser geworfen würden. Mit seinem Wagen würden sie fortgebracht. …

Mustapha Agha behauptete auch sicher zu wissen, daß neulich eine Abteilung armenischer Arbeiter, welche am Tschiftlik zwischen hier und Tsoghlu am Euphrat, mit Straßenarbeiten beschäftigt waren, von den … erwähnten [aus dem Gefängnis] entlassenen (türkischen; die Hrsg.) Gefangenen unterwegs aufgehoben, erschossen und ins Wasser geworfen seien. Wir hatten schon derartige Gerüchte gehört, aber nie ernst genommen. Allerdings wunderten wir uns gleich darüber, daß diese Leute sofort hier alle bewaffnet wurden, obwohl es Räuber und Mörder waren. Und Tatsache ist, daß von den betr(effenden) Arbeitern, die wo anders hingeschickt sein sollen, bisher keine Nachricht wieder gekommen ist. Unsere Nerven werden durch alle diese unheimlichen Begebnisse stark angegriffen; zudem sind wir und unsere Leute persönlich jetzt gefährdet. Wir müssen sehr vorsichtig sein. …

25. Juni 1915

Eben wollte ich Mustapha Agha [den befreundeten türkischen Bürgermeister] besuchen, traf ihn aber unterwegs …, wo ich etwas mit ihm sprach. Er sagte, dass Gefangenen unterwegs aufgehoben, erschossen und ins Wasser geworfen seien. Wir hatten schon derartige Gerüchte gehört, aber nie ernst genommen. Allerdings wunderten wir uns gleich darüber, dass … [gewisse] Leute sofort hier alle bewaffnet wurden, obwohl es [kürzlich aus dem Gefängnis entlassene] Räuber und Mörder waren. Und Tatsache ist, dass von den betr(effenden) Arbeitern, die wo anders hingeschickt sein sollen, bisher keine Nachricht wieder gekommen ist. Unsere Nerven werden durch alle diese unheimlichen Begebnisse stark angegriffen; in der Nacht seien, auf mein gestriges Einschreiten hin, die in den sechs Löchern begrabenen Leichen ordentlich bestattet. Es handele sich um mehr einhundert!! (...) Mustapha Agha behauptete auch sicher zu wissen, daß neulich eine Abteilung armenischer Arbeiter, welche am Tschiftlik zwischen hier und Tsoghlu am Euphrat, mit Straßenarbeiten beschäftigt waren von den erwähnten entlassenen [Räubern und Mördern ] unterwegs [gefangen genommen], erschossen und ins Wasser geworfen seien. Wir hatten schon derartige Gerüchte gehört, aber nie ernst genommen.

2. Juli

Ich … traf Mustapha Aga allein, so dass man einmal freier sprechen konnte. … Darauf er: Sage es niemand anders, Garabed [einen vermissten armenischen Mitarbeiter Bauerfeinds] haben sie getötet und nicht nur ihn, sondern in der vorigen Nacht 300, in der vergangenen 180. Alle nach Indärä gebracht und dort – ich mochte nicht fragen, ob - erdrosselt oder abgeschlachtet; denn Schießen hätten wir gehört. Es muss sich um alle Gefangenen handeln, das heißt also um fast alle Männer, die überhaupt hier noch vorhanden waren. Ziemlich sicher ist auch Krikor darunter, es hatte schon geheißen, er würde „woanders hin geschickt“. Das scheint nach dem jetzigen Sprachgebrauch zu bedeuten „töten“, während „gehen“ sterben, das heißt auf gewaltsame Weise, bedeutet. … Übrigens soll es in Mesereh, Sivas, Erserum, Ersinghan, Cäsarea usw. gerade so zugehen wie hier. Es sei ein Befehl von oben, natürlich reiflich vorbereitet. Wie entsetzlich hat man uns betrogen und verraten, mit satanischer Bosheit und Schlauheit. …

4. Juli

Unter dem türkischen Volk sollen nach Habeschs Aussage nur 80 Prozent mit den Maßregeln gegen die Armenier einverstanden sein. …

10. Juli

Ob die Bomben- und Pogromgeschichten [Armenier gegen Türken] auf Wahrheit beruhen oder etwa Fälschungen der Macher sind, die das ganze Vorgehen gegen die hiesigen Armenier legitimieren sollen – gefunden sind trotz aller Nachforschungen keine Bomben – wird schwerlich jemals bekannt werden. Möglich ist beides. … Andererseits war hier seitens der Armenier nichts vorgefallen, das für die Regierung Grund zu Besorgnis hätte geben können. Die Maßregel der Verbannung hätte vollauf genügt, im Notfall noch einige standrechtliche Erschießungen nachweislich Schuldiger, die hier meines Wissens gar nicht gefunden worden sind. Die hier stattgehabten Vorgänge können auch nicht etwa als ein unzähmbarer Ausbruch der Volkswut, als eine Konzession an leidenschaftlichen Volkswillen aufgefasst werden, denn davon war nichts zu spüren; sondern es handelt sich zweifellos um einen meisterhaft organisierten, längst vorbereiteten Massenjustizmord, den einige wenige Beamte auf dem Gewissen haben. Und man darf oder muss doch wohl annehmen, dass von oben, wenn auch kein offener Befehl, so doch absichtlich zweideutige Weisungen gekommen sind. … Ob nicht die ganze Waffeneintreibung schon unter diesem Gesichtspunkt stand (?)



Copyright © 2014 Dr. Jörg Berlin: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved