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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

13. Türkische und deutsche Helfer und Retter

Dokument 13.08

Hinweise für Lehrkräfte

Celal Bey hatte bereits vor dem Krieg bei Spannungen zwischen Kurden, Armeniern u. Türken vermittelt. Gauner und Anständige gab es auf allen Seiten. Vertrauen u. Freundschaften gab es ebenfalls zwischen den Nationalitäten. Auseinandersetzungen bei Kriegsbeginn hatten keinen grundsätzlichen Charakter. Wusste u. glaubte zunächst nicht, dass Deportationen Vernichtung bezweckten. Dies wurde ihm erst durch Deportationsinspekteure klargemacht. Versucht vergeblich in Konstantinopel zu intervenieren. Erlebte auf Bahnhöfen unmittelbar die Schrecken der Deportation. Ließ sich auch durch mündliche Anweisungen nicht umstimmen. Erklärt Deportationen im Kriegsgebiet für nachvollziehbar, deren Ausdehnung auf das gesamte Staatsgebiet nicht. Armenische Verbrecher hätten durchaus betraft werden sollen. Verweist auf ermordete Kollegen und viele andere Türken, die Armeniern zu helfen versuchten. Wünscht, ohne die Verbrechen zu leugnen, keine pauschale Verurteilung der Türken, sondern Benennung u. Verurteilung der wirklich Schuldigen.

Quelle

www.aga-online.org. Verschwiegene Helden. (Das Original des Berichts befindet sich in der Volksbibliothek Beyazýt in Ýstanbul.)






Die Ereignisse um die Armenier – Gründe und Folgen.

Aus einem Ende 1919 von Mehmet Celal Bey, dem ehemaligen Gouverneur der Provinzen Aleppo und Konya verfassten Bericht


[Es gibt] bei diesem grässlichen Ereignis nichts zu verbergen oder zu verzerren, darum habe ich es für richtig befunden, alles, was ich gesehen und wie ich es verstanden habe, wiederzugeben, mit allen Details und Abscheulichkeiten, um alles der menschlichen Zivilisation im Sinne der Gerechtigkeit weiterzugeben. Ich schreibe nieder, was ich weiß.

Mehmet Celal Beys Tätigkeit als Gouverneur von Erzurum

Der Zufall brachte mich bereits am Anfang der Konstitutionellen Monarchie [d. h. beim Machtantritt der Jungtürken] an einen Ort, wo ich über die Armenier recherchieren konnte. Nach den Ereignissen vom 31. März (Revolte von 1908 –Anm.-) bin ich nach Erzurum gesandt worden und blieb dort für zwei Jahre. Damals gab es einige Konflikte zwischen den Armeniern und den Kurden, meist wegen Bodenangelegenheiten. In einem Land, welches seinen Bewohnern Gleichberechtigung schenkte, war es vor allem erforderlich, um dort den guten Willen zu bestätigen und die Sache zum Vorteil beider Seiten zu regeln, allen gerecht zu werden, die Gerechtigkeit zu pflegen und Gewalt sowie zwanghafte Aufrechterhaltung jeglichen Übergriffs zu verbieten. Auch ich verfolgte diese Ziele. Zunächst habe ich Untersuchungen angestellt, um die Gründe dieser Konflikte, das Land und die Bevölkerung richtig verstehen zu können. Ich sprach mit allen. Ich hörte zu. Ich reiste im Vilayet (Provinz; osm. Verwaltungseinheit. - Anm.) umher. Ich war zu Besuch in den Zelten der Kurdengebieter und bei den armenischen Suppenköchen in den Dörfern. In der ganzen Provinz Erzurum gibt es keine Ortschaft, in der ich mich nicht einen oder zwei Tage aufgehalten hätte. Im Ergebnis habe ich begriffen, dass es keine grundsätzlichen Konflikte gab; ganz im Gegenteil, zwischen Türken, Kurden und Armeniern besteht eine seit Jahrhunderten gefestigte Freundschaft und gegenseitiges Vertrauen.

Kurden, die als Lastenträger oder Wächter in Istanbul oder Izmir arbeiten, vertrauen ihre Kinder und Familien dem Schutz armenischer Nachbarn an. Ebenso vertrauten Armenier, die in Russland oder Amerika geschäftlich unterwegs waren, ihre Familien den Türken und Kurden an. Beide Parteien achteten einander in Güte. Im ganzen Vilayet gab es lediglich zwei Klassen der Bevölkerung: Die erste bestand aus gnadenlosen Tyrannen, die durch Rechtsbrüche ihre Vorteile durchsetzen, und die zweite bestand aus unterdrückten Opfern, die durch die Schlechtigkeit und Gräuel der Ersteren ihre Widerstandsfähigkeit verloren hatten, sprich Türken, Kurden und Armenier! … Auch Bodenkonflikte entstanden durch Brutalität, und nicht nur Armenier, sondern auch Türken und Kurden kamen dabei zu Schaden. Ein gnadenloser Despot riss einen Ackerboden, welcher ihm gefiel und einem Schwächeren gehörte, gewaltsam an sich und wurde mit allen Mitteln dessen Besitzer. Soweit ich mich erinnern kann, belagerte der Häuptling des Hardaranli-Klans, Kör Hüseyin Pascha, auf diese Weise fünf bis sechs Dörfer. Ein anderer Despot, Hüseyin Beyzade Haydar Bey, hatte sich des Großteils einer Ortschaft bemächtigt. Ein großes Feld zwischen Karakilise und Beyazit, befahrbar in etwa vier Stunden, gehörte einem Höherrangigen aus dem Hamidiye-Reiterregiment (Hamidiye Süvari Alayı –Anm.-). Vielerorts hatten Stärkere Schwächere um ihre Felder gebracht. ...

Meine zweijährige Beamtenzeit in dieser Provinz bestärkte meine Überzeugung, dass unter allen nichtmuslimischen Ethnien die Armenier diejenigen waren, die uns [Türken] am Nächsten standen und am fähigsten waren, mit uns einen gemeinsamen Weg zu beschreiten. Ich habe unter den Armeniern Erzurums sehr viele Geschäftsleute kennen gelernt, deren Herz voller Heimatliebe war und die sich ernsthaft mit der Zukunft der Heimat auseinandersetzten. Von diesen Männern ist keiner mehr am Leben. Ohne Ausnahme haben alle entweder in den einsamen Kerkern Erzincans oder in den dornigen Wüsten Diyarbakırs einen schmerzlichen und grauenvollen Tod erlitten. Diese Äußerungen mache ich deswegen, weil ich erfahren habe, dass die Mehrheit der Armenier seelisch und gedanklich diesem Land verbunden und in jeglicher Hinsicht genauso betrübt war wie wir.

Meine feste Überzeugung möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen. Die armenische Tragödie und die daraus resultierenden Katastrophen sind ohne Zweifel größer als die Schäden des Weltkriegs. Wenn diese Morde und die verrückte Politik in Syrien nicht gewesen wären, würden wir, trotz der Niederlage, nicht in einem so traurigen und schwierigen Zustand vor den Zivilisationen der Welt und der Menschheit stehen. Seit ungefähr fünf Jahrhunderten leben wir mit den Armeniern zusammen. Falls die traurigen Ereignisse der letzten Jahre schon damals passiert wären, wären in diesem Land entweder keine Armenier oder keine Türken mehr übrig. Wir haben aber jahrhundertelang mit den Armeniern wie zwei Freunde, auf alle Fälle aber wie Nachbarn gelebt. Wir haben einander geholfen und Sicherheit gegeben. Die Türken haben viel mehr als andere Bürger den Armeniern vertraut und wichtige sowie Verantwortung erfordernde Aufgaben … ihnen überlassen. Aus der Geschichte ist kein einziger Fall bekannt, in dem ein Armenier, die solche Aufgaben übernahm, Landesverrat betrieben oder einfach seine Stellung missbraucht hätte.

Mehmet Celal Bey als Gouverneur von Aleppo

Zu Beginn des Krieges war ich Gouverneur von Aleppo. Die Armenier waren in Relation zur Gesamtbevölkerung der Provinz in der Minderzahl und gingen in Ruhe und Sicherheit ihren Beschäftigungen nach. Bei keinem war irgendeine Handlung gegen die Interessen der Osmanen zu beobachten. Nur in Zeitun gab es zwanzig bis dreißig armenische Deserteure. Diese entzogen sich dem Einberufungsbefehl und wurden in Zeitun versteckt gehalten. Diesbezüglich sprach ich mit dem [armenischen] Katholikos von Sis und dem armenischen evangelischen Pfarrer von Maraş. Sie unterstützten mich bei meiner Vorstellung, dass diese Deserteure nicht nach Jemen oder anderen fernen Orten geschickt werden, sondern in nahe gelegenen Gebieten bleiben sollten. Zu dieser Zeit wurde ein neuer Bezirksstatthalter nach Maraş bestellt. Dieser hat das Vorhandensein einiger Deserteure zu einem Politikum hochgeputscht. Er war eigens angereist, um vierzig bis fünfzig Armenier festzunehmen und gesetzeswidrig in Maraş zu verhaften. In diesen Tagen griffen drei bis vier [armenische] Deserteure zwei Gendarmen an, verletzten den einen und töteten den anderen. Ich ließ diejenigen Armenier frei, die strafrechtlich nicht vorbelastet waren.

Als die Angelegenheit beinahe in Güte geregelt war, wurde Maraş von dem Vilayet Aleppo getrennt und zu einer eigenständigen Verwaltungseinheit (Sancak; Anm.-) erklärt. Somit hatte das Vilayet Aleppo keine Befugnis über Zeitun mehr. Grundlos wurden Militäreinheiten nach Zeitun geschickt und die dortige Bevölkerung samt ihrer Kinder und Angehörigen nach Konya deportiert, in den für seine schwere Luft berüchtigten Landkreis Sultaniye.

In allen Gegenden begannen nun die Deportationen der Armenier. Zu Beginn schickten wir alle ortsfremden Armenier nach Konya. Später bekamen wir den Befehl, diese nicht nach Konya, sondern nach Dair az-Zur [= Der Zor, in der Wüste] zu schicken. Ich gebe zu, ich war mir nicht darüber im Klaren, dass diese Befehle und Taten zur Vernichtung der Armenier dienten, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Regierung in der Lage sein kann, ihre eigenen Staatsbürger und das wertvollste Vermögen, das Kapital Mensch, zu vernichten. Ich glaubte daran, dass es sich um eine kriegsbedingte vorbeugende und vorübergehende Maßnahme handelte, um die Armenier aus dem Kampfgebiet zu entfernen. Aus diesem Grunde habe ich in den Telegrammen, die ich dem Innenministerium schickte, Gelder angefordert, die ich für Unterkünfte der zu deportierenden Armenier brauchte. Stattdessen schickte man einen Beamten, der den Titel eines Migranten- und Nomadenbeauftragten (Muhacir ve aşair memuru; Anm.-) inne hatte, in Wirklichkeit aber beauftragt war, Armenier samt ihrer Kinder und Familien zu deportieren. Aus Adana und anderen Gebieten trafen immer mehr armenische Kolonnen ein. Auf der Grundlage des Deportationsbefehls wurden wir immer nachdrücklicher aufgefordert, Armenier aus dem Inneren der Provinz zu deportieren. Den schriftlichen Befehl aus Antakya zur Deportation der Armenier habe ich nicht ausgeführt, weil ich kraft meines Amtes bezeugen konnte, dass es keinen einzigen Armenier im Vilayet Aleppo gab, der schuldig war, so dass er zwangsweise aus seiner Wohnung heraus in die Ferne deportiert werden sollte. Dieser Ungehorsam brachte es mit sich, dass ich nach Ankara gebracht wurde und drei bis vier Tagen darauf nach Konya [versetzt wurde]. Ich wollte aber den Verantwortlichen den Grund meines Handelns verdeutlichen und wollte deshalb nach Istanbul fahren. Ich teilte mit, dass ich nach meinem Dienstantritt in Konya zur Behandlung meiner Augen nach Istanbul reisen werde. Ich teilte permanent in Telegrammen und Briefen der Hohen Pforte [Bezeichnung für die Regierung] mit, dass die den Armenier zuteil gewordene Behandlung den hehren Interessen des heiligen Vaterlandes ernstlich zuwiderlaufe. Unterdessen brachte ich in einem persönlichen Brief an mein Ministerium folgendes zum Ausdruck: Die armenische Ethnie bildet einen beachtlichen Teil der heimatlichen Bevölkerung. Ein enormer Anteil des Gesamtvermögens ist in armenischen Händen und nahezu die Hälfte der geschäftlichen Aktivitäten des Landes haben sie inne. Die Vernichtung der Armenier anzustreben bedeutet, einen Schaden anzurichten, der noch nach Jahrhunderten nicht behoben werden kann. Wenn alle unsere Feinde sich versammeln und monatelang sich den Kopf darüber zerbrechen, würden sie uns nichts Schlimmeres antun als das... . Man hat keines meiner Schreiben beachtet. Ich blieb zwei Tage in Konya und ging nach Istanbul. Ich versuchte, den Verantwortlichen mein Handeln zu begründen. Leider konnte ich niemandem mein Anliegen verständlich machen.

Mehmet Celal Bey als Gouverneur von Konya

Ein Mann, der der Meinung war, dass die gegen die Armenier angewendete Politik für die existentiellen Vorteile unseres Landes schädlich war, konnte sich natürlich nicht an dieser Handlung beteiligen. Deshalb bat ich darum, falls auch die Armenier aus Konya deportiert werden sollten, jemand anderen dorthin zu entsenden, der solche Taten vollbringen könnte. Man versicherte mir, dass sie [dort] nicht ausgeführt würden. Nach dieser Zusicherung stieg ich in den Zug und fuhr in Richtung Konya. In Akşehir sah ich, dass die dortigen Armenier aus ihren Wohnungen rausgeholt und zwecks Deportation am Bahnhof versammelt wurden. Ich wurde Zeuge ähnlicher Szenen in İlgin und auf anderen Bahnhöfen. Alle diese Verzweifelten habe ich [wieder] nach Hause geschickt. Eine grauenvolle Szene, die mir in İlgin zuteil wurde, werde ich nie vergessen: Am Bahnhof befanden sich Hunderte von Männern, Frauen, jungen und alten Menschen, die seit Tagen unter freiem Himmel auf ihren Deportationszug warteten. Unter ihnen war ein Bedauernswerter, der auf der Höhe seines Steißbeines an beiden Beinen amputiert war. Er hatte sich eine lederne Unterlage umgebunden, und an den Händen trug er Holzpantoffeln, am Hals einen Schuhputzerkasten. Dieser arme Mann bestritt seinen Lebensunterhalt mit Betteln und Schuhputzen. Er konnte den Grund der Gräuel, denen er ausgesetzt wurde, sicherlich nicht erfassen, aber er gehörte zu denen, die aus der Stadt vertrieben und deportiert werden sollten.

Als ich in der Provinzhauptstadt ankam, sah ich, dass die [armenischen] Bewohner Konyas sich ebenfalls am Bahnhof befanden. Zudem waren dort Tausende von Menschen, die aus İzmit, Eskişehir und Karahisar stammten und unter freiem Himmel oder unter zeltähnlichen Überdachungen aus Lumpen, Decken und Filzresten verweilten. Sie warteten elendiglich, in herzzerreißender Art und Weise auf ihr Schicksal. Für die Auswärtigen konnte ich nichts unternehmen. Nur die Konyaer habe ich nach Hause gebracht. Den übrigen begann ich, aus dem Fond für Migranten Tagegelder auszuzahlen. Meine Situation in Konya ähnelte der eines Mannes, der ohne jegliche Hilfsmittel am Ufer eines Flusses steht. Statt Wasser floss Blut im Fluss, und Tausende von sündenlosen Kindern, unschuldigen Alten, hilflosen Frauen, kräftigen Jungen flossen in diesem Blutstrom ins Nichts. Ich habe gerettet, was ich mit meinen Händen und Nägeln festhalten konnte. Die übrigen, so glaube ich, sind dahingeflossen, ohne Hoffnung auf Wiederkehr. (...) Die Züge aus Istanbul-Haydarpaşa brachten täglich Tausende von Armenier, die am Bahnhof von Konya zusammengepfercht wurden. Aus İstanbul kamen ohne Unterlass Befehle zur Weiterdeportation. Ich widersetzte mich immer wieder mit dem Argument, dass eine Weiterdeportation solange unmöglich sei, bis Züge dafür zur Verfügung gestellt werden. Diese Situation dauerte wochenlang, und in dieser Zeit wurden nur ein oder zwei Kolonnen bis Erikli gebracht. Täglich wurde uns die Weiterdeportation befohlen und wir wurden von offiziellen sowie inoffiziellen Organen bedrängt. Der Migrations- und Nomadenbeauftragte wurde dafür eingesetzt, und wir wurden belehrt, seine Anordnungen als Ministeriumsbefehle anzusehen. Zu keinem Zeitpunkt habe ich aus meinen Gedanken ein Geheimnis gemacht. Ich habe sowohl in İstanbul, als auch in Konya allen gesagt, dass ich diese Taten für ein Desaster für meine Heimat ansah und mich niemals daran beteiligen würde. Das Gleiche habe ich vor den Abgeordneten in Konya ausgesagt. Einer dieser Abgeordneten teilte [mir] bei meiner Abreise in İstanbul mit, dass ein Mitglied des Zentralkomitees seine Grüße [und folgende Botschaft] übermittele: "Das Zentralkomitee hat diese Angelegenheit nach langen Überlegungen beschlossen. Eine Abschwächung ist nicht möglich. Die Deportation der Armenier entspricht der nationalen Mission. Daher solltest du deine Meinung dazu ändern." Sollte ich mich widersetzen, würde ich meines Amtes enthoben werden, und Konya müsste dann auf mich verzichten. Welche nationale Mission? Türken sowie Muslime weinten ob dieser Morde bittere Tränen, fanden aber keinen Weg, sie zu verhindern. Diese Grausamkeit als eine nationale Mission zu bezeichnen bedeutet eine Verleumdung und Beleidigung des Volkes. Selbstverständlich haben mich die Drohungen nicht zum Berufswechsel gebracht. Ich habe nach meinem Gutdünken weiter gemacht. Nach Beratung des Abgeordneten von İzmir, İhsan Onnik Efendi, dessen Verwandte auf Befehl deportiert werden sollten, wurden diese nach İzmir zurückgeschickt. Einige von ihnen wurden jedoch vom Provinzstatthalter von Karahisar dennoch festgenommen und der Fall nach Istanbul gemeldet. Das habe ich dem telegrafischen Auskunftsersuchen des Ministeriums entnommen. Ich habe in meinem Antwortschreiben erläutert, dass ich in manchen dieser Fälle die Rückführung nach İzmir für richtig hielt. Diese Dokumente befinden sich wahrscheinlich in Archiven des Innenministeriums und im Vilayet Konya. Man hatte beschlossen, dass die Kinder und Frauen, deren Angehörige sich im Militärdienst befanden, sowie armenische Katholiken nicht deportiert werden sollen. Ich habe diesen Beschluss, soweit es machbar war, zum Wohl der Armenier ausgeweitet. Das war ebenfalls nicht einfach. Zum Beispiel war es nach einigen Telegrammen ins Vilayet Ankara möglich, die katholische Schwester des Bahnhofsbeschäftigten (şimendüfer memuru; Anm.) Efkaryan Efendi aus Konya hierher zu holen. Wir haben alle Wege benutzt, um ca. 30.000 auswärtige Armenier in Konya zu behalten und es wurde kein einziger Armenier aus Konya deportiert. Ich habe aber später erfahren, dass mein Nachfolger bereits auf dem Weg zum Dienstantritt in Akşehir und İngin Deportationsbefehle aussprach und die Deportation einleitete. Heute berichten Zeitungen über Armenier, die an ihre Wohnorte zurückgeführt wurden. Das sind jene Menschen, die ich in Konya und Fâik Âli Bey in Kütahya aufhalten konnten. Wären sie deportiert worden, so glaube ich, wären heute gar keine Armenier mehr vorhanden, die man zurückführen könnte.

Diejenigen, die - außerordentlich abgeschwächt formuliert - die Deportation von Armeniern anordneten und dieses Vorhaben als eine „nationale Mission“ bezeichneten, verstanden endlich, dass ich ihnen kein Arbeitskollege sein konnte und haben entsprechend meine Entlassungsurkunde vorbereitet. Auch ich hatte inzwischen begriffen, dass es keine Möglichkeit mehr gab, meine Arbeit fortzuführen. Der Beschluss zu meiner Suspendierung überlappte sich zeitlich mit meinem Ersuchen um Dienstbefreiung. Ich verließ Konya und kam nach İstanbul. In İstanbul habe ich erfahren, dass just am Abend meiner Abreise einer von den zwei Deportationsbeauftragten den sich inzwischen am Bahnhof befindenden Armeniern Folgendes gesagt haben soll: „Euer Vater ist fort, und so werdet auch ihr nun gehen!“ Ich habe alles Erdenkliche angestellt, um diese Katastrophe zu verhindern. Ich habe mich an sämtliche Verantwortliche gewandt, es war aber alles vergeblich. Zudem wurden mir Zornesausbrüche zuteil, wie etwa: „Du hast deine Überzeugung nicht der nationalen Mission geopfert!“

Wir sollten uns auch ein wenig mit den Motiven der zu diesen Taten Fähigen befassen: Auch unsere armenischen Mitbürger werden gestehen, dass zu Zeiten, in denen noch keinem Armenier etwas passiert war, die Armenier bewaffnete irreguläre Einheiten (çeteler; Anm.) bildeten, den Nahrungsmittelnachschub der Armee verhinderten und in muslemischen Dörfern wüteten. Es war nicht hinnehmbar, dass der Abgeordnete Garo Pastırmacıyan (2) durch seine Milizen russischen Soldaten das Geleit gab, und dass die Russen über unsere Bewegungen stets von Armeniern informiert wurden. ( …) Ein Land, welches sich im Krieg befindet, denkt in erster Linie an das Wohl seiner Armeen. Es ist angehalten, in Orten, wo solche Übergriffe passieren, notwendige Vorkehrungen zu treffen, auch wenn diese möglicherweise aggressiver und tyrannischer Art und Weise sind. Aus diesem Blickwinkel heraus können sich diejenigen vielleicht verteidigen, die im östlichen Kriegsgebiet die Deportation der Armenier beschlossen und durchgeführt haben, worunter auch sehr viele Unschuldige fielen. Sie können sich aber nicht davor retten, die Verantwortung über die Ausbreitung dieses Beschlusses über das gesamte Gebiet und die Art und Weise der Ausübung zu tragen. Es ist richtig, dass manche Armenier dem Feind geholfen haben. Manche armenische Abgeordnete haben das Banditentum dem Abgeordnetendasein vorgezogen und Morde verübt. Die Aufgabe der Regierung ist es, die Täter festzunehmen und diese nur zu bestrafen; falls das nicht möglich ist, hätten die Armenier aus diesem Gebiet nicht auf feindliche, sondern auf freundliche Art vorübergehend in anderen Gebieten untergebracht werden sollen. Ein gesetzloser Bandit kann alles anstellen, denn er ist ein gesetzloser Scherge. Eine Regierung aber verfolgt nur die Schuldigen. Bedauernswerterweise haben die Regierenden dieser Zeit wahrscheinlich ihren Guerilla-Geist nicht verloren, denn diese Deportation wurde von ihnen derartig ausgeführt, wie sie von kühnsten und blutrünstigsten Banditen nicht hätte ausgeführt werden können. Die damalige Regierung behauptete geglaubt zu haben, dass die Russen die Sakarya-Ebene angreifen würden und dass die Armenier ihnen dabei geholfen hätten. Aus diesem Grunde hätten sie vorbeugend die Deportation bis Ankara, Konya und Eskişehir ausgedehnt. Damals … dominierten [wir] mit [den Kriegsschiffen] „Yavuz“ und „Midilli“ über das Schwarze Meer. Somit war es unmöglich, dass die Russen ihre Soldaten bis in die Sakarya-Ebene vordringen lassen konnten. Doch selbst wenn wir diese Möglichkeit einmal annehmen: Aus welchem Grund sind dann die Armenier aus Bursa, Edirne und Tekfurdağı (heute: Tekirdağ –Anm.-) deportiert worden? Gehörten diese Gebiete denn etwa auch zur Sakarya-Ebene? Warum hat man den Armeniern aus Aleppo das ebenfalls angetan, wo sie doch nicht einmal 20% der dortigen Bevölkerung ausmachten? Richtig oder falsch: Wenn man zum Wohle der Heimat die Auslieferung der Armenier für unabdingbar gehalten hat, musste man es auf diese Weise ausführen? Die Regierung, die den Befehl zur Deportation nach Dair-az Zur [Der Zor] ausgerufen hat, hat sie denn je einen Gedanken darauf verschwendet, wo diese armseligen, hilflosen Menschen unter den arabischen Nomadenstämmen ohne Obhut und Nahrung überhaupt bleiben sollten? Wenn ja, dann frage ich: Wie viele Nahrungsmittel sind dorthin ausgeliefert worden und wie viele Behausungen sind für die Migranten gebaut worden? Was für eine Absicht steckt dahinter, wenn man eine Ethnie wie die Armenier, die seit Jahrhunderten eine urbane Lebensweise führen, in die Wüsten von Zor vertreibt, die bar jeden Baums, des Wassers und jeder Art von Baumaterialien sind?

Leider gibt es keinen Weg, diese Angelegenheit zu verleugnen oder zu verzerren. Denn die Absicht war eben die Vernichtung, und sie sind vernichtet worden. Weiterhin ist es unmöglich zu verbergen, dass diese Entscheidung von einigen herausragenden Persönlichkeiten im Zentralrat des Komitees für Einheit und Fortschritt getroffen und von der Regierung in die Tat umgesetzt wurde. .... Sie führten die Vernichtung der Armenier durch. Das hat nicht nur der Zentralrat, sondern auch die damalige Regierung getan. Falls dem nicht so gewesen wäre, hätten sie, wo doch die den Massenmord verweigernden Landräte ermordet und Provinzstatthalter sowie Gouverneure entlassen worden waren, die Teilnehmer der Verbrechen nicht befördert. Zudem hätte dann die Deportation als solche nicht unter der Kontrolle des Komitees für Einheit und Fortschritt stattgefunden.

Jetzt komme ich zu einem Punkt, welcher meiner Meinung nach der wichtigste ist: Sind auch die Muslime, insbesondere die Türken, für dieses Chaos, diese Massenmorde und Tötungen verantwortlich, oder bleiben sie davon unberührt? Wird das Gesicht der armen Türken … nun auch noch mit dem Blut des Mitbürgers befleckt? Oder aber werden die Türken für unschuldig an den Morden erklärt? Nach meiner Gewissensmeinung sind die Muslime sowie die Türken in dieser Angelegenheit nichts anderes als der Mittel zum Zweck.

Ich möchte diese Behauptung durch ein paar Vorkommnisse erläutern: 1. In Aleppo habe ich viele Male gesehen, wie die dort ansässigen Muslime den dorthin deportierten Armeniern geholfen haben. 2. Manche Gutsbesitzer haben mich aufgesucht, um ihre Bereitschaft mitzuteilen, Armenier zu beherbergen. 3. Sowohl in Aleppo, als auch in Konya haben viele Gelehrte und Würdenträger mir ihren Dank ausgesprochen, wohl wegen meiner Handlungsweise in dieser Frage. Sie waren der Überzeugung, dass die Schutzgewährung aufgrund der Scharia notwendig sei. 4. Sowohl in Aleppo, als auch in Konya haben wir nie gesehen oder gehört, dass ein Türke sich an den Gütern eines Armeniers vergriffen hätte. 5. Unter den Türken und Muslimen, mit denen ich Kontakt hatte, gab es keinen Einzigen, der diese Morde unterstützte, oder sogar die Hässlichkeit dieses Anliegens nicht mit seiner ganzen Kraft betont hätte. … 6. Nach meiner Rückkehr aus Konya haben mir alle meiner Bekannten gratuliert und gesagt, dass es ehrenhafter war, den Staatsdienst aufzugeben. 7. Man hatte [die armenischen Abgeordneten] [Grigor] Zohrab und Vartkes Efendi zum Zwecke der Deportation unter Polizeigeleit in Richtung nach Aleppo geschickt. Die beiden Armen ahnten, was auf sie zukommen würde und waren sehr besorgt. Viele Muslime haben sich an mich oder an [Oberbefehlshaber] Cemal Paşa gewandt, mit dem Ersuchen nach dem Verbleib der beiden in Aleppo. Diese beiden waren meine Freunde, und ich konnte sie nicht in den Tod schicken. Besonders nicht Zohrab – der hatte doch eine Herzkrankheit. Ich habe nach İstanbul geschrieben. Man hat mir nicht geantwortet. Ich habe ihnen versprochen, sie so lange nicht zu verschicken, solange ich in Aleppo sein würde. Ich konnte mein Versprechen halten. Einen Tag nach meiner Entlassung hat man Zohrab und Vartkes Efendi ausgeliefert. Diese beiden Hilflosen waren sehr eng mit Angehörigen der damaligen Regierung befreundet. Diese besuchten Vartkes oft in seiner Wohnung und verbrachten als Freunde viel Zeit mit ihm, sie umarmten und küssten ihn. Zohrab wiederum hatte während der Ereignisse des 31. März [einem Putsch gegen die Jungtürken](1908), seinen Hausfrieden und vielleicht sogar sein Leben riskierend, ein Mitglied des Komitees für Einheit und Fortschritt in seiner eigenen Wohnung versteckt, der während seiner Deportation an der Regierung war. Eigentlich sind auch diese [angeblich von Banditen ermordeten] Männer in den Tod deportiert worden und verstorben! Nach meiner Einschätzung sind mindestens drei- bis vierhundert Tausend Armenier verstorben. Ein Volk, welches so viel Blut verliert, besitzt ein Recht auf Tiraden und Beschwerden. Dieses Recht kann wohl niemand anfechten. Es sind aber nicht nur Armenier verstorben. Über zwei Millionen Türken und Araber sind elendig umgekommen. Türken und Araber waren wie die Armenier benachteiligt und hilflos verzweifelt. …

In diesem Sinne sind wir Türken und Araber ebenso wie die Armenier Ankläger. Wir wollen Gerechtigkeit! Anstatt uns gegenseitig zu beschuldigen, wäre es doch viel zielführender, wenn wir Hand in Hand die zivilisierte Welt um Gerechtigkeit bitten, die Bestrafung derer zu fordern, die die seit Jahrhunderten brüderlich zusammenlebenden Araber, Türken und Armenier in diese Lage gebracht haben. Und, sollte es nicht zu spät dafür sein, uns bemühen, von nun an wieder brüderlich zusammen zu leben.



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