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Buch | 
Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin |

Kapitel | 
08. Reformvorschläge für Türkisch-Armenien vor 1914 |
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Dokument 8.5 |

Hinweise für Lehrkräfte | 
Nach Niederlage im Balkankrieg und Verlust europäischer Gebiete droht Osman. Reich Gefahr durch armenische Frage. Russland will Armenier benutzen, um Einflussgebiet zu erweitern. Armenier wissen einerseits, wie brutal Russifizierung verläuft. Aber andererseits sind Unterdrückung und Willkür in Türkisch-Armenien schlimmer als im Zarenreich. Armenier wollen nationale Identität erhalten. Ihre Forderungen berechtigt. Sie sind wirtschaftlich tüchtig. Deutschland sollte sie unterstützen. Einverständnis der türkischen Regierung ist vorhanden. |

Quelle | 
Politisches Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Zitiert nach: Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.), www.armenocide.net. A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. 1913-02-24-DE-001. |

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Er verglich die Lage seines Volkes mit der eines Ertrinkenden.
Aus einem Bericht des deutschen Botschafters in Konstantinopel, Wangenheim, an den Reichskanzler vom 24. Februar 1913
Kaum ist die Nationalitätenfrage auf dem Balkan zum Nachteil der Türkei entschieden worden, da erwächst dem asiatischen Besitzstand des Reiches eine neue und kaum weniger schwere Gefahr durch das Akutwerden der armenischen Frage. Die Armenier können sich zwar in ihren Sonderbestrebungen nicht wie Südslawen und Griechen auf die Hülfe eines unabhängigen Staates eigener Nationalität stützen; aber sie haben an dem benachbarten Russland einen ebenso rührigen und zielbewussten Bundesgenossen gefunden wie jene.
Die Motive, welche zum Zusammenschluss zweier so heterogener Elemente führten, liegen, soweit Russland in Frage kommt, natürlich klar zu Tage. Die über ganz Kleinasien und Nordpersien verbreiteten Armenier, welche aus religiösen und ethnographischen Gründen in einem natürlichen Gegensatz zu ihren mohammedanischen Herren stehen, sind das gegebene Element zum Aufbau einer engmaschigen politischen Propaganda in Vorderasien. …
Russland unterhält aber ferner in Anatolien und Nordwestpersien … Propagandaherde, von denen aus den Armeniern durch Geld und gute Worte die Idee suggeriert werden soll, daß ihre Stammesgenossen unter dem Scepter des Zaren alle Wohltaten eines geordneten Rechtsstaates genössen, und daß daher die Aufnahme der ganzen armenischen Nation in den russischen Untertanenverband ein erstrebenswertes Ziel sei. …
Die Armenier wissen zwar ganz genau, welchen Motiven die ihnen von Russland gezeigten Aufmerksamkeiten entspringen. Was sie unter russischer Herrschaft erwartet, haben sie im Jahre 1903 gesehen, als [in Russisch-Armenien] die armenischen Kirchengüter eingezogen und durch die planmäßige Russifizierungsarbeit Pobjedonoszews [des russischen Statthalters] die armenische Revolutionspartei ins Leben gerufen wurde. Der Armenier will ebenso wenig Russe werden, wie er sich Jahrhunderte lang gewehrt hat, Byzantiner, Araber, Perser oder Türke zu werden. Wenn er trotz der früheren schlechten Erfahrung dem russischen Lockruf gefolgt ist, so geschah das lediglich deshalb, weil die russische Regierung bisher die einzige ist, welche für ihn mehr übrig gehabt hat, als rein platonische Ratschläge und Versprechungen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Armenier auf türkischem Boden gegen Willkür und Unterdrückung nicht genügend geschützt ist. Wer ihm diesen Schutz in Aussicht stellt, der ist heute sein Mann, ganz gleich, welche Nebenabsichten er außerdem verfolgt. Ein Armenier verglich mir gegenüber die heutige Lage seines Volkes mit der eines Ertrinkenden. Dieser ergriffe unwillkürlich die Hand eines jeden, der ihm zu Hülfe komme, selbst wenn der Retter ihm nur in der Absicht beispringe, ihn nachher gefangen zu nehmen. …
Wie immer sich auch das Schicksal der Türkei nach dem Friedensschluss gestalten mag, so viel ist sicher, dass das numerisch starke und wirtschaftlich tüchtige armenische Element sich mehr und mehr emanzipieren wird. Jeder, der wirtschaftliche oder politische Ziele in Anatolien verfolgt, wird nicht umhin können, mit dieser Tatsache zu rechnen.
Solche Erwägungen müssen uns dazu führen, unsere bisher den Armeniern gegenüber eingenommene Haltung zu ändern. Die radikalen Elemente, welche utopische Ziele verfolgen und mit nihilistischen Mitteln arbeiten, werden wir selbstverständlich nach wie vor von uns fern halten müssen. Unser Ziel muss es vielmehr sein, das Vertrauen der armenischen Bauern und Kaufleute zu gewinnen, indem wir die erreichbaren Wünsche der ruhig denkenden armenischen Kreise und dazu rechnet noch immer die große Mehrzahl des Volkes fördern. Diese Wünsche kann man in zwei Punkten zusammenfassen:
1) Wirksame Garantien für die Sicherheit von Leben, Eigentum und Religion.
2) Anteil an der lokalen Verwaltung, entsprechend der Kopfzahl und dem Bildungsgrade des armenischen Elements.
Das sind Forderungen, denen sich die Türkei nicht mehr wird entziehen können. Die jetzt am Ruder befindliche Regierung ist sich darüber auch vollkommen klar. Mahmud Schefket brachte neulich selbst das Gespräch auf die armenische Frage und sprach mir gegenüber den Wunsch aus, die deutsche Regierung möchte ihm bei der Lösung der hier bestehenden Schwierigkeiten behülflich sein. Dem Großvezier schwebt ohne Zweifel der Gedanke vor, durch eine Annäherung der Armenier an die loyalen deutschen Vertretungen der destruktiven russischen Propaganda das Wasser abzugraben und dadurch das armenische Element zur praktischen Mitarbeit am Wiederaufbau des zerrütteten Staates zu gewinnen. Ihm darin behülflich zu sein, ist meines Erachtens eine ebenso ehrenhafte wie unseren Interessen förderliche Aufgabe. |