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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

01. Geplanter Tod durch Massaker, Krankheit, Hunger, Durst, Ertränken, Kälte

Dokument 1.16

Hinweise für Lehrkräfte

Deportation aus ganz Anatolien bis auf Konstantinopel und Smyrna, Tötung der Männer und älteren Jungen, schreckliches Schicksal der Frauen u. Mädchen, „Verschickung“ faktisch Ausrottung. Dies bestätigen türkische Beamte.

Quelle

Politisches Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Zitiert nach: Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.), www.armenocide.net. A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. 1916-01-03-DE-001.






Auf Grund der Beobachtungen, die ich in Aleppo machen konnte.

Aus einem zusammenfassenden Bericht des deutschen Vizekonsuls Hoffmann in Aleppo vom 8. Nov. 1915 über die „Armenierverschickung“ an den Botschafter in Konstantinopel


[Bericht] über den Stand der Armenier-Verschickung während des Monats Oktober … und zwar auf Grund der Beobachtungen, die ich während meiner Anwesenheit in Aleppo … machen konnte. …

Dank seiner zentralen Lage ist Aleppo nach wie vor der Brennpunkt der Armenierverschickung, daher zur Gewinnung eines Überblicks besonders geeignet.

1. Ausdehnung der Verschickung.

Ende Oktober hatte die Verschickung die armenische Bevölkerung ganz Anatoliens bis vor die Tore Konstantinopels und Smyrnas ergriffen. Unberührt geblieben waren nur noch die Stadtbevölkerung Konstantinopels - von wo jedoch zahlreiche "verdächtige" Personen abgeschoben zu sein scheinen - von Smyrna und von Aleppo. …

Zurückgeblieben sind zum Teil - anscheinend zum kleinsten Teile - vorläufig die Familien armenischer Soldaten, soweit sie ohne sonstigen männlichen Schutz sind. Wo ihre Verschickung erfolgt ist, wird als Entschuldigung angeführt, alle armenischen Soldaten seien desertiert, eine Behauptung, die in dieser Ausdehnung unmöglich und nachweisbar tatsächlich falsch ist. … Belassen wurden ferner die Angestellten der Bagdadbahn und des Bagdadbahnbaus; ob auch die der Anatolischen Bahn, ist mir nicht bekannt. …

2. Massaker.

Es kann als feststehend angesehen werden, dass in den eigentlichen armenischen Wilajets - von dem Kriegsgebiet bei Wan ganz abgesehen - die Verschickung von Massenabschlachtungen der männlichen Armenier über dem Kindesalter, zum Teil auch der gesamten Bevölkerung armenischer Ortschaften begleitet gewesen ist.

Darin stimmen die Angaben der Überbleibsel solcher verschickten Trupps in einer Weise überein, die eine Verabredung ausschließt. Am schlimmsten scheint es im Wilajet Diarbekir zugegangen zu sein, dessen Wali Reschid Bey nach mündlichen Angaben, die mir der K. Vizekonsul Holstein (Mossul) bei seinem kurzen Besuch in Aleppo im Oktober machte, öffentlich erklärt hat, er werde keinen Christen in seinem Wilajet dulden, eine Erklärung, die die Regierung (so in Mossul) vergeblich zu dementieren gesucht habe. Nach VK Holsteins persönlichen Feststellungen während seiner Reise von Mossul nach Aleppo ist die Bevölkerung durch Gendarmeriepatrouillen aus Diarbekir und Mardin zur "Erledigung" der Armenier aufgefordert worden.

[Vizekonsul] Holstein hat auf der schwach bevölkerten Strecke zwischen Mossul und Ras-el-Ain fünf gänzlich zerstörte armenische Dörfer getroffen, darunter das von 2000 Armeniern bewohnt gewesene Tell-Ermen. Hier ist bis auf 15-20 Personen, die flüchten konnten, alles niedergemacht worden. Reste, wie abgeschnittene Köpfe und Glieder, hat VK Holstein in der Kirche noch vorgefunden. In den andern vier Dörfern ist das meiste niedergemacht worden. Zwischen Tell-Ermen und Rass-el-Ain traf VK Holstein fünf natürliche Zisternen voller Leichen; ob diese totgeschlagen oder abgeschlachtet waren, hat er nicht mehr feststellen können. An der ganzen Strecke südlich Nisibin sah er alle Muhamedaner mit krummen Schwertern herumlaufen. "Ermen" [Armenier] war ihr einziger Gedanke.

Die Glaubwürdigkeit der Schilderungen der Überlebenden wird durch die Tatsache gestützt, dass viele, ja die meisten der aus jenen Gegenden kommenden Trupps ohne Männer und ältere Knaben waren. Neuerdings wird dies von gewisser Seite mit der Behauptung zu erklären versucht, die Männer und Knaben fehlten nur deswegen, weil sie mit den Waffen in der Hand in die Berge geflüchtet seien. Dieser Annahme - nur um eine solche handelt es sich wohlgemerkt - widerspricht aber ohne weiteres die bekannte Stärke des Familiensinnes bei den Armeniern. Wo die Männer massenhaft in die Berge flüchteten, wie in der Gegend von Suedije an der Küste, nahmen sie Frauen und Kinder mit. ... Ebenso verbarrikadierten sich in den wenigen tatsächlichen Fällen bewaffneter Empörung gegen die Verschickung - Fundadschak und Urfa - die Empörer mitsamt ihren Frauen und Kindern.

3. Form der Verschickung.

Die Verschickung aus den eigentlich armenischen Wilajets ist zum größten Teil in einer so brutalen Form vorgenommen worden, dass nur elende Überbleibsel einer als kräftig und gesund bekannten Gebirgsbevölkerung an den Sammelstellen (Aleppo, Mossul, Tell-Abiad, Rass-el-Ain u.a.) ankamen. Die Schilderungen der Überlebenden über die Qualen des wochen- und monatelangen Weges, über Ausplünderung, Schändung, Raub und Verkauf von Frauen, Mädchen und Knaben durch die Begleitmannschaft und die Anwohner werden glaubwürdig durch das, was man von den Resten in Aleppo zu Gesicht bekam. Schilderungen einwandfreier europäischer Augenzeugen über Beobachtungen auf der durchzogenen Strecke bestätigen sie. …

4. Sammellager.

Das nächste Ziel der Verschickten waren bisher für die von Norden und Nordosten Kommenden die Stationen Tell-Abiad, Rass-el-Ain und (für Aintab und Marasch) Aktsche-Köjünli der Bagdadbahn, sodann Aleppo. In Aleppo waren Ende Oktober nach Angabe von Regierungsseite etwa 20000 Personen untergebracht, zum kleinen Teil in Einzelwohnungen (auf eigene Kosten), zum grössten Teil in Massenquartieren ("Hâns") oder in offenen Feldlagern am Rande der Stadt. Die von Mittel-, Nord- und Westanatolien kommenden Züge strömen in das Sammellager bei Ma'mureh (an der Bagdadbahn im Wilajet Adana) und weiter in das von Katma (48 km nordwestlich von Aleppo an der Bagdadbahn). Dort lagerten Ende Oktober nach Angabe von Regierungsseite etwa 40000 Verschickte.

Für diese Sammellager liefert die Regierung keinerlei Obdach. Die wohlhabenderen der Verschickten führen eigene kleine Zelte mit sich, die Ärmeren improvisieren Schutzdächer aus Matten, Bettzeug usw. Als Unterhalt liefert die Regierung für den Tag und Kopf 100 Dram Mehl (= 320 Gramm), jedoch unregelmäßig. Feuermaterial wird nicht geliefert; da Wald bei den Sammellagern nicht vorhanden, dienen zumeist trockene Disteln als kümmerliches Brennmaterial. In gesundheitlicher Beziehung fehlt es an jeder Vorkehrung. Insbesondere fehlt jede, auch die primitivste, Latrinenvorrichtung; nicht einmal eine Grube ist dafür aufgeworfen. Für die 40000 Menschen bei Katma liefert eine Quelle Wasser, dessen Entnahme noch durch die Umwohner behindert wird.

…Die Zahl der Todesfälle unter den Verschickten in Aleppo stieg während des Monats Oktober von 120 auf 200 täglich. Seit Mitte des Monats griff der Flecktyphus schnell um sich. …

5. Weitertransport.

Von den Sammellagern Aleppos erfolgt seit mehreren Monaten die Weiterschaffung nach den Stätten der "Ansiedlung".

Zu Anfang der Verschickung, also vor 2-4 Monaten, dienten noch näher gelegene Punkte Syriens wie Hama, Homs, Bab, Damaskus, als Ziel der Verschickung. Seit Anfang Oktober kommen dafür - ausdrücklich festgelegt durch Maueranschlag in Aleppo - nur die Punkte Rakka und Der-es-Sor am Euphrat, sowie der westliche Hauran (Kerak), seit ganz kurzem endlich auch Ras-el-Ain (Endpunkt der Bagdadbahn nach Mossul zu) in Frage. Bis Mitte Oktober sollen nach Schätzung eines höheren Beamten des Wilajets Aleppo rund 300 000 Personen zur "Ansiedlung" nach Süden und Südosten weitergeschickt worden sein.

Die Wegschaffung geschah anfangs nach Möglichkeit mit der Bahn, dann ohne deren Benutzung. Gegen Ende Oktober hat man angesichts der Gefahren [durch Seuchen], die sich aus der Verzögerung der Wegschaffung aus Aleppo für die Allgemeinheit ergeben, wieder zur Bahn gegriffen und befördert nunmehr vorzugsweise nach Rass-el-Ain. Daneben gehen beständig Karawanen Verschickter nach den andern genannten Zielpunkten. Zur Beförderung dienen außer eigenem Fuhrwerk meist Kamele, je eins für eine bis zwei Familien. Daher muss meistens ein erheblicher Teil des Gepäcks zurückbleiben und der größte Teil der Familie zu Fuß gehen. …

Der zu Fuß oder mit Tieren zurückzulegende Weg ist derart, dass ein weiteres Wegsterben der Verschickten unausbleiblich ist. Dabei ist es gar nicht einmal nötig, dass - wie von armenischer Seite behauptet wird - die Verschickten absichtlich nicht den üblichen, mit Wasserstellen versehenen Karawanenweg geführt werden.

Am Ziel der Ansiedlung - also in der Regel: Rakka, Der-es-Sor, Kerak, Mossul (von Rass-el-Ain aus) - angelangt, werden die Verschickten sich selbst überlassen (dies nach Angabe des oben erwähnten höheren Wilajetsbeamten). Für eine wirkliche Ansiedlung fehlt es nach dem erwähnten Gewährsmann an Mitteln und Beamten. Es sei daher nicht zu vermeiden, dass alle Verschickten umkämen. …

Die Verschickung der Armenier unterscheidet sich danach nicht viel von ihrer Ausrottung. Ihre eigenen Führer schätzen die Toten auf Grund der Einzelberichte der angekommenen Truppe bis Ende Oktober auf mindestens 600000.

Ob die Ausrottung im Plane der Zentralbehörden liegt, sei dahingestellt. Von dem früheren Kommissar für die Verschickung in Aleppo (der dort auch heute noch eine maßgebende Stellung innehat), Ejub Bey, ist die Äußerung bekannt, mit der er Verwendungen für Waisen abwies: Sie verstehen noch immer nicht, was wir wollen: wir wollen den armenischen Namen austilgen. …


Abb. 13: Siedlungsgebiete der Armenier 1926 nach Völkermord und Vertreibung


Aus: Koutcharian, Gerayer, Der Siedlungsraum der Armenier unter dem Einfluss der historisch-politischen Ereignisse seit dem Berliner Kongress 1878: Eine politisch-geographische Analyse und Dokumentation, Berlin 1989. Anhang.


Abb. 14: Deportationsrouten und Vernichtungsorte 1915



Entweder diese oder die farbigen Karten aus Atlas Armen



Massaker an und Deportationen von Armeniern 1915.
Der in der Karte schraffiert dargestellte Bereich im Nordosten des Osmanischen Reiches war 1915 zeitweilig von russischen Truppen besetzt. Bei deren Rückzug schlossen sich ihnen zahlreiche Armenier an, die sonst getötet worden wären. Problematisch an dieser und anderen Darstellungen ist, dass die Pfeilsymbole für die Deportationswege vom Ort der Vertreibung bis zum Ende durchweg gleich stark sind. Aus: www.genocide-museum.am. Collection maps


Abb. 15: Deportationsrouten, Vernichtungsorte und Regionen armenischen Widerstands

Widerstands-Deportationsrouten, Vernichtungsorte und Regionen des Widerstands


Aus: www.genocide-museum.am. Collection Mapping the Armenian Genocide



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