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Kapitel

12. Zu Wirtschaft, Mentalität und Bevölkerungszahlen der Armenier



Autor

Jörg Berlin

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12. Zu Wirtschaft, Mentalität und Bevölkerungszahlen der Armenier

Armenier siedelten bereits Jahrhunderte vor den Türken im nordöstlichen Kleinasien. Um 70 vor unserer Zeitrechnung entwickelte sich ein erstarkendes Armenien zu einer Großmacht und eroberte Mesopotamien, Nordsyrien sowie in Kleinasien Kilikien und Kappadokien. Dies rief die Römer auf den Plan. Deren Feldherren Lukullus und Pompeius bezwangen die Armenier nach langen Kämpfen und in einer Allianz mit den Parthern. Armenien blieb jedoch als selbständiger Pufferstaat zwischen Römern und Parthern erhalten. Kulturell begann ein Zeitabschnitt unter römischer Dominanz. Der Staat wandelte sich zum Vorposten Europas in Westasien. Da Armenien der erste Staat der Erde war, welcher das Christentum offiziell zur Staatsreligion (zwischen 285 und 301) erklärte – in Rom fand dieses Ereignis erst im Jahre 391 statt - weisen Armenier noch immer voller Stolz auf dieses Datum hin.

Kurz nach der Annahme des Christentums fand ein anderes für die geistige Entwicklung der Armenier prägendes Ereignis statt. Ein Mönch schuf das armenische Alphabet, welches an die Stelle der aramäischen und griechischen Schrift trat. Eine armenische Bibelübersetzung und andere Literatur in der eigenen Sprache stärkten die Identität der Nation. Nach der Teilung des Römischen Reiches gehörte Armenien zum östlichen Staat mit der Hauptstadt Byzanz, dem späteren Konstantinopel. In Folge der Schwächung dieses Staates mussten die Armenier eine Teilung hinnehmen. Der Westen des Landes fiel an Byzanz, der Osten wurde mit Persien vereinigt.

Die Hauptsiedlungsgebiete der Armenier vor und nach dem Völkermord sind den beigefügten Karten zu entnehmen. Drei Viertel lebten auf dem Land. Stets zu beachten ist, dass ein Teil der Armenier (nach dessen Vordringen südlich des Kaukasus) im Zarenreich unter anderen Voraussetzungen lebte als die Angehörigen der Nation im Osmanischen Reich.

Angaben über die Anzahl der Armenier variieren und sind nicht zuletzt aus politischen Gründen umstritten. Deshalb enthält diese Sammlung dazu verschiedene Materialien. Mit niedrigeren Zahlen ließ sich vor 1914 ein Anspruch der Armenier auf Autonomie in bestimmten Provinzen bestreiten. Nach dem Völkermord dienten sie als Argument, dass die Opferzahlen übertrieben würden.

Unter der zwischen 1470 und 1640 ausgebauten osmanischen Herrschaft mussten die christlichen Untertanen in Kleinasien (wie auf dem Balkan) als Bauern, Händler, Handwerker erheblich mehr Steuern zahlen und Abgaben leisten als Muslime. Zahlen aus dem Jahr 1913 zeigen das Maß der Ausbeutung der armenischen Provinzen. Aus ihnen flossen etwa 1,5 Millionen türkische Pfund (Salz-, Straßen-, Schafsteuer und Zehnt) in die öffentlichen Kassen. Die Ausgaben des Staates für öffentliche Arbeiten, Erziehungswesen, religiöse Institutionen und Ackerbau beliefen sich in diesem Gebiet hingegen nur auf 170 000 türkische Pfund. Ausgegeben wurde der Hauptteil der Einkünfte vor allem für das Militär (700 000 Pfund) sowie für die ineffektive Bürokratie (500 000 Pfund). Ob die Ausgaben für die türkische Gendarmerie (190 000 Pfund) auch der armenischen der Bevölkerung in Form von Sicherheit zugute kamen, ist zweifelhaft.

Die Osmanen waren das sozial privilegierte Herrenvolk. Ihre Verwaltung setzte die tatsächliche Höhe der Abgaben fest, vor Gericht hatte letztlich ihre Aussage Beweiskraft. Polizei, Militär und Justiz befanden sich in der Hand der Muslime, sie verhinderten oder unterdrückten Widerstand gegen ungerechte Behandlung. (Vgl. zu Mentalitätsunterschieden Dok. 12.7) Der Staat bot zumal in den östlichen Provinzen keinen Schutz gegen Übergriffe korrupter Beamter oder räuberischer Kurden. (Vgl. Dok. 12.06) Auch die politischen Reformansätze im Osmanischen Reich während des 19. Jahrhunderts ebneten die ethnischen und kulturellen Unterschiede zwischen muslimischen Türken und Christen nicht ein, da Armenier (und Griechen) schneller und intensiver moderne westeuropäische Lebensweisen und Ansichten übernahmen. Nachdem die Armenier Jahrhunderte als separate Glaubensnation aber als loyale Untertanen gegolten hatten, sah die türkische Führungsschicht sie nun häufiger als illoyal, destruktiv und separatistisch an. Diese negative Wahrnehmung führte dazu, armenische Bestrebungen und Reformforderungen nicht als defensiv, sondern als provokatorisch und rebellisch einzuordnen. Obwohl die Forderung der Armenier einer Gleichberechtigung nach der türkischen Verfassung legal war, weckten Bestrebungen, sie politisch zu realisieren, vor allem in der traditionell-islamischen Bevölkerung zunehmend Groll. Es entstand und verstärkte sich eine Disposition, gegen die vermeintlichen ´Verräter´ entschieden vorzugehen. Der relativ große Erfolg armenischer Kaufleute und Handwerker beeinflusste zudem die traditionelle soziale Hierarchie. In Handel, Handwerk, Industrie und freien Berufen waren Armenier deutlich überrepräsentiert. Aber die in diesen Berufszweigen Tätigen machten insgesamt nur einen geringen Anteil der Nation aus. Die große Mehrheit arbeitete in der Landwirtschaft. (Zur Berufsstruktur der Armenier vgl. Dok. 12.2) Bei der Masse der muslimischen Bevölkerung könnte der Reichtum (eines kleinen Teils) der Armenier Neid geweckt und bestehende Abneigungen verstärkt haben. Viele Armenier litten aus den genannten Gründen und wegen konkreter Erfahrungen von Übergriffen ständig unter der Angst vor Massakern.

Eine anerkannte politische Vertretung besaß die armenische Nation in ihrem gewählten Patriarchat. Eine „Nationalverfassung“ gewährte seit 1863 in kirchlichen und weltlichen Verwaltungsaufgaben eine gewisse Autonomie. Es kam zu einer Verstärkung des ohnehin erheblichen Einfluss der Kirche. Dies kommt auch in der traditionellen Kunst zum Ausdruck, in Kuppelkirchen, Klosterbauten, Ikonen und den mit Kreuzdarstellungen geschmückten Gedenksteinen, den „Chatschkaren“. Sie gelten als das typischste kulturelle Symbol der Armenier.

Im osmanischen Parlament saßen in den Jahren vor dem Weltkrieg auch Armenier. Dort und bei Wahlen kooperierten sie zeitweise mit den Jungtürken. Die erfolgreichste politische Organisation der Armenier bei Wahlen bildeten die „Daschnakzutiun“ oder „Daschnaken“. Sie traten völlig verfassungskonform für Freiheit und Gleichheit ein und forderten wegen der großen Zahl der verschiedenartigen Nationalitäten und Rassen eine Dezentralisation des vom Balkan über Arabien bis Nordafrika sich erstreckenden Osmanischen Reiches. Das türkische Armenien sollte jedoch ein integraler Bestandteil des als unauflöslich betrachteten Staates bleiben. (Vgl. Dok. 12.11) Daneben agierten auch kleine, numerisch unbedeutende aber extrem nationalistisch argumentierende Organisationen wie die „Hintschakisten“. Diese von russischen Armeniern dominierte Vereinigung propagierte eine Zerschlagung des Osmanischen Reiches. Solche Parolen und entsprechende Aktionen richteten wenig aus, sie bestätigten lediglich unter Gegnern der Armenier verbreiteten Aversionen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges rief sie dazu auf, gemeinsam mit den russischen Truppen zu kämpfen und die unterdrückten Nationen zu befreien. (Vgl. Dok. 12.12)


Abb. 49: Armenier im Osmanischen Reich 1913/14

Aus: Armenian Review, Jg. 1994.
Die Karte zeigt, in welchen Teilen der heutigen Türkei die Armenier hauptsächlich lebten. Zu beachten ist, dass der größte Teil im hier nicht verzeicheten Russisch-Armenien siedelte. Statistiken enthalten, umstrittene Bevölkerungszahlen. Türken und Armenier hatten und haben gegensätzliche Sichtweisen. Aus der Sicht türkischer Autoren vermindern niedrige Zahlen den Anspruch der Armenier auf Autonomie und dienen als Argument, dass die Opferzahlen ab 1915 übertrieben würden.




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