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Kapitel

06. Massaker an den Armeniern in den Jahren 1894-1896, 1909 und an Griechen 1914 vor dem Genozid



Autor

Jörg Berlin

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6. Massaker an den Armeniern in den Jahren 1894-1896, 1909 und an Griechen 1914 vor dem Genozid

Die Armenier im Osmanischen Reich litten nicht erst seitdem 19. Jahrhundert unter Beraubungen, Verfolgungen und Mord. Phasen, in denen sie mit behördlicher Duldung oder sogar nach mehr oder weniger offener Aufforderung als Freiwild behandelt wurden, gab es seit jeher. Auch andere Christen wie z. B. die Maroniten im Libanon (1856) erlitten schreckliche Massaker, deren Ursachen in einem Gemenge von religiösen Differenzen und politischen Gegensätzen zu finden sind. Die Leiden der Armenier fanden während und nach dem osmanisch-russischen Krieg 1877/78 die besondere Aufmerksamkeit der europäischen Politik. Im folgenden Vertrag von St. Stephano verpflichtete sich die Osmanische Regierung, die sogenannte „Hohe Pforte“, die Lebensverhältnisse (auch) der Armenier zu verbessern und für deren Sicherheit zu sorgen. Die europäischen Großmächte erhielten das Recht, entsprechende Reformen zu überwachen. (Vgl. Dok. 6.02)

Die türkische Regierung, der Sultan und sicherlich viele Türken empfanden dies als unberechtigte Einmischung in die inneren Angelegenheiten und als Schwächung ihres Reiches, die nur außenpolitischen Interessen anderer Staaten diente. Faktisch blieb dieses Interventionsrecht allerdings auf verbale Protestnoten beschränkt, da insbesondere ein militärisches Eingreifen kostspielig gewesen wäre und Wirtschaftsinteressen verletzt hätte. Zudem hätten die Mächte unter sich einig sein müssen, auf welche Weise interveniert werden sollte. Deshalb trat vor allem im Osten Kleinasiens keine Besserung der Verhältnisse ein, zumal der Sultan die Übergriffe kurdischer Stämme durch die Zusammenfassung ihrer Kämpfer in sogenannten Hamidiye-Regimentern legalisierte, diese bewaffnete und bei Übergriffen rechtlich schützte. (Vgl. Dok. 6.01)

Zur Abwehr von Überfällen organisierten die Armenier sich zunächst im lokalen und später im nationalen Rahmen. Vor allem jüngere Armenier und Studenten gründeten auch im Ausland zudem Organisationen, die sich den Sturz des Sultansregiments zum Ziel setzten und dabei auch mit türkischen Oppositionsgruppen wie den Jungtürken zusammenwirkten. Sie führten zwar einzelne spektakuläre Aktionen durch, bildeten aber zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung für den Staat. Vor allem vertraten sie in keiner Weise die armenische Bevölkerung, die aber für deren Aktionen büßen musste. Trotzdem initiierte die Regierung des Sultans in den Jahren 1894 in Sassun und 1895/96 im gesamten Reich grausame Massaker (Vgl. Dok. 6.02 -Dok. 6.06). Im Unterschied zu den Ereignissen des Genozids fanden alle diese Untaten in aller Öffentlichkeit statt. Englischsprachige Zeitzeugen verwendeten in ihren Berichten zur Kennzeichnung einzelner Massaker bereits den Begriff „Holocaust“. (Vgl. Dok. 6.3 und Dok. 6.9)

Auch nachdem die Jungtürken durch militärische Gewalt die Macht im Staat erlangt hatten, kam es 1909 mit dem Schwerpunkt in der Provinz Adana wieder zu einer Abfolge von Massakern. Dies widersprach zwar den Intentionen der neuen jungtürkischen Führung in Konstantinopel, die Teilnahme von Militäreinheiten und lokalen jungtürkischen Führern zeigte jedoch, wie gefährdet die Lage der Armenier blieb. (Zu den Ereignissen in Adana vgl. hier Dok. 6.07 – Dok. 6.09. Eine ausführliche Darstellung und umfassende Aktensammlung bietet die Edition Adana 1909 auf www.armenocide.net.)

Die gewaltsame Vertreibung der Griechen von der Ägäisküste 1914 bildet in mancher Hinsicht eine Parallele zum Schicksal der Armenier bei den ersten Deportationen des Jahres 1915. Zunächst war die türkische Politik besorgt, die Griechen an der Ägäis und im türkischen Thrakien könnten bei einem Krieg mit Griechenland dessen Partei ergreifen. (Vgl. Dok. 6.10) 1915 lautete eine Beschuldigung der Armenier, sie würden durch Sabotage und Anschläge den Vormarsch russischer Truppen unterstützen.

Eine gemeinsamer Grund beim Verfolgen der Griechen und der Armenier war das Scheitern des zunächst friedlichen Konzepts einer „Osmanisierung“. Die Abkehr der Jungtürken von ihrem erklären Ziel eines multiethnischen, in religiöser Hinsicht toleranten Staates und einer politischen Gleichberechtigung aller Staatsbürger führte dazu, eine türkische Suprematie durch eine Homogenisierung der Bevölkerung zu sichern. Eine Voraussetzung dazu bildete die Umsiedlung und gegebenenfalls die Eliminierung nichttürkischer Bevölkerungsgruppen zunächst dort, wo sie einen erheblichen Anteil der Einwohner ausmachten. (Vgl. hierzu die Edition: Dänische diplomatische Akten von Matthias Bjørnlund auf www.armenocide.net.) Da dies unter den gegebenen Umständen absehbar auf friedlichem Wege nicht zu erreichen war, ordneten die Behörden insgeheim an, diese Christen durch Terror und Raub bewaffneter Milizen („Bashibozouks“) zu vertreiben. Nach außen wiesen sie jedoch jede Mitschuld von sich. Ähnlich wie später bei der erzwungenen Islamisierung von Armeniern sollten auch die Griechen vorzeigbare Schriftstücke verfassen, in denen sie ihr Handeln, hier das Verlassen ihrer Heimat, als freiwillig bezeichneten. Ein dänischer Konsul empörte sich in Bezug auf das Schicksal der Griechen über heuchlerische Propagandaaktionen des Innenministers Talaat. (vgl. Dok. 6.12) Er bezeichnete sie als Farce. Ein Jahr später deckte der deutsche Konsul Büge hinsichtlich der Armenier ähnliche Maßnahmen als dreiste „Täuschung“ auf. (Vgl. Dok. 4.5 und Dok. 10.16)

Nach Kriegsbeginn eskalierten antiarmenischer Stimmungen und Aktionen. Sie begannen lange vor den Deportationen. Ausländische Beobachter stimmte zunächst vor allem bedenklich, dass die Behörden Raub, Brandschatzung und Mord duldeten und damit zu deren Ausweitung beitrugen. Viele Armenier fürchteten Massaker. (Vgl. Dok. 6.14)

6a Die Massaker 1894-1896

Dokumente 6.01 bis 6.06


Abb. 18: Massaker in Sassun 1894. Ausgeführt durch Soldaten und Kurden




Massaker in Sassun. Ausgeführt durch Soldaten und Kurden
Aus: Bliss, Edwin M., Turkey and the Armenian Atrocities. A Reign of Terror, (New York) 1896, S. 307



Abb. 19: Massaker und Plünderungen in Konstantinopel 1895


Aus: Bliss, Edwin M., Turkey and the Armenian Atrocities. A Reign of Terror, (New York) 1896, S. 466.

6b Massaker in der Provinz Adana 1909

Dokumente 6.7 bis 6.9


Abb. 24: Massaker in Adana 1909


Aus: “Le Petit Journal”, Mai, 2, 1909, Paris [In schriftlichen Augenzeugenberichten wird ausdrücklich erwähnt, dass am dritten Tag befohlen wurde, Frauen u. kleine Kinder zu verschonen.]

Abb. 25: Massaker an Christen 1909


Aus: “Le Petit Journal”, Mai, 2, 1909, Paris

Abb. 26: Massaker an Armeniern 1909


Aus: “Le Petit Journal”, Mai, 2, 1909, Paris


Abb. 27: Opfer eines Massakers in der Provinz Adana 1909


Aus: www.genocide-museum.am. Foto Collection Adana massacre 1909

6c Gewaltsame Vertreibung der Griechen von der Ägäisküste

Dokumente 6.10 bis 6.12

6d Antiarmenische Stimmungen und Aktionen direkt bei Kriegseintritt

Dokumente 6.13 bis 6.14



Copyright © 2014 Dr. Jörg Berlin: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved