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Kapitel

07. Gebietsverluste des Osmanischen Reiches vor dem I. Weltkrieg



Autor

Jörg Berlin

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7. Gebietsverluste des Osmanischen Reiches vor dem I. Weltkrieg

Als Motive für den Völkermord an den Armeniern werden in der historischen Literatur u. a. Chauvinismus, religiöser Fanatismus und Raublust angeführt. Vom Standpunkt der jungtürkischen Machthaber aus betrachtet gibt es zudem einen Grund, der durchaus zweckrational erscheint. Seit Jahrhunderten verlor das Osmanische Reich Gebiete mit christlicher aber auch muslimischer Bevölkerung. Bei der Bildung der dort entstehenden neuen Staaten wirkten aus Eigeninteresse europäische Großmächte mit. Diese gaben zwar vor, aus moralischen Gründen unterdrückten Nationen zu helfen, da sie aber selbst über Kolonien oder kleinere Nationen in ihren Staaten herrschten, wird das im Osmanischen Reich als Vorwand durchschaut worden sein, zumal solche Abtrennungen z. B. auf Cypern und Kreta sowie in Griechenland und Bulgarien von blutigen Metzeleien an der muslimischen Bevölkerungsgruppe begleitet wurden.

Eine Abspaltung der sogenannten armenischen Provinzen im Osten Kleinasiens durch die oder mit Hilfe der Großmacht Russland lag 1914 nicht nur für Jungtürken im Bereich des theoretisch Denkbaren, (vgl. Dok. 7.01) auch viele europäische Diplomaten und Politiker sahen hier - je nach Standpunkt - eine reale Gefahr (vgl. Dok. 7.03 und Dok. 7.04) oder eine absehbare Entwicklung. (Vgl. Dok. 7.6) 1908 hatte Österreich-Ungarn die ehemals osmanischen Provinzen Bosnien und die Herzegowina annektiert. Und nur zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs lieferten ´christliche´ Staaten während der Balkankriege Beispiele einer mörderischen Politik gegen Muslime und Türken. Dort bei ihren ´christlichen´ Nachbarn könnten die Jungtürken Vorbilder einer ethnischen Homogenisierung mit blutigsten Methoden im Übermaß kennengelernt haben. Im von Griechenland eroberten Teil Makedoniens sank der muslimische Bevölkerungsanteil von fast 40 Prozent auf 0,1 Prozent. Massentötungen, das Verbrennen von Dörfern, Raub, Vertreibungen, Ertränken, das brutale Durchschneiden der Kehlen von Gefangenen all dies, was die Armenier wahrend des Genozids an barbarischen Untaten erlitten, hatten zuvor - wenn auch im zahlenmäßig deutlich geringeren Umfang – in Thrakien und Makedonien auch Muslime erlitten. (Vgl. Dok. 7.08 – Dok. 7.12) Bei den Massakern und ethnischen „Säuberungen“ auf dem Balkan schonten die Angehörigen der ´christlichen´ Nationen sich im Übrigen auch gegenseitig nicht.

Flüchtlinge aus den vormals osmanischen Herrschaftsgebieten in Europa und z. B. bereits früher aus ihrer Heimat nördlich des Kaukasus vertriebene Tscherkessen ließen sich dann 1915/16 während des Genozids als willige Instrumente bei der Auslöschung der Armenier verwenden. Rachegefühle, die diesen Männern ihr Morden erleichterten, sind bei den Organisatoren des Völkermords wie Talaat Bey und Enver Pascha nicht zu vermuten. Neben der unmittelbaren Sorge, Armenier könnten die vorrückenden russischen Truppen unterstützen, ging es ihnen unter dem Deckmantel des Krieges um eine rasche ethnische Homogenisierung. Aus dieser Perspektive betrachtet erfolgte die Auslöschung der Armenier in erster Linie nicht wegen spezifischer Eigenarten oder Bestrebungen ihrer Nation, sondern weil ihre Existenz und ihre Lebensverhältnisse einen Vorwand bieten konnten, die östlichen („armenischen“) Provinzen Kleinasiens direkt oder indirekt vom Osmanischen Reich abzulösen, so wie es mit zahlreichen anderen Gebieten zuvor bereits praktiziert worden war.

Rücksichtslos und ohne humanitäre Überlegungen beabsichtigte die jungtürkische Führung demnach vor allem das zu verhindern, was neben zahlreichen anderen Autoren der im Osmanischen Reich hoch angesehene deutsche Generalfeldmarschall C. von der Goltz in einem Zeitungsartikel 1913 offen als Gefahr dargestellt hatte: eine Aufteilung oder Gefährdung der Türkei u. a. durch „die Aspirationen Griechenlands auf die von Stammesgenossen bevölkerten Küstengebiete“ und eine russische Einflusszone in Armenien. (Vgl. Dok. 7.15)


Abb. 29: Der Aufstieg des Osmanischen Reiches bis 1683

Aus: Ackermann, Michael, Atlas zur Geschichte der Türkei und der Türken, Hamburg 1999, S. 29.



Abb. 30: Der Rückgang des Osmanischen Reiches seit 1683

Aus: F.W. Putzgers Historischer Schul-Atlas, Bielefeld 1914, Karte 38.



Abb. 31: Die Zertrümmerung des Osmanischen Reiches ab 1677

Aus: Harms, H., Länderkunde von Europa, Leipzig 1908, S.115


Abb. 32: Abtrennung Bulgariens, Bosniens und der Herzegowina vom Osmanischen Reich

Aus: Le Petit Journal, 18.10. 1908



Abb.33: Muslimische Flüchtlinge aus dem Zarenreich 1864 - 1878

Nach: McCarthy, Justin, The Ottoman Turks, London 1997, S. 334.




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