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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

10. Der Genozid in der offiziellen türkischen Version

Dokument 10.22

Hinweise für Lehrkräfte

Reaktion von Armeniern auf Schrift bzw. Vorwürfe der Regierung. Rückblick auf Zustände im 19. Jahrhundert. Solange Armenier zu Unrecht u. Ausbeutung schwiegen, ließ man sie arbeiten u. leben. Als Proteste erhoben u. Reformforderungen laut wurden, ließ Sultan blutig strafen. Nach jungtürkischer Revolution schien alles zu bessern. Aber von 24 Millionen Einwohnern des Osman. Reiches vor Ausbruch des Balkankrieges waren nur 6 Millionen Türken, 8 Millionen Araber, 4 Millionen Griechen, 2 Millionen Armenier, 1 Million Kurden und Lasen und schließlich viele Juden, Bulgaren, Albaner, Serben etc. etc. Deshalb gaben Jungtürken Gleichheitsprinzips auf, um Machtstellung zu halten. Jetzt heißt ihre Parole: Die Türkei den Türken.

Quelle

Matthias Bjørnlund: www.armenocide.net. A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. 1916-04-04-DK-001.






Eine Art armenischer Antwort auf die türkische Broschüre.

Aus einem Bericht des dänischen Gesandten in Konstantinopel, Wandel, an den Außenminister vom 4. April 1916


In meinem Bericht … vom 3. März dieses Jahres hatte ich die Ehre, 4 Exemplare der Broschüre mit dem Titel „Vérité sur le mouvement révolutionnaire arménien et les mesures gouvernementales” zu senden, die die hiesige Regierung veröffentlicht hat, um die Vorgehensweise gegen die Armenier … zu erklären. …

Auf Grund der wichtigen und interessanten Erklärungen, die ich in den hiesigen armenischen Kreisen bekommen konnte, will ich deshalb versuchen, vom armenischen Standpunkt aus eine kurze Darstellung der armenischen Frage zu geben, die als eine Art armenischer Antwort auf die türkische Broschüre dienen kann.

Kommentar zur türkischen Broschüre:

Vor dem neunzehnten Jahrhundert lebten Armenier in der Türkei ohne massakriert zu werden. Der Türke war der Herr und der Armenier sein „Raya“ oder Leibeigener, der arbeitete, um die Einnahmen seines Herrn zu erhöhen. Solange der armenische Bauer all seinen Gewinn an seinen kurdischen oder türkischen Agha abgab, und solange er nicht protestierte, wenn es dem Agha beliebte, ihm seine Frau oder seine Tochter zu rauben, solange tötete der Agha seine „Milchkuh“ natürlich nicht.

Aber Anfang des neunzehnten Jahrhunderts beeinflussten die neuen Ideen von Menschenrechten sogar die Türkei, und langsam – es dauerte ungefähr ein halbes Jahrhundert, bis die armenische Bevölkerung verstand, dass auch sie ein Recht auf ein freies und unabhängiges Leben hatte – begannen die Armenier sich bei den türkischen Behörden zu beschweren, wenn der Agha ihr Vieh oder ihre Töchter raubte.

Diese Beschwerden und Unzufriedenheit überzeugten die türkische Regierung schließlich davon, dass es vielleicht einfacher wäre, diesem ungläubigen Volk ein Ende zu bereiten, das inmitten von Muslimen an seiner Kirche und seinen nationalen Eigenheiten festhielt.

Schon vor dem russisch-türkischen Krieg 1877- 78 hatten die türkischen Armenier gesehen, welch gute Verhältnisse die Armenier im Kaukasus unter russischer Herrschaft erreicht hatten, und als das russische Gebiet nach dem Krieg erheblich erweitert worden war, so dass insgesamt 1½ Millionen Armenier unter russische Herrschaft kamen und dadurch lernten, was es heißt, ein Recht auf Leben zu haben, empfanden die türkischen Armenier umso mehr ihre Unterdrückung, und begannen, sich regelmäßig bei der Regierung in Konstantinopel zu beschweren.

Gleichzeitig gründeten armenische Studenten aus dem russischen Kaukasus Vereine zur Einführung von Reformen in Türkisch-Armenien.

Das Regime Abdul-Hamid, das erbost darüber war, dass ein christliches Volk unter türkischer Herrschaft es wagte, sein Recht auf Leben einzufordern und deshalb keine Existenzberechtigung hatte, beschloss die Vernichtung des armenischen Volkes.

Das System Abdul-Hamids bestand aus einer Reihe von zum Teil isolierten, zum Teil umfassenden Massakern. Aber dieses System hatte den Fehler, die Aufmerksamkeit der europäischen Mächte auf die armenische Frage zu lenken, und aufgrund des Einflusses der europäischen öffentlichen Meinung gelang es Abdul-Hamid nicht, die zweieinhalb Millionen Armenier zu vernichten.

Nach der Einführung der Verfassung gaben die Jungtürken in einem kurzfristigen Rausch der Begeisterung den Armeniern alle möglichen Versprechen, dass sie nun wie die anderen Völker des Reiches in den verfassungsgemäßen Genuss von Freiheit und Gleichheit kommen sollten. Aber es war offenbar schwer für ein Volk, das sich durch die Zeiten hindurch als Herren betrachtet hatte, sich nun plötzlich nach neuen Prinzipien zu richten und seine bisherigen Untergebenen als gleichgestellte Bürger in einem konstitutionellen Staat anzusehen. Die Armenier aber ließen sich von den goldenen Worten täuschen und betrachteten sich nun wirklich als den Türken gleichgestellt. Dieser Zustand führte zum ersten Massaker unter der [neuen] Verfassung, dem Massaker von Adana 1909, bei dem ungefähr 20.000 Armenier ums Leben kamen.

Doch es zeigte sich schnell, dass in einem parlamentarischen System das türkische Element in den Parlamentskammern zahlenmäßig unterlegen sein würde. Wenn man sich eine Union von armenischen, griechischen, arabischen und anderen nicht-türkischen Abgeordneten vorstellt, könnte diese bald das Kalifat gefährden. Aber man muss sich daran erinnern, dass von den 24 Millionen Einwohnern, die das türkische Reich vor Ausbruch des Balkankrieges hatte, nur 6 Millionen Türken waren, während es 8 Millionen Araber gab, 4 Millionen Griechen, 2 Millionen Armenier, 1 Million Kurden und Lasen und schließlich viele Juden, Bulgaren, Albaner, Serben etc. etc.

Weil es die türkische Bevölkerung aufgrund fehlender wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungsfähigkeit nicht verstand, ihre starke politische Stellung zu nutzen, um ihre Überlegenheit zu sichern, versuchten die Jungtürken, die bereits zu diesem Zeitpunkt die Hoffnung auf Durchsetzung des Gleichheitsprinzips aufgegeben hatten, durch eine panislamische Bewegung die Araber und Kurden, sowie die muslimischen Lasen und Albaner an sich zu binden. Aber die jungtürkische Verwaltung setzte die Tradition von Übergriffen aus den Tagen des Despotismus fort und nahm Kurden und Araber, die bisher vom Militärdienst freigestellt waren, in die Armee auf, was eine so große Unzufriedenheit bei den Genannten hervorrief, dass sogar die Albaner und Kurden offenen revoltierten.

Erst jetzt ließen die Jungtürken die Maske fallen und forderten: Die Türkei den Türken.

Weil sie diesen Kampf aber nicht auf legale Weise führen konnten, und aus Rücksicht auf Griechenland auch nicht auf dem Rücken der Griechen, und weil der Kalif nicht die Araber, die auch Muslime sind, ausrotten konnte, beschlossen sie, sich auf die Armenier zu stürzen, nicht nur, um dieses Volk auszuschalten, sondern auch um dadurch die anderen nicht-türkischen Nationen im Reich zu terrorisieren.

In der Broschüre der türkischen Regierung wird auf Seite 5 gesagt, dass sich die Armenier durch den Katholikos von Etchmiadsin an die russische Regierung gewandt hatten, und dass sie mit Noubar [Nubar] Pascha an der Spitze versuchten, eine ausländische Intervention in Bezug auf Angelegenheiten des Osmanischen Reiches herbeizuführen… .

… Was den Aufstand in Van anbelangt, sind die Tatsachen anders, als offiziell behauptet wird (die Gesandtschaft hat früher darüber berichtet), und in Bezug auf die anderen Vorfälle gibt es bislang noch keine gesicherten Informationen. Man kann allerdings schon jetzt feststellen, dass die Armenier nie zu den Waffen gegriffen haben, außer in gesetzlicher Notwehr anlässlich der Massaker und Raubzüge der Kurden und Türken. ... In Wirklichkeit sind die Armenierverfolgungen nur die Verwirklichung des jungtürkischen Vernichtungsplans gegen die Armenier, ohne jeglichen militärischen oder anderen Grund.

Was die Broschüre “Opfer von bedauerlichem Missbrauch und Gewalttaten” (Seite 14) nennt, umfasst 2 Millionen Armenier! Und das auf derselben Seite genannte Gesetz zur Erfassung der Güter der Deportierten ist eben jenes Gesetz, das jegliches Eigentum der Armenier konfisziert.



Copyright © 2014 Dr. Jörg Berlin: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved