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11. Mitverantwortung des Deutschen Reiches für den Genozid



Autor

Jörg Berlin

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11. Mitverantwortung des Deutschen Reiches für den Genozid

Die Leiden der Armenier unter der osmanischen Herrschaft waren den politisch Verantwortlichen in allen europäischen Hauptstädten spätestens seit dem Krim-Krieg bekannt. Der russische Zar hatte sich – aus welchen Motiven auch immer - zum Schutzherrn der orthodoxen Christen ernannt. Er war jedoch nach dem russisch-türkischen Krieg 1877/78 mit deutscher Unterstützung auf dem Berliner Kongress daran gehindert worden, vor dem Rückzug seiner Truppen aus Türkisch-Armenien die von Armeniern und Europäern angestrebten Reformen zu verwirklichen. Der deutsche Reichskanzler Bismarck äußerte am 2. November 1878, er wäre recht zufrieden, „wenn es uns gelänge, das orientalische Geschwür offen zu halten und dadurch die Einigkeit der anderen Großmächte zu vereiteln und unseren eigenen Frieden zu sichern.“ Der britische Staatsmann Lord Salisbury bekannte, er glaube nicht an „irgendeinen wirksamen Schutz für die Armenier durch die Klauseln des Berliner Vertrages“. Ihm sei es allein darum gegangen, Russland von einer dauerhaften Besetzung des türkischen Teils Armeniens abzuhalten. Großbritannien erhielt faktisch von der Türkei als Gegenleistung für seine Unterstützung gegen den Zaren und die Garantie des asiatischen Besitzstandes der Osmanen die Insel Zypern.

Nach den furchtbaren Massakern an den Armeniern 1894/95 beteiligte sich die deutsche Regierung zwar offiziell an Protesten und einer drohenden Flottendemonstration, stellte sich dann aber hinter den Sultan und leistete ihm gegen den Druck der übrigen Großmächte Beistand. Erstes Ziel war die Erschließung Anatoliens und Mesopotamiens für die deutsche Wirtschaft. Die bekannteste Folge bzw. Belohnung war die Konzessionserteilung für den Bau der Bagdad-Bahn. 1898 besuchte der deutsche Kaiser Palästina, Damaskus und Konstantinopel und stützte so den Sultan. Die deutsche Beteiligung an internationalen Vorstößen zur Verbesserung der Situation in Armenien erfolgte vor allem, um einseitige und eventuell weitergehende Aktionen der russischen Politik zu hintertreiben. Sprecher des nationalen Bürgertums wie Friedrich Naumann traten ohne Scham öffentlich dafür ein, aus Eigeninteresse „gegen die Leiden der christlichen Völker im türkischen Reich gleichgültig“ zu sein: “Das ist unsere Pflicht …vor Gott“. Sozialdemokratische Politiker attackierten hingegen die Regierung, der sie vorwarfen, nicht mit den reformwilligen europäischen Großmächten zu kooperieren, sondern in kurzsichtiger Weise lediglich an „allerhand Konzessionen für deutsche Industrielle und Handelsleute“ sowie am Verkauf von „Waffen und Kriegsmaterial“ interessiert zu sein.

Wenn die Mitverantwortung der deutschen Diplomatie am Schicksal der Armenier vor 1914 vor allem darin bestand, den Druck, den andere Großmächte auf die „Hohe Pforte“ in dieser Sache ausüben wollten, aus egoistischen Motiven abgeschwächt zu haben, um dafür im Gegenzug von der türkischen Seite bei der wirtschaftlichen und politischen Kooperation bevorzugt zu werden, dann änderte sich das mit Ausbruch des Weltkrieges. Die türkische Armee und Marine erhielten ihre eigentliche Kampfkraft durch finanzielle und logistische Unterstützung ihrer Bündnispartner sowie umfangreiche Waffen- und Munitionslieferungen vor allem aus Deutschland. Ihre Kriegführung war weitgehend von der Unterstützung der Bündnispartner abhängig. Auf diese Abhängigkeit und damit verbundene Einflussmöglichkeiten auch auf die Armenier-Politik haben zeitgenössische Beobachter schon 1915 hingewiesen. Der deutsche Botschafter von Wangenheim berichtete bereits am 15. April 1915, er sei von Armeniern gedrängt worden, die Schutzfunktion für die Armenier zu übernehmen, die vor dem Krieg England und Russland ausgeübt hatten. Wangenheim wies die Übernahme einer Verantwortung jedoch mit der Begründung zurück, die Jungtürken würden dies als „lästige Einmischung“ empfinden, deshalb sei Vorsicht geboten, um nicht „durch das Eintreten für eine vielleicht aussichtslose Sache wichtigere und uns näher liegende Interessen aufs Spiel zu setzen.“ (Vgl. Dok.11.01) Der Botschafter sagte nicht, eine Einmischung könne ohnehin nichts bewirken. Er wollte nicht einmal das bloße Risiko einer Verstimmung auf türkischer Seite riskieren. Diese Haltung war Mitte April 1915, als das Ziel der Auslöschung aller Armenier noch nicht eindeutig zu erkennen war, vielleicht noch nachvollziehbar. Die deutsche Botschaft änderte ihre Haltung jedoch auch nicht, nachdem sie erkannt hatte, dass der Bündnispartner einen Völkermord durchführte.

Die deutsche Bevölkerung erfuhr gar nicht, welche Tragödien sich in Anatolien und Mesopotamien abspielten. Die von der Oberzensurstelle in Berlin vorgegebene Leitlinie lautete: „Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit [! J. B.] nicht nur nicht gefährdet, sondern … nicht einmal geprüft werden.“ (Vgl. auch Dok. 11.02) Dies hinderte die offiziöse Nachrichtenagentur und die Presse nicht, die türkische Version der Ereignisse zu verbreiten. Gelegentlich gelang es in kleinen Blättern, der Zensur ein Schnippchen zu schlagen. In dem von Johannes Lepsius herausgegebenen kleinen Kirchenblatt „Der Christliche Orient“ schaffte es der Redakteur beispielsweise 1916, einen Bericht über die Kämpfe um den Musa Dagh mit einer Rahmenerzählung aus der Zeit der Kreuzzüge so zu verfremden, dass ein Zensor vor dem Druck nicht bemerken konnte, wovon die Erzählung in Wirklichkeit handelte. Solche kleinen Erfolge in der Aufklärungsarbeit änderten jedoch insgesamt gesehen kaum etwas an der Tatsache der einseitigen, verfälschenden Berichterstattung und der Irreführung der deutschen Bevölkerung.

Auch der Versuch des Abgeordneten Karl Liebknecht, am 11.1.1916 den Sitzungssaal des Reichstags als Forum für eine scharfe öffentliche Kritik an der „Ausrottung der türkischen Armenier“ zu nutzen, schlug fehl. Dabei wurde er nicht allein durch den Reichstagspräsidenten und dessen Glocke unterbrochen, sondern auch von Abgeordneten niedergebrüllt.

Der Verdacht, es handele sich bei den vom deutschen Botschafter in Konstantinopel überreichten Protestnoten lediglich um einen Versuch, etwa später vorgebrachter Anklagen wegen des Gewährenlassens der Türken seitens der deutschen Reichsleitung, etwas entgegensetzen zu können, stammt vom k. u. k. Botschafter . Was er diplomatisch verklausulierte, formulierten andere Zeitzeugen wesentlich klarer. Der Korrespondent der „Kölnischen Zeitung“ am Bosporus, Harry Stürmer, schrieb, er habe vom Verhalten der deutschen Regierung den Eindruck eines Gemisches von „Feigheit und Gewissenlosigkeit“ sowie kurzsichtiger Dummheit: „Denn wir hatten die türkische Regierung wahrlich militärisch, finanziell und politisch fest genug in der Hand, um wenigstens die Beachtung der aller einfachsten Grundsätze der Menschlichkeit durchzusetzen, wenn wir nur wollten.“ (Vgl. Dok. 11.05 sowie Dok. 11.03 und Dok. 11.07. Zu einer Gegenposition vgl.Dok. 11.08)

Ein Nachfolger des Botschafters Wangenheim, Paul Graf von Wolff-Metternich, er wirkte von November 1915 bis Oktober 1916 in Konstantinopel, schlug der Reichsregierung eine druckvolle Politik vor, da verbale Proteste nichts nützten. Die deutsche Politik müsse „nicht so ängstlich“ mit den verantwortlichen Türken umgehen, diese könnten im Krieg „nicht auf die andere Seite schwenken und Frieden machen.“ Ohne deutsche Offiziere, Geschütze und Finanzhilfen falle die türkische Armee in sich zusammen: „Um in der Armenierfrage Erfolg zu haben, müssen wir der türkischen Regierung Furcht einflößen.“ Sonst bleibe nichts übrig, als „zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert.“ (Vgl. auch zum Folgenden Dok. 11.06.) Mit seinen Ansichten und Vorschlägen drang der Botschafter nicht durch. Der Reichskanzler Bethmann Hollweg gab für die Türkeipolitik am 17.12. 1915 bei ausdrücklicher Zurückweisung der Initiative Wolff-Metternichs folgende Richtlinie aus: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

Dabei war dem Kanzler sehr wohl klar, dass die von ihm formulierte Ungewissheit („gleichgültig ob“) in der Realität gar nicht bestand, denn aus vielen ihm zugegangenen Berichten wusste er sehr genau, wie und unter welchen grauenhaften Verhältnissen die Armenier tatsächlich – euphemistisch ausgedrückt - bereits zu Grunde gingen.

Die Mitverantwortung der deutschen Politik bestand demnach vor allem darin, „Umsiedlungsmaßnahmen … in den Ostprovinzen“ „zugegeben“ und die Augen von dem Massenmord abgewendet zu haben. Hinzu kommt, dass sie nicht wagte, die Möglichkeiten einer entschiedenen Intervention auch nur auszuloten. Von einzelnen deutschen Diplomaten sind jedoch wiederholt und nachdrücklich ethische und humanitäre Bedenken geäußert und Hilfeleistungen gefördert worden. Anders sieht es im militärischen Bereich aus. Hier befürworteten Offiziere den Völkermord. Der deutsche Befehlshaber der türkischen Flotte, Konteradmiral Wilhelm Souchon, schrieb am 19. August 1915 in sein Tagebuch: „Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat.“ Der deutsche Marineattache in Konstantinopel und persönliche Freund Enver Paschas, Hans Humann, notierte am 15. Juni 1915: „Die Armenier wurden … jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“ Einzelne Militärs wie Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg unterstützten mit Waffengewalt das Vorgehen ihrer türkischen Kriegskameraden gegen Armenier. Diesen Militärs ist vielleicht zugute zu halten, dass sie meinten, bei einem „Bürgerkrieg“, einem „Armenier-Aufstand“ auf der Seite der legitimen Staatsmacht zu stehen. Ein hoher deutscher Offizier, der sehr genau wusste, was er tat, wirkte indirekt als Helfershelfer bei einem Massenmord mit. Es ging um viele tausend Armenier, die als Arbeiter bei dem von deutschen Ingenieuren geleiteten Ausbau der kriegswichtigen Bagdad-Bahn vor dem direkten Zugriff türkischer Behörden einen gewissen Schutz genossen. Die deutschen Leiter dieser Arbeiten setzten sich bewusst und sehr nachdrücklich aber letztlich vergeblich für eine Rettung ihrer Untergebenen ein. Unterstützung fanden sie auch in Berlin bei der Spitze der Deutschen Bank, die das Kapital für den Bahnbau zur Verfügung stellte.

Der im türkischen Generalstab zuständige Offizier für das Eisenbahnwesen war wegen der benötigten Erfahrung der deutsche Oberstleutnant Böttrich. Obwohl seine für den Bahnbau verantwortlichen Landsleute ihm die Folgen seines Tuns wiederholt sehr genau vermittelt hatten, ordnete er gegen ihren zähen Widerstand die Abberufung der Armenier aus den Baukolonnen an und überantwortete sie damit der Deportation und der Tötung.

Hinweise, die Initiative zur Deportierung der armenischen Zivilbevölkerung im Grenzgebiet zu Russland sei von dem deutschen General Bronsart von Schellendorff ausgegangen, sind ungeklärt. Von dem deutschen Oberst Otto von Feldmann, einem Berater des türkischen Kriegsministers Enver Pascha, ist die Äußerung überliefert, deutsche Offiziere, zu denen auch er zähle, hätten den Türken geraten, gewisse Gebiete von „Armeniern freizumachen.“ Bestätigt werden solche Hinweise durch die Mitteilung des k. u. k. Konsuls aus Trapezunt vom 22.10. 1915, wonach eine verlässliche deutsche Quelle ihm mitgeteilt habe, „dass die erste Anregung zur Unschädlichmachung der Armenier – allerdings nicht in der tatsächlich durchgeführten Weise – von deutscher Seite erfolgt sei.“

Trotz solcher Hinweise blieb die Beschäftigung mit einer deutschen Mitverantwortung am Genozid lange oberflächlich. Noch 2005 vermied es eine sonst durchaus sinnvolle Resolution des Bundestages das Geschehen einen Völkermord zu nennen. (Vgl. www-bundestag.de Bundestags-Drucksache 15/5689)

In den Zusammenhang dieses Problems gehört auch die von Ralph Giordano formulierte Frage, was sich möglicherweise im Tun der Nazi-Akteure geändert hätte, wenn der Untergang der Armenier nach dem I. Weltkrieg in ähnlicher Weise untersucht und publik gemacht worden wäre, wie es nach dem II. Weltkrieg mit dem Völkermord an Millionen jüdischer Frauen, Kinder und Männer im von deutschen Truppen besetzten Teil Europas geschah. Mit der rhetorischen Frage „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ soll - nach einem dem amerikanischen Journalisten L. P. Lochner aus den Kreisen des deutschen militärischen Widerstandes übergebenen Dokument - der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler am 22. August 1939 im Kontext mit dem bevorstehenden Überfall auf Polen und die geplante unbarmherzige und mitleidlose Behandlung der polnischen Bevölkerung unmittelbar auf die Folgenlosigkeit eines Völkermordes für die Täter hingewiesen haben. Er könnte damit den auf dem Obersalzberg versammelten Militärbefehlshabern eventuell vorhandene Skrupel und Besorgnisse genommen haben; denn im Fall der Türkei war die Masse der Mörder straffrei ausgegangen.



Copyright © 2014 Dr. Jörg Berlin: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved