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Kapitel

03. Zwangsislamisierung



Autor

Jörg Berlin

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3. Zwangsislamisierung

In der Zeit des Völkermords rettete in manchen Orten und Regionen ein Übertritt zum Islam einer kleinen Zahl von Verfolgten das Leben. Viele der aus Angst, d. h. unter Zwang Konvertierten mussten allerdings nach einer gewissen Zeit doch noch ihre Heimat verlassen und das Schicksal der vor ihnen Deportierten teilen.

Bei dem Drängen und Auffordern zum Übertritt zum Islam gab es neben religiösem Eifer auch andere Motive. Angehörige dringend benötigter Berufsgruppen sollten verbleiben, befreundete Familien gerettet werden. Generell scheint ein Übertritt von Frauen und Mädchen deutlich mehr Leben gerettet zu haben als der von Männern.

Eine erschütternde Szene beschrieb die KrankenschwesterThora von Wedel-Jarlsberg. Sie beobachtete Mitte 1915 einen Deportationszug und berichtete, manche der Frauen „ waren augenscheinlich wahnsinnig geworden. Sie schrien: Rettet uns! Wir wollen Moslems werden! (ihnen ja das allerschwerste). Wir wollen Deutsche werden! Was Ihr wollt, nur rettet uns!! Jetzt führen sie uns nach Kunagh Boghasy und - “ dabei machten sie die Gebärde des Halsabschneidens.“ Hilfe war aber nicht möglich. (Vgl. www. Armenocide. net. 1915-07-28-DE-001)

„Massenübertritte“ wurden nicht geduldet, weil dies – so ein deutscher Beobachter – die angestrebte „völlige Unschädlichmachung der armenischen Bevölkerung vereitelt“ hätte. (Vgl. Dok. 3.3)

Nach der Beurteilung der meisten deutschen und österreichischen Zeitzeugen waren weder der Völkermord noch die damit im Zusammenhang stehenden Fälle von Zwangsislamisierung die Folge von religiösem islamischem Fanatismus. Insbesondere die verantwortlichen Führer der Jungtürken galten in ihrer Mehrzahl als religiös indifferent. (Vgl. Dok. 3.6) Sie benutzten religiöse Gefühle, Vorbehalte und Gegensätze jedoch skrupellos als Instrumente ihrer Politik. In der islamischen Bevölkerung vorhandene Aversionen gegenüber den christlichen Armeniern hätten ohne die staatlich gelenkte Stimmungsmache nicht die umfassende Ausdehnung der Verfolgung und die brutalen Formen angenommen.

Innenminister Talaat Bey hatte in einer Geheimrede im Oktober 1910 zutreffend festgehalten, dass die Gefühle der Muslime und religiöse Bestimmungen des Islam der in der Verfassung des Osmanischen Reiches festgelegten Gleichstellung von Christen und Muslimen entgegenständen. (Vgl. Dok. 9.04 und 9.05) Als Aufruf zum Vorbereiten eines Massenmords kann diese Rede aber nicht verstanden werden. Das leitende Motiv war nicht religiöser Fanatismus, sondern, wie es der deutsche Botschafter 1916 in einem anderen Zusammenhang formulierte, „ die Absicht, die Armenier mit den mohammedanischen Bewohnern des Reiches zu amalgamieren.“ (Vgl. Dok. 3.6) Die Verfolgung der Christen betraf außer den (mehr an Russland orientierten) gregorianischen auch protestantische und katholische Armenier. Gesicherte Angaben über die Mitgliederzahlen anderer christlicher Ostkirchen vor 1914 liegen bisher nicht vor. Auf der Pariser Friedenskonferenz gab eine Delegation der vor allem im südöstlichen Kleinasien beheimateten Assyro-Chaldäer (Nestorianer und Jakobiten) an, ihrer Kirchen hätten vor dem Krieg in Persien und im Osmanischen Reich insgesamt 563 000 Menschen angehört. Für Anatolien sei von 190 000 Nestorianern (Assyro-Chaldäern der Ost Syrer) und 133 000 Jakobiten (Assyro-Chaldäern der West-Syrer) auszugehen. Von diesen seien ungefähr 250 000 getötet worden. In den Provinzen Van, Bitlis, Sivas, Harput lebten vor 1914 außerdem etwa 101 000 Chaldäer, 12 500 armenischen Katholiken, und 56 000 syrische Christen. Ausgenommen von den Maßnahmen gegen die Christen in Kleinasien ab 1915 blieben die Griechen. Dies ist jedoch nicht als Beweis für Toleranz und Humanität zu werten. Der wesentliche Grund war, dass eine Verfolgung der osmanischen Griechen zum Kriegseintritt des Staates Griechenland gegen die Türkei bzw. die Mittelmächte geführt hätte.

Der für die Auslöschung der Armenier verantwortliche Innenminister Talaat ließ am 29. Juni 1915 nach Diarbakir, der Provinz mit dem höchsten Anteil (über 20 Prozent) nichtarmenischer Christen an der Bevölkerung, telegraphieren, Massaker, die unterschiedslos alle christlichen Gemeinschaften träfen, hätten aufzuhören. Die gegen die Armenier angeordneten »disziplinarischen« Maßnahmen seien auf keinen Fall gegen andere Religionsgemeinschaften in Anwendung zu bringen.

Wahrscheinlich waren solche Einschränkungen lediglich Täuschungsversuche. Auffällig ist, dass solche Einschränkungen oft erst nach Abschluss des Hauptteils der Deportationen und ausländischer Intervention erfolgten. Außerdem führten die Machthaber in den Provinzen ihre Untaten nach einer kurzen Schamfrist meist ungerührt weiter. (Vgl. hierzu auch Dok. 4.4 und 4.6) Offensichtlich wussten sie, dass solche offiziellen Anweisungen für ausländische Diplomaten und Institutionen gedacht waren, während sie sich an das vor allem vom verantwortlichen Innenminister Talaat gewollte Vernichtungsprogramm und entsprechende von jungtürkischen Funktionären beziehungsweise persönlichen Emissären erteilte Befehle zu halten hatten. Besonders erwähnenswert - weil beispielhaft für die geringe Glaubwürdigkeit gewisser Dokumente - ist, dass Konvertiten in manchen Orten gezwungen wurden, schriftlich zu versichern, dass sie auf gar keinen Fall zum Religionswechsel gezwungen worden waren, sondern diesen sogar nur gegen den Widerstand von Behördenvertretern hatten durchsetzen können. (Vgl. Dok. 3.4 und allgemein Dok. 10.17)



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