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Kapitel

04. Zur Übermittlung der Befehle des Zentralkomitees der Organisation „Einheit und Fortschritt“ der Jungtürken zur Auslöschung der Armenier



Autor

Jörg Berlin

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4. Zur Übermittlung der Befehle des Zentralkomitees der Organisation „Einheit und Fortschritt“ der Jungtürken zur Auslöschung der Armenier

Eindeutige amtliche Anweisungen zur Auslöschung der Armenier gibt es kaum. Das liegt unter anderem an einer Beseitigung von solchem belastenden Material nach dem Krieg. Zudem zeigen Berichte von Empfängern solcher Aufträge, dass sie mehrdeutig abgefasst waren. Asaf Bey, der Vize-Gouverneur von Tschangere erklärte dies zwei verhafteten Armeniern, denen er helfen wollte. Diese beiden Männer, K. Balakian und D. Kelekian, gehörten zu den armenischen Intellektuellen, die am 24. April 1915 in Konstantinopel festgenommen und deportiert wurden. (Zu D. Kelekian vgl. auch Dok. 7.3)

Asaf Bey erhielt vom Innenminister Talaat Bey die telegraphische Aufforderung, nach Konstantinopel zu berichten, wie viele der Armenier in seinem Verantwortungsbereich verstorben wären und wie viele noch am Leben seien. Asaf Bey erklärte, was diese Formulierung bedeutete: „Das Telegramm bedeutet: Warum warten Sie? Machen Sie Massaker!“ Diese Aussage machte der armenische Bischofs Balakian, er war einer der beiden Armenier, vor einem Berliner Gericht im Prozess gegen den Mörder Talaat Paschas. Sie demonstriert die Schwierigkeiten bei der Deutung von Dokumenten. Zugleich bestätigte die Aussage, dass die Mordbefehle aus Konstantinopel kamen.

Eine andere Methode ausdrückliche Tötungsanweisungen zu vermeiden, bestand in einem zweigleisigen Vorgehen. In einer ersten offiziellen ministeriellen Mitteilung erhielten Behörden in den Provinzen den Auftrag, die Armenier zu deportieren, sie dabei aber ordentlich zu behandeln, zu verpflegen und für angemessene Unterbringung zu sorgen. In einer kurz darauf folgenden Anweisung durch jungtürkische Funktionäre wurden diese Schutzvorschriften zurückgenommen. Die erste Mitteilung konnte dann als Beweis der Unschuld zumindest gegenüber den Verbündeten Deutschen und Österreichern öffentlich vorgezeigt werden, während die zweite geheim blieb. (Vgl. Dok. 4.5 )

Zu Beginn der Deportationen scheinen die Mitglieder der jungtürkischen Organisation in den Provinzen noch über ein gewisses Mitspracherecht verfügt zu haben. Nach der Darstellung des Historikers R. Kevorkian berichtete z.B. der Armenier Boghos Vartanaian über den Entscheidungsprozess in der Stadt Erzerum. Dort fand zwischen dem 18. und 21. April 1915 auf Initiative aus Konstantinopel ein Geheimtreffen der führenden Jungtürken und Notabeln der Stadt über Behandlung und Schicksal der Armenier statt. Ein Drittel der etwa 120 anwesenden Männer sprach sich für eine begrenzte Umsiedlung - im eigentlichen Sinne des Wortes - aus den Grenz- und Frontgebieten aus. 20 Personen waren dafür, die Armenier überhaupt unbehelligt zu lassen. Die übrigen Männer, unter ihnen die führenden Jungtürken, votierten für eine unterschiedslose Vernichtung. Die Verhältnisse in Erzerum sind insbesondere im Hinblick auf die Zahlen sicherlich nicht repräsentativ, aber sie zeigen doch, wie geteilt die Meinungen blieben und zentrale Anordnungen in der ersten Phase des Genozids noch nicht unanfechtbar waren.

Auf erhebliche Einstellungsunterschiede bei ähnlichen Treffen verweist auch der Armenier K. Jernazian. (Vgl. Dok. 4.4) ) Die Geheimhaltung von Tötungsbefehlen fiel dann besonders leicht, wenn die Befehlsempfänger die Anweisung mündlich erhielten – verbunden mit der Mitteilung höchste Beschlussorgane hätten dies geplant und angeordnet. (Vgl. Dok. 4.1) Dieses Verfahren wurde entsprechend übereinstimmenden Berichten europäischer und türkischer Zeitzeugen sowie den Aussagen betroffener Beamter nach Kriegsende und dem Machtverlust der Jungtürken in Prozessen vor türkischen Gerichten häufig gewählt. Beamte, die sich widersetzten, verloren ihr Amt und in einigen Fällen ihr Leben. (Vgl. Dok. 13.5, 13.7, 13.8) Das Aufdecken von mündlichen Anweisungen durch verlässliche jungtürkische Parteifunktionäre erklärt das Fehlen schriftlicher Mordbefehle. Die Überbringer der geheimen Tötungsanordnungen traten oft unter der harmlos klingenden Bezeichnung „Deportations-Inspektor“ auf. Einem Bericht des Missionars H. Bauernfeind aus Malatia ist zu entnehmen, dass sie zugleich durch die Verbreitung von Gräuelpropaganda Stimmung gegen die Armenier machten und damit die überbrachten Anordnungen rechtfertigten und möglichen Einwänden entgegenwirkten. (Vgl. Dok. 10.11)



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