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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

06. Massaker an den Armeniern in den Jahren 1894-1896, 1909 und an Griechen 1914 vor dem Genozid

Dokument 6.04

Hinweise für Lehrkräfte

Armenische Revolutionäre hatten als Protest gegen landesweite Massaker die Zentralbank überfallen u. besetzt. Erhalten nach russischer Vermittlung freien Abzug. Kurz darauf beginnen als Strafaktion neue Massaker gegen Armenier. Diese enden erst, als Großmächte Truppen landen u. drohen, den Sultan abzusetzen.

Quelle

Zwei Jahrzehnte im Nahen Orient. Aufzeichnungen des Generals der Kavallerie Baron Wladimir Giesl. Hg. von Generalmajor Ritter von Steinitz, Berlin 1927, S. 132.






Herr, mische Dich nicht ein, der Befehl ist so gegeben.

Der demonstrative Überfall auf die Ottomanische Bank 1896 in Konstantinopel durch armenische Aktivisten und dessen Folgen


Beim Überfalle auf die Ottomanbank [Staatsbank] am Nachmittag des 26. August [1896] verschafften sich zuerst einige im Institut bedienstete Armenier, mit gefüllten Säcken auf dem Rücken, unter dem Verwände Einlass durch das Haupttor, dass sie Silbergeld in den Tresorraum zu bringen hätten. Zwei Bombenwürfe in den Kassensaal lähmten den Widerstand der zahlreich anwesenden Beamten. Der Bankgouverneur flüchtete über die Dächer. Den ersten Attentätern drängte alsbald ein Armenierhaufe nach. Doch rasch verständigte der Portier die nächsten Polizeiwachen; Militär umstellte das Gebäude, in dem sich die Aufrührer verbarrikadierten. Sie drohten, das Haus [und die Geldvorräte] in die Luft zu sprengen, sobald die Soldaten vorgehen würden. Stundenlange Verhandlungen führten erst dann zu einem Ergebnisse, als sich der erste Dragoman der russischen Botschaft, Maximow, ins Mittel legte. Den Übeltätern wurde freier Abzug gewährt, man brachte sie, wenn ich mich recht erinnere, noch am gleichen Abend auf ein russisches Schiff. …

[Erste Folgen für unbeteiligte Armenier]

Polizeipatrouillen, Lastträger und Matrosen sowie die neugierige Bevölkerung füllten [danach] die breite Straße nach Tophané. Die Bluttaten nahmen ihren Anfang. Polizisten, Knüppelmänner und Soldaten holten sich einzelne [armenische] Individuen aus den Häusern heraus, trieben sie ein paar Schritte vor sich her, um sie hernach mit Schlägen auf den Kopf niederzustrecken. Ein kläglicher Schrei: „aman!" [„Gnade“] ... dann suchte sich die Patrouille ein neues Opfer. Diese furchtbaren Vorgänge wiederholten sich unaufhörlich vor meinen Augen; bis Tophané zählte ich siebzig Erschlagene.

Vergeblich versuchte ich, Einhalt zu gebieten. Ein Offizier, an den ich mich wandte, antwortete bezeichnenderweise in voller Ruhe: „Effendim, karischma emr öjle tschikmisch." [„Herr, mische Dich nicht ein, der Befehl ist so gegeben."] …

… Die Niedermetzelung der Armenier dauerte während der Nacht und durch weitere zwei Tage fort; die Mordbanden suchten alle Viertel und Vorstädte ab. Zuerst wurden die Inwohner erschlagen, dann erfolgte prompt die Plünderung der betreffenden Häuser. …

Am 27. August fuhr ich nach Bujukdere. [Botschafter] Baron Calice nahm meinen Bericht ungläubig auf; nichtsdestoweniger beschloss die Botschafterreunion [hier: Versammlung] am Nachmittage, eine Note an die Hohe Pforte zu richten; sie glich einem Schlag ins Wasser.

Erst als am nächsten Tage die Knüppelmänner und ihr Anhang in den Dörfern am Bosporus erschienen und selbst auf den Kais vor den Sommerresidenzen der Botschafter Mordtaten gegen Armenier verübten, ward den Missionschefs der Ernst der Lage klar. Die Stationsschiffe [der europäischen Mächte] landeten Matrosendetachements. In einer zweiten unmittelbar nach Yildiz gerichteten Note wurde der Sultan - ein bis dahin noch nie gehandhabtes Verfahren - nachdrücklichst an die Herstellung gesicherter Verhältnisse gemahnt und für den Gegenfall mit Absetzung bedroht.

Die Wirkung stellte sich fast augenblicklich ein. ... Das Morden hörte auf, und die überlebenden Armenier mochten sich, aufatmend, für gerettet halten. Nach bescheidener Schätzung sollen während des achtundvierzigstündigen Gemetzels 12 000 Menschen ums Leben gekommen sein. Widerstand wurde fast nirgends geleistet, auch dann nicht, als sich die Armenier ausgiebig bewaffnet hatten. Zu Kämpfen kam es selten. … Die Opfer der Massakers wurden zu fünfzehn und zwanzig auf Karren geworfen, auf den Friedhöfen mit Kalk überschütte und in großen Gruben verscharrt. Oft zogen diese schauerlichen Transporte an mir vorüber; mitten in den Leichenhaufen gewahrte man noch zuckende Gliedmaßen. Ein englischer Sekretär, der auf dem Friedhofe von Ferikiöj darauf aufmerksam machte, dass sich zwischen den zu Bestattenden noch Lebende befänden, erzielte nur, dass der Totengräber den Verröchelnden mit dem Grabscheit den Garaus machte.

Zum Schutze der Europäer lief für jede großmächtliche Botschaft ein zweites Stationsschiff ein.…

In den Provinzen war die Ruhe … noch keineswegs hergestellt. …

Ende 1896 kam mir der Geheimbericht eines Vali in Hocharmenien an den Sultan zur Kenntnis, der die armenische Frage vollkommen klar charakterisierte. Er lautete dem Sinne nach: „In den Jahren 1891 bis 1896 sind aus dem Vilajet 50 000 Armenier über die Grenze geflohen, etwa 30 000 sind noch in den Wäldern versteckt, 45 000 haben sich zum Islam bekannt und an 10 000 dürften gestorben (?!!!) sein. Jetzt ist den Muselmanen, dank der weisen, von Eurer Majestät ergriffenen Maßnahmen überall die Majorität gesichert.


Abb. 21: Massaker in Konstantinopel 1895

Gezeichnet nach einem Augenzeugenbericht
Aus: Bliss, Edwin M., Turkey and the Armenian Atrocities. A Reign of Terror, (New York) 1896, S.467



Copyright © 2014 Dr. Jörg Berlin: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved