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Buch | 
Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin |

Kapitel | 
08. Reformvorschläge für Türkisch-Armenien vor 1914 |
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Dokument 8.3 |

Hinweise für Lehrkräfte | 
Leiden des armen. Volkes nehmen zu, versprochene Reformen blieben aus. Notwendig wären: Trennung in autonome armenische und muslimische Provinzen und deren Selbstverwaltung. Verbürgung der Grundrechte in diesen Gebieten. Kontrolle durch Großmächte. |

Quelle | 
Bazarbek, Avetis, Die armenische Frage und der Sozialismus. In: Die Neue Zeit, 14. Jg., Stuttgart 1896, S. 498 ff. |

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Da lassen sich sehr leicht große Provinzen abgrenzen.
Reformpläne eines Mitglieds der „Hintschakisten“, der radikalsten politischen Organisation der Armenier
Seit 1878 bis auf den heutigen Tag ist Artikel 68 des Berliner Vertrags toter Buchstabe geblieben. Durch diesen Artikel hatten sechs europäische Großmächte feierlich und international das dringende Recht der Armenier auf bessere Verhältnisse anerkannt. … Trotzdem ist … im Punkte der Reform nichts geschehen. Umgekehrt, die Lasten und Leiden des armenischen Volkes sind immer schwerere, unerträglichere geworden.
[Die Verteilung der Lebensräume von Mohamedanern und Armeniern in Türkisch-Armenien] … erinnert … an das Fell eines gefleckten Leoparden. Die Armenier und Mohamedaner leben direkt nebeneinander, aber nur selten vermischen sie sich miteinander. Dieser Zustand [ermöglicht] … eine weitgehende kommunale und provinziale Autonomie. Da lassen sich sehr leicht große Provinzen abgrenzen – von Bezirken nicht erst zu reden – mit homogener Bevölkerung wie die Schweizer Kantone. … Den hauptsächlichsten natürlichen Grenzlinien entsprechend müssen die südwestlichen, westlichen und südöstlichen Teile des Landes, in denen nur hier und da zerstreut armenische Dörfer liegen, und die hauptsächlich von Muselmännern bewohnt sind, als besondere mohamedanische Vilajets [Provinzen] konstituiert werden. Der Rest von Groß- und Kleinarmenien und Cilicien bildet natürlich eine Reihe armenischer Vilajets, in denen zerstreut einzelne muselmännische Gemeinwesen liegen.
Ein gewisser Grad von kommunaler Autonomie hat in Armenien jederzeit bestanden. … Sie begreift [nach einzuführenden Reformen] in sich das Recht, Beamte, Bezirksrichter, Polizeibehörden zu ernennen, das Recht, den Unterricht zu organisieren und die Sprache zu bestimmen, deren sich die Bewohner im öffentlichen Leben bedienen sollen. Ferner
1) Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und elementare politische Rechte wie
2) Presse-, Rede-, Gewissensfreiheit, Versammlungs-, Vereins- und Wahrecht.
3) Die Habeas Corpus-Akte.
4) Völlige Trennung von Staat und Kirche. …
5) Ausdehnung des Rechts, Waffen zu tragen, auf die Armenier. (Die Muselmänner besitzen bereits dieses Recht.)
Die Frage der zentralen Regierungsgewalt kann unseres Erachtens in folgenden Weise geregelt werden:
1) Es wird ein christlicher Landesgouverneur seitens der europäischen Mächte für eine bestimmte kürzere oder längere Amtsdauer gewählt.
2) Es wird eine Landesversammlung gewählt, die aus Volksvertretern besteht, welche auf bestimmte Zeit und auf Grund des allgemeinen Stimmrechts unterschiedslos in den armenischen und den mohamedanischen Vilajets ohne Rücksicht auf die daselbst vertretene Religion gewählt werden. Die Landesversammlung … beschließt durch Majorität. Ihr steht alle Legislativgewalt zu.
3) [Aus der Landesversammlung wird ein Verwaltungsrat gebildet.] Diesem … steht die Exekutivgewalt über das ganze Land zu. …
4) …
5) Armenien untersteht der unmittelbaren Kontrolle der europäischen Mächte.
Wenn Armenier und Muselmänner [in diesem Teil der Türkei] ein gemeinsames Vaterland haben, dessen Regierung sich so vorteilhaft von denjenigen der benachbarten türkischen Provinzen unterscheidet, so werden auch die Mohamedaner sehr bald von jenem Gefühl des Patriotismus durchdrungen sein, welches sie nach und nach mit den Armeniern trotz der Verschiedenheit der Religion zu einer einzigen Gesamtheit zusammenschweißt. … Ein [solches] unabhängiges und autonomes Armenien [im Osmanischen Reich] das unter dem Schutz der europäischen Mächte steht, … kann zur unübersteigbaren Mauer werden, an welcher der Einfall des russischen Despotismus abprallt. |