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Kapitel

13. Türkische und deutsche Helfer und Retter



Autor

Jörg Berlin

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13. Türkische und deutsche Helfer und Retter

Erfahrungsgemäß gibt es in der Schülerschaft Gruppen, die zu Pauschalisierungen neigen und eine Verantwortlichkeit von Türken für den Genozid so missverstehen könnten, als wären „die“ Türken insgesamt gemeint. Ein solches Missverständnis ist unbedingt zu vermeiden. Dazu böte es sich an, den Unterricht mit dem Wirken von tapferen und human handelnden Türken zu beginnen, die sich während des Genozids für Verfolgte einsetzten. Unter einem anderen Vorzeichen gilt dies auch für Lerngruppen, für die es emotional schwierig wäre, sich mit einem Völkermord im Osmanischen Reich zu beschäftigen, weil sie dies als Beleidigung der heutigen Türkei oder des Islam empfänden. Dem ließe sich entgegenwirken, indem bereits zu Beginn der Beschäftigung mit dem Thema türkische Frauen und Männer als positive Identifikationsfiguren gezeigt würden, die ihrem Gewissen folgten und anderen Menschen halfen, die Opfer eines Verbrechens wurden.

Damit würde keineswegs unterschlagen, dass es neben Rettern und Helfern auch tausende von Tätern, Profiteuren, Zuschauern sowie viel Zustimmung für antiarmenische Maßnahmen gab.

Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft zeigten sich während der „Deportationen“ bereits im Kleinen, wenn z. B. eine einfache Frau versuchte, verdurstenden Deportierten trotz der Verbote und der Gewalt von Gendarmen Wasser zu reichen. Auch Personen, die in Eingaben an die Behörden gegen die Behandlung der Armenier protestierten, schauten den Leidenden nicht gleichgültig zu. (Vgl. zu solche Fällen www.armenocide.net 1915-11-01-DE-001) Helden waren sie nicht, aber auch ihr Handeln verdient Beachtung und Anerkennung. Das gilt z. B. ebenfalls für einen Beamten, der Armeniern verriet, dass ihre Ermordung und ein Massaker drohten, und ihnen riet zu flüchten. (Vgl. die Einleitung zu Kapitel 4).

Helden, d. h. Personen, die sich trotz angedrohter Strafen für Armenier einsetzten, sind besonders zu erwähnen. Auch diese gab es in einem größeren Umfang. Dies geht u. a. indirekt aus einem Erlass des Kommandanten der III. Armee, Mahmud Kamil, vom 10. Juli 1915 hervor. Darin hieß es: „Wir haben erfahren, dass in bestimmten Dörfern, aus denen die Bevölkerung ins Innere verschickt wurde, gewisse Teile der muslimischen Bevölkerung Armenier in ihren Häusern Unterschlupf gewährt. Dies ist eine Verletzung von Regierungsanordnungen. Haushaltsvorstände, die Armeniern Unterschlupf gewähren oder sie schützen, sind vor ihren Häusern zu erschießen und es ist erforderlich, dass jene Häuser niedergebrannt werden. … Sollten jene, die Armenier beschützen oder freundschaftliche Beziehungen zu ihnen aufrechterhalten, dem Militär angehören, sind sie unverzüglich zu entlassen, ihre Vorgesetzten sind zu informieren und sie sind gerichtlich anzuklagen. Handelt es sich um Beamte, sind sie von ihren Posten zu entlassen und vor ein Kriegsgericht zu stellen.“

(Vgl. auch Dok. 1.15 und allgemein zu Strafandrohungen Dok. 13.02) Solche Strafmaßnahmen wurden zwar selten ausgeführt (vgl. Dok. 13.06), aber allein deren Androhung zu ignorieren, verdient Anerkennung.

Hilfsaktionen gab es nicht nur für Armenier, sondern auch für andere von Massakern bedrohte Christen wie die Syro-Armäer. (Vgl. Dok. 13.1) Beteiligt an Hilfsaktionen waren Türken, Araber, Tscherkessen und Kurden. Dies ist sowohl durch spätere Interviews mit Überlebenden wie durch zeitgenössische Berichte und Aufzeichnungen von Geretteten belegt. Die Helfer und Retter kamen aus allen Schichten der Gesellschaft: Bauern und Dorfbewohner, Angehörige der ländlichen Oberschicht, Kaufleute, Regierungsbeamte, Soldaten und Polizisten. (Vgl. auch www.armenocide.net 1918-10-18-DE-001)

Die häufigste Hilfsmaßnahme war das Aufnehmen und Verstecken. (Vgl. Dok. 13.02- Dok. 13.04) Deren Dauer variierte von Tagen zu Monaten und Jahren. Die Helfer handelten aus unterschiedlichen Motiven. Nicht wenige versprachen sich auch ökonomische Vorteile durch die Arbeit der geretteten (meist) Frauen und Kinder, einige erkannten, dass die Tötung von Unschuldigen gegen ihren muslimischen Glauben und die Lehren des Koran verstießen. Die meisten halfen aus Mitleid mit den bedrohten Menschen. (Vgl. hierzu auch die Graphiken im Text.)

Von besonderer Bedeutung sind die Hilfsmaßnahmen durch höhere Beamte, weil diese durch Nichtbeachtung von Anweisungen oder Hilfsmaßnahmen versuchten, viele Menschen vor der Vernichtung zu retten und dabei berufliche Stellung, (vgl. Dok. 13.02) Freiheit oder sogar ihr Leben einsetzten. Viele solcher Hilfsmaßnahmen hatten nur kurzfristig Erfolg. (Vgl. Dok. 13.07) An der positiven Bewertung der Handlungsweise dieser vorbildlichen Helfer und Menschen ändert das nichts. Nach Aussagen deutscher Diplomaten, türkischer Zeitzeugen und Urteilen türkischer Gerichte nach dem Krieg wurden mehrere Beamte ermordet, weil sie sich dem Völkermord widersetzt hatten. (Vgl. Dok. 13.05 und Dok. 13.08)

Auch deutsche Krankenschwestern, Missionare, Diplomaten, Soldaten und Offiziere versuchten, vom Tod bedrohten Armeniern zu helfen. Besonders zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die Rettungsaktionen in Smyrna und Bagdad durch General Liman von Sanders und Feldmarschall von der Goltz. Deren Beispiele zeigen, was bei einem entschiedenen Auftreten möglicherweise zu erreichen gewesen wäre. Ihr vorbildliches Verhalten in den dokumentierten Einzelfällen mindert die Mitverantwortung der deutschen Politik am Genozid nicht. Der Reichskanzler Bethmann Hollweg gab für die Türkeipolitik am 17.12. 1915 gegen die dringende Empfehlung des deutschen Botschafters in Konstantinopel, Graf Wolff Metternich, die bereits erwähnte Richtlinie aus, nicht Grundsätze allgemeiner Humanität, sondern deutsche Interessen seien für das politische Handeln ausschlaggebend. (Vgl. Dok. 11.06)



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