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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

05. Aussagen ausländischer Zeitzeugen über einen absichtlich und planvoll durchgeführten Genozid sowie die damit angestrebten Ziele

Dokument 5.21

Hinweise für Lehrkräfte

Entwicklung der jungtürkischen Ideologie und Praxis vom freiheitlichen Osmanismus zum nationalistischen „Türkismus“ oder „Turanismus“. Dies galt nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich.

Quelle

Matthias Bjørnlund: www.armenocide.net. A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. 1916-11-23-DK-001. Die „Tchataldja-Tage“ beziehen sich auf die Abwehrkämpfe 1912 an der Tchataldja-Linie, ca. 30 km westlich von Konstantinopel. Dies war während der Balkankriege 1912-13 die letzte osmanische Verteidigungslinie vor der Hauptstadt. Ende 1912 hatten bulgarische Streitkräfte das osmanische Heer hinter diese Linie zurückgedrängt und bedrohten somit Konstantinopel.






"Osmanismus", "Türkismus" oder "Turanismus".

Aus einem Bericht des dänischen Gesandten in Konstantinopel vom 23. November 1916 an den Außenminister


Wie ich schon früher häufig erwähnt habe, wurde die jungtürkische Partei gebildet und zur Macht geführt unter dem Banner des „Osmanismus“. Das Komitee hatte allein zum Ziel, dem Land eine freie Verfassung zu geben, und es arbeitete nach der Devise: Gleiches Recht für alle Osmanen.

Die führenden Jungtürken … hatten keine Verbindung zu der gleichzeitig entstehenden panislamischen Bewegung, und nur ein kleiner Kreis junger Dichter und Literaten hatte schon damals anstelle eines Osmanismus eine nationale türkische Bewegung im Auge.

Der Osmanismus erlitt jedoch schon bald Schiffbruch, und der Balkankrieg war in Wirklichkeit ein letztes Aufbäumen. Es hatte sich gezeigt, dass der Gegensatz zwischen den unterschiedlichen in der Türkei lebenden Volksgruppen zu groß war, und die meisten nicht-türkischen Osmanen waren zum kritischsten Zeitpunkt der Tchataldja-Tage tatsächlich bereit, sich an der Abwicklung der Türkei zu beteiligen.

Die Notsituation, in der sich das türkische Reich 1913 befand, trug dazu bei, alle Türken wachzurütteln …, und allmählich entwickelte sich aus der oben erwähnten literarisch-nationalen Clique eine Bewegung, die den „Osmanismus“ als Ideal der Jungtürken durch den „Türkismus“ oder „Turanismus“ ersetzte.

Als die besagte osmanische Idee schnell aufgegeben worden war – die nicht-türkischen Völker hatten von Anfang an versucht, die Verfassung zur [eigenen] nationalen Entfaltung zu benutzen – kam der Widerstand gegen den „Türkismus“ nicht aus den jungtürkischen Kreisen, sondern weit mehr von klerikalen, alttürkischen Bevölkerungsschichten.

Für diesen in keinster Weise unbedeutenden Teil der Bevölkerung war Nationalität ein unbekannter Begriff. Behauptet der Koran nicht, dass Allah nur Gläubige und Nichtgläubige kennt, und nicht verschiedene Nationalitäten? Für diese Kreise war eine türkische Bewegung, die aus nationalen Gründen sogar den Koran ins Türkische übersetzen lassen wollte, eine Abscheulichkeit.

Trotz allen direkten und indirekten Widerstands wurden die Jahre 1914 -16 für die führenden türkischen Kreise zu einem Sieg des „Türkismus“. Alle Jungtürken, die nun an der Macht waren, wurden eifrige Anhänger der nationalen Bewegung; die Universität wurde der Hauptsitz der „Turanbewegung“, wie die nationalistische Bewegung genannt wird, wenn die nationale Entwicklung nicht nur die Türken in der Türkei umfasst, sondern auch die Völker türkischer Abstammung, die in Südrußland, auf der Krim, in Turkestan, in Persien etc. leben. …

Gleichzeitig nahm die nationale Bewegung auch die wirtschaftlichen Verbände in ihre Dienste. Die Handelszweige, in denen das türkische Element eine Rolle spielt, haben alle ihre festen Innungen. Die Innungen arbeiteten für die nationale Idee mittels Boykott-Versuche gegenüber nicht-türkischen Händlern, es war die rein praktische Variante des nationalen Programms, welches besonders auf diese Bevölkerungsschicht ausgerichtet war. …

Überall erhebt die nationale Bewegung ihr Haupt. Nicht nur im Kampf um Reinheit der Sprache, im Verbot von Schildern in anderen Sprachen, im Versuch eine türkische Bühnenkunst wieder zu beleben, sondern auch in der Moschee selbst, wo das Gebet für den Kalifen nun auf Türkisch gelesen wird – noch vor wenigen Jahren wäre dies undenkbar gewesen. Und wirtschaftlich gesehen wird ein nationales Unternehmen nach dem anderen gegründet – rein türkische Transport- und Handelsgesellschaften etc. Jetzt soll eine türkische Nationalbank gegründet werden, die höchstwahrscheinlich die Funktionen der internationalen „Banque Ottoman“ übernehmen soll.



Copyright © 2014 Dr. Jörg Berlin: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved