[Close]
[de]

Deutsch




Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

07. Gebietsverluste des Osmanischen Reiches vor dem I. Weltkrieg

Dokument 7.02

Hinweise für Lehrkräfte

Türkei hat unter jungtürkischer Regierung schnelle Fortschritte gemacht, ist jedoch keine Großmacht. Ohne insbesondere österreichische Unterstützung hätte Lybien-Krieg ungünstigeren Verlauf genommen. Innenpolitisch gibt es weder eine freie Presse noch ein Parlament im eigentlichen Sinne. Komitee der Jungtürken beherrscht mit Hilfe der Armee den Staat.

Quelle

Politisches Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Zitiert nach: Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.), www.armenocide.net. A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. 1912-06-24-DE-001.






Die Türkei als Großmacht.

Aus einem Bericht des Botschaftsrats in Konstantinopel Mutius an den Reichskanzler Bethmann Hollweg vom 24. Juni 1912.


Ist die Türkei eine bündnisfähige Großmacht? … Bieten ihre inneren Verhältnisse eine Gewähr für ihren Bestand und für eine wirtschaftliche und politische Erstarkung?

Die erste Frage kann im gegenwärtigen Zeitpunkt unbedenklich verneint werden. Wie hoch man auch die Fortschritte einschätzen mag, die auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiete unter dem jungtürkischen Regime gemacht worden sind, so unterliegt es doch keinem Zweifel, dass auch die konstitutionelle Türkei noch kein einer europäischen Großmacht ebenbürtiger Partner geworden ist.

Die Türkei hat zwar im gegenwärtigen Kriege [gegen italienische Truppen in Lybien] eine gewisse passive Widerstandskraft gegenüber Italien bewiesen. Aber bei aller Anerkennung für das Organisationstalent der türkischen Führer in Tripolis und für die militärische Bedeutung der türkischen Armee, muss doch hervorgehoben werden, dass ohne den Druck der Großmächte auf die Balkanstaaten, ohne die vornehmlich der Einwirkung Österreichs zu dankende Beschränkung des Kriegsschauplatzes [auf Nordafrika], ohne die direkte und indirekte finanzielle Unterstützung Europas der Tripoliskrieg eine für die Türkei wesentlich ungünstigere Wendung genommen haben würde. …

Da muss zunächst hervorgehoben werden, dass das jungtürkische Regime es in den wenigen Jahren seiner Herrschaft verstanden hat, die Armee und bis zu einem gewissen Grade auch die Finanzen wesentlich zu bessern. Die Staatseinnahmen haben sich gehoben und die türkische Armee ist, welche Mängel ihr auch noch anhaften mögen, in ihrer modernen Schulung und Bewaffnung und bei den ausgezeichneten Eigenschaften des türkischen Soldaten zum mindesten in der Defensive eine sehr wirksame Waffe. Wenn die Türkei infolge ihrer besonderen internationalen Lage die langen Jahrzehnte militärischer Ohnmacht überstanden hat, ohne zugrunde zu gehen, so ist dies umso mehr zu erwarten, nachdem sie sich eine Achtung gebietende moderne Armee geschaffen hat. Die militärische Entwickelung der Türkei ist jedenfalls hinter derjenigen ihrer Balkannachbarn nicht zurückgeblieben.

Muss man somit anerkennen, dass die Widerstandsfähigkeit der jungen Türkei nach außen gewachsen ist, so ist die innere Stabilität des jetzigen Regimes noch keineswegs erwiesen. Die durch das Parlament und die Zeitungen Europa vorgetäuschte öffentliche Meinung gibt es vorläufig noch nicht. Der Sultan ist schwach. Die politische Organisation des Komitees beherrscht zwar das Land, aber nur, weil sie sich auf den einzigen realen Machtfaktor stützt, die Armee. Die Unzufriedenheit, die die Herrschaft des Komitees in der Bevölkerung erregt, ist solange ungefährlich, als sie nicht die Armee ergreift. Aber diese Möglichkeit liegt natürlich nahe. Man hört gelegentlich auch jetzt von unzufriedenen Stimmungen im Offizierskorps. ... Gelingt es hingegen der gegenwärtigen Regierung, … gestützt auf eine geschlossene Armee die Ruhe im Lande zu erhalten, so hat sie ihre Feuerprobe bestanden und kann getrost den Verlust der beiden fernen afrikanischen Provinzen verschmerzen. Mit jeder Bahnstrecke wächst die wirtschaftliche Bedeutung und militärische Macht der Türkei. Binnen wenigen Jahren kann sie in Friedensarbeit mehr gewinnen, als Tripolis und die Cyrenaika für sie wert sind.



Copyright © 2014 Dr. Jörg Berlin: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved