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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

05. Aussagen ausländischer Zeitzeugen über einen absichtlich und planvoll durchgeführten Genozid sowie die damit angestrebten Ziele

Dokument 5.19

Hinweise für Lehrkräfte

Osmanisches Reich bis zum Sturz des Suktans 1908/9 ein Vielvölkerstaat. Mohammedaner dominierten, aber andere Nationen führten trotz gelegentlicher Verfolgungen selbständiges Dasein. Jungtürken wollten Gleichheit aller Nationen. Als dies scheiterte und die verschiedenen Nationen im Reich sich nicht zu Osmanen umbildeten, folgte der Versuch, den Staat auf türkisch-nationaler Basis mächtig zu machen. Nach Armeniern könnten Griechen und Araber die nächsten Opfer sein.

Quelle

Haus-Hof- und Staatsarchiv, Politisches Archiv, Wien. Zitiert nach: Ohandjanian, Artem (Hg.), Österreich-Ungarn und Armenien 1912-1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke. Jerewan 2005, S. 346 ff.







Eine neue Ära in der Türkei.

Aus einem Schreiben des österreichischen Botschafters in Konstantinopel vom 8. April 1916 an den Außenminister in Wien


Während der Regierung des Sultans Abdul Hamid war das türkische Reich eine absolute Monarchie, die auf theokratischer Basis aufgebaut war; der Sultan war als Khalif anerkannter unumschränkter Herrscher über alle Mohammedaner seines weiten Reiches, in welchem sich nationale Strömungen, soweit die islamitischen Elemente in Betracht kamen, kaum bemerkbar machten.

Die nicht mohammedanischen Nationalitäten bildeten sozusagen Staaten im Staate. … Das osmanische Reich war bis zum Sturz Abdul Hamids ein großer islamitischer Staat, in dem die nicht mohammedanischen Nationalitäten, ein wenn auch durch periodische Verfolgungen gestörtes, so doch selbständiges Dasein führten.

Sie standen dem herrschenden islamitischen Volke als fremdes Element gegenüber und fanden trotz der Verfolgungen ihren Profit im Staate. Sie hatten den Handel und das Gewerbe in der Hand, und wenn auch unterdrückt und hart arbeitend, ernteten sie die Früchte ihrer Arbeit.

Die Revolution vom Jahre 1908 inaugurierte eine neue Ära in der Türkei. Die jungtürkische Bewegung war ursprünglich eine durchaus liberale. Der Sieg der Jungtürken wurde überall als eine Befreiung vom streng absolutistischen islamitischen Joch begrüßt und das Hauptlosungswort der Revolutionäre war Freiheit und Gleichheit für alle ottomanischen Staatsangehörigen ohne Unterschied der Religion, kurz die Abschaffung der scharfen Trennung zwischen dem herrschenden Islam und den unterdrückten Rajahs.

Unstreitig lag vom rein theoretischen Gesichtspunkte der Revolution eine gesunde Idee zu Grunde, man wollte durch Beseitigung der theokratischen Grundlage der Regierungsform und durch Einführung der Gleichberechtigung aller Religionen und Nationen einen modernen ottomanischen Staat schaffen, der im europäischen Völkerkonzert seinen Platz gefunden hätte.

Der Versuch, aus dem großen Reiche, das sich jahrhundertelang auf religiös-islamitischer Basis entwickelt hatte, einen modernen Rechtsstaat nach europäischen Begriffen zu machen, konnte aber praktisch nicht gelingen, weil durch Einführung der Gleichberechtigung aller Nationen und durch Aufhebung der islamitischen Vorherrschaft in dem ausgedehnten Reiche zu viel zentrifugale Kräfte ausgelöst wurden, [die auf eine Ablösung vom Osmanischen Reich hinwirkten.]

Den jungtürkischen Idealisten schwebte die [Schaffung] einer neuen Nation, der „ottomanischen“ vor. Sie bedachten nicht, dass die jahrhundertelang als Rajahs behandelten Völkerschaften sofort zu irredentistischen Elementen werden würden, die in der Angliederung an ihre außerhalb des Osmanischen Reiches lebenden Stammesbrüder die Realisierung ihrer nationalen Träume erblicken würden. … [Die jungtürkische Revolution] hat die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens provoziert. Hierauf folgte die italienische Aktion in Tripolis, und eine unmittelbare Folge des italienisch-türkischen Krieges war der Balkankrieg.

Durch diesen unglücklichen Feldzug wurden die Jungtürken aus ihrem idealistischen Traum gerissen und sie erkannten, … dass aus den verschiedenen in der Türkei wohnenden Nationen ein Einheitsstaat nie und nimmermehr zusammen geschweißt werden könne. … Sie erkannten, dass die nichtmohammedanischen Nationen im Innern gefährliche Feinde geworden waren, die auch noch von konnationalen Nachbarstaaten in ihren Sonderbestrebungen begünstigt wurden, und dass sogar die mohammedanische Welt im Reich nicht mehr einig war.

Die Jungtürken mussten daher allen ihren Prinzipien untreu werden und den Aufbau eines dauernden Staatsgebildes auf anderer Grundlage versuchen. Die Rückkehr zum alten theokratischen Staate war nicht mehr möglich und so wurde ein neuer Versuch unternommen, den Staat auf türkisch-nationaler Basis zu reformieren und lebensfähig und mächtig zu machen. Natürlich mussten die früheren Ideale der Gleichheit und Freiheit über Bord geworfen werden, und es wurde eine neue Ära der Unterdrückung der fremden Nationen inauguriert, welche für dieselben umso gefährlicher ist, als die neue Bewegung die alte türkische Duldsamkeit alles dessen, was den Herrschenden nicht stört, vermissen ließ. …

Die jetzigen Machthaber sahen im Ausbruche des Weltkrieges den günstigen Moment, die Neugestaltung der Dinge [im Osmanischen Reich] von den anderen Staaten ungestört herbeiführen und einen national-türkischen Staat der Unterdrückung aller anderen Nationalitäten zu können.

Sie haben auch geglaubt, in den Zentralmächten [Deutschland und Österreich-Ungarn] eine Stütze ihrer Politik zu finden, weil die … Aufteilungspolitik gerade von Deutschland und Österreich-Ungarn bekämpft worden war und diese beiden Staaten das größte Interesse an der Erhaltung der Integrität [am unveränderten Bestand] des ottomanischen Reiches hatten. …

Leider haben die jungtürkischen Machthaber, welche sich unter dem Schutz der Allianz stark genug fühlten, ihr Programm durchzuführen, die Situation ausgenützt, um gegen die nichttürkischen Nationalitäten in der schärfsten Weise aufzutreten. Talaat und ihr Anhang konnten nun während des Krieges so gegen die armenische Nation vorgehen und auch die anderen Nationen [in ihrem Reich] so einschüchtern, dass heute ihr Ideal des türkischen Nationalstaates beinahe verwirklicht erscheint.

Am liebsten hätten die Jungtürken auch gegen die Griechen dasselbe unmenschliche System angewendet, wie gegen die Armenier und sind sie nur durch Gründe der äußern Politik [einen Kriegseintritt des griechischen Staates] davon abgehalten worden. Ebenso sollen die Araber zu Vasallen der türkischen herrschenden Rasse herabgedrückt und durch Terrorismus niedergehalten werden. …

Es beschleicht einen unwillkürlich die Befürchtung, dass die zentrifugalen Kräfte, zu denen nach dem Krieg auch das mohammedanisch-arabische Element kommen wird, durch die Durchführung der jetzigen jungtürkischen Staatsidee erst recht ausgelöst werden könnten.



Copyright © 2014 Dr. Jörg Berlin: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved