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Buch

Unterrichtsmaterial über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 von Jörg Berlin

Kapitel

11. Mitverantwortung des Deutschen Reiches für den Genozid

Dokument 11.6

Hinweise für Lehrkräfte

Zumindest ein deutscher Botschafter, Graf Wolff-Metternich, versuchte, Reichsregierung zu entschiedenem Einschreiten gegen türkische Vernichtungspolitik zu bewegen. Hatte selbst scharf bei jungtürkischen Führern protestiert. Stellungnahme des Reichskanzlers Bethmann Hollweg 17.12. 1915: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

Quelle

Politisches Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Zitiert nach: Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.), www.armenocide.net. A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. 1915-12-7.






Armeniergreuel ernstlich besprochen.

Bericht des Botschafters in außerordentlicher Mission in Konstantinopel, Wolff-Metternich, vom 7. Dezember 1915 an den Reichskanzler Bethmann Hollweg. auf den dieser mit einer prinzipiellen Aussage zur deutschen Armenier-Politik reagiert.


Ich habe die Armeniergräuel im Laufe der letzten Woche mit Enver Pascha, mit Halil Bey und heute mit Djemal Pascha ernstlich besprochen und darauf hingewiesen, dass Unruhe und Empörung auch im befreundeten Ausland und in Deutschland weite Kreise ergriffen habe und der türkischen Regierung schließlich alle Sympathien entziehen würde, wenn nicht Einhalt geschehe. Enver Pascha und Halil Bey behaupten, dass keine ferneren Deportationen - insbesondere nicht aus Konstantinopel - beabsichtigt seien. Sie verschanzen sich hinter Kriegsnotwendigkeiten, dass Aufrührer bestraft werden müssten, und gehen der Anklage aus dem Wege, dass Hunderttausende von Frauen, Kindern und Greisen ins Elend gestoßen werden und umkommen. Djemal Pascha sagt, dass die ursprünglichen Anordnungen notwendig gewesen seien, ihre Ausführung aber schlecht organisiert worden sei. Er leugnet nicht, dass infolgedessen traurige Zustände herrschten, die er durch Zuführung von Lebensmitteln und Geld zu lindern bestrebt sei. Es ist dies richtig. Seine Etappenstrasse bei Aleppo ist infolge des Elends der Flüchtlinge verseucht, und er sucht nach Abhülfe, hat auch mehrere Personen, die die Flüchtlinge bestohlen haben, aufhängen lassen. Oberst von Kress, der Chef des Stabes Djemals, sagt mir, dass das Elend jeder Beschreibung spotte und alle Schilderungen übertreffe. Dabei wird im Lande verbreitet, die Deutschen wünschten die Massakres.

Ich habe eine äußerst scharfe Sprache geführt. Proteste nützen nichts, und türkische Ableugnungen, dass keine Deportationen mehr vorgenommen werden sollen, sind wertlos.

Von vertrauenswürdiger Seite erfahre ich, dass nach Auskunft des hiesigen Polizeipräsidenten, die ich bitte geheim zu halten, auch aus Constantinopel neuerdings etwa 4000 Armenier nach Anatolien abgeführt worden sind, und dass mit den 80 000 noch in Constantinopel lebenden Armeniern allmählich aufgeräumt werden soll, nachdem schon im Sommer etwa 30 000 aus Constantinopel verschickt und andere 30 000 geflohen sind.

Soll Einhalt geschehen, so sind schärfere Mittel notwendig.

Ich schlage daher folgende Veröffentlichung in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ vor, mit der Weisung an mich, dass sie im Auftrage der Kaiserlichen Regierung erfolgt sei:

„Infolge der zahlreichen Nachrichten, die über das traurige Los der aus ihren bisherigen Wohnstätten nach anderen Gegenden umgesiedelten armenischen Bevölkerung der Türkei zum Teil aus der ausländischen Presse nach Deutschland gelangt sind, hat in weiten Kreisen des deutschen Volkes eine zunehmende Beunruhigung Platz gegriffen. Wenn schon es jedem Staate, zumal in Kriegszeiten, frei stehen muss, gegen aufrührerische Elemente seiner Bevölkerung mit aller Strenge des Kriegsrechts vorzugehen, so muss es bei Ausführung der zur Sicherheit des Staates erforderlichen Maßnahmen doch vermieden werden, dass unter dem Verschulden Einzelner ein ganzer Volksstamm einschließlich Greisen, Frauen und Kindern zu leiden hat. Mit Rücksicht auf die engen freundschaftlichen Beziehungen, die durch das Bündnisverhältnis zwischen der Türkei und Deutschland bestehen, hat die Kaiserliche Regierung es für ihre Pflicht gehalten, sobald die ersten Nachrichten über die bei Umsiedelung der armenischen Bevölkerung vorgekommenen tief bedauerlichen Vorgänge, die hauptsächlich durch die Missgriffe von Unterbehörden entstanden zu sein scheinen, zu ihrer Kenntnis gelangt sind, die türkische Regierung in nachdrücklicher Weise durch die Kaiserliche Botschaft in Konstantinopel auf die Ausschreitungen und Härten aufmerksam zu machen, und wiederholt, schriftlich und mündlich, ihre Abstellung zu verlangen. Die Kaiserliche Regierung hofft ernstlich sowohl im Interesse der Türkei selbst als in dem des armenischen Volksstammes, dass diesen Vorstellungen Folge gegeben wird."

Auch soll man in unserer Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufhören. Was sie leisten, ist unser Werk, sind unsere Offiziere, unsere Geschütze, unser Geld. Ohne unsere Hülfe fällt der geblähte Frosch in sich selbst zusammen.

Wir brauchen gar nicht so ängstlich mit den Türken umzugehen. Leicht können sie nicht auf die andere Seite schwenken und Frieden machen. Mit den jetzigen Machthabern wird die englische Regierung nicht leicht paktieren, schon eher mit Djemal, wenn er, was nicht ausgeschlossen ist, Enver verdrängen sollte. Die englische Regierung sucht seit Jahren Enver zu Fall zu bringen. Dass sie einen Separatfrieden mit den jetzigen Machthabern anstrebt, ist höchst unwahrscheinlich. Noch viel unwahrscheinlicher, dass sie Enver Pascha für allgemeine Friedens-Sondierungen benutzt. Es stehen ihr hundert andere Kanäle hierzu offen.

Um in der Armenierfrage Erfolg zu haben, müssen wir der türkischen Regierung Furcht vor den Folgen einflössen. Wagen wir aus militärischen Gründen kein festeres Auftreten, so bleibt nichts übrig, als mit ferneren erfolglosen Verwahrungen, die mehr verärgern als nützen, zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert.

Die Seele der Armenierverfolgungen ist Talaat Bey. Er kehrt erst Ende der Woche aus Anatolien zurück. Ich werde erst dann erfahren, welche Wirkung meine Besprechungen mit seinen Kollegen und Djemal auf ihn haben. Ich schlage daher vor, mit der Veröffentlichung in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung zu warten, bis ein ferneres Telegramm von mir eintrifft.

[Anmerkung des Unterstaatssekretärs Zimmermann 16. 12.:] Das werden wir jedenfalls tun müssen. Der Artikel wird aber m. E. vor Veröffentlichung zu mildern sein. In vorliegender Form würde er der Entente zu sehr passen.

[Anmerkung des Statssekretärs Jagow:] Namentlich muß der Schluß freundlicher für die türkische Regierung gehalten sein.

[Stellungnahme des Reichskanzlers Bethmann Hollweg 17.12.:]

Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung [Ausschelten, zur Rede stellen] eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist.

Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen.



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