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Kapitel

10. Der Genozid in der offiziellen türkischen Version



Autor

Jörg Berlin

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10. Der Genozid in der offiziellen türkischen Version

In vorhergehenden Kapiteln wurde die Frage nach der expliziten Begründung des Vorgehens jungtürkischen Führung gegen die Armenier nur nebenbei behandelt.

Im April 1915 ließ Talaat Bey, der jungtürkische Innenminister die gesamte armenische Führungsschicht in Konstantinopel schlagartig verhaften. Er erklärte diese erste offen eingestandene Repressionsmaßnahme gegen die Armenier des Osmanischen Reiches mit dem Argument, bei einer ungünstigen Wendung des Krieges hätten die Verhafteten mit ihren Anhängern und durch Zeitungen Unruhen anzetteln können.

Er verwies damit indirekt auf die seit März 1915 von einem Angriff alliierter Flottenverbände auf die Dardanellen und Gallipoli ausgehende Gefahr. Unter dem Vorwand, eine Unterstützung der Angreifer von der Landseite müsse verhindert werden, hatte es bereits seit dem 10. April brutale Vertreibungen von christlichen Osmanen, meist Griechen, von der Halbinsel Gallipoli und den Küsten des Marmarameeres gegeben.

Das wenig später veröffentlichte Deportationsgesetz vom Mai 1915 zielte formal betrachtet nicht auf bestimmte Nationalitäten. (Vgl. Dok. 10.1) Darin war auch nicht von einer Auslöschung der armenischen Bevölkerung die Rede. Diese verlief in öffentlichen Bekanntmachungen unter verharmlosenden Bezeichnungen wie „Umsiedlung“, „Wiederansiedlung“, „Verschickung“. Solche Maßnahmen sollten vorgeblich ohne besondere Härten und nur bei militärischer Notwendigkeit gegen Verrätereien und bei Gefahr von Spionage erfolgen. (Vgl. Dok. 10.04) Die sogenannten „Deportationen“ insbesondere in der Zeit nach den Kämpfen um Van (vgl. hierzu die entsprechenden Fotos.) wurden propagandistisch durch angeblich im Rücken der kämpfenden Front drohende Aufstände, die von den Armeniern mit den Russen abgesprochen seien, legitimiert. Von planmäßigen Massenmorden war dabei nicht die Rede.

Die offiziöse deutsche Berichterstattung übernahm Behauptungen dieser Art, obgleich aus den Berichten der deutschen Diplomaten vor Ort sehr früh deutlich war, dass die Formulierungen des Gesetzes und der veröffentlichten Anordnungen weder hinsichtlich der Behandlung der „Deportierten“ noch bei der Zielsetzung der Verantwortlichen der Wahrheit entsprach. (Vgl. Dok. 10. 2 und Dok. 10.4)

Zu diesem Ergebnis kamen nicht nur Europäer, sondern nach dem Ende des I. Weltkriegs erklärten türkische Staatsanwälte und Richter in zahlreichen Prozessen, Anklagen und Urteilen, die sogenannten „Deportationen“ seien in Wirklichkeit ein mit dem Ziel der Auslöschung der Armenier begangenes Verbrechen; die „offiziösen“ Stellungnahmen der Jungtürken aus den Jahren 1915/16 über Gründe und Ziele der „Umsiedlungen“ seien absichtlich falsch gewesen.

50 Jahre später neigten Leugner des Genozids dazu, überhaupt jedes Fehlverhalten gegenüber den Armeniern abzustreiten. Dem ist entgegenzuhalten, dass selbst die offiziöse türkische Geschichtsschreibung von etwa 400 000 umgekommenen Armeniern ausgeht und auch Talaat Bey, der hauptverantwortliche politische Führer, in seinen Memoiren hinsichtlich der armenischen Opfer zumindest von Plünderungen, fanatischen Tätern, „Misshandlungen und Grausamkeiten“ spricht, die eigentlich viel stärker hätten verfolgt und bestraft werden müssen. (Vgl. Dok. 10.05)

Allein aus diesen Angaben müsste von Seiten der Türkei ein besonderer Umgang mit der armenischen Nation und deren Leiden folgen.

Nachdem das Thema „Völkermord an den Armeniern“ in der Türkei lange Zeit ein Tabu gewesen war, wandten sich ihm – allerdings in apologetischer Weise - auch von der Regierung unterstützte Historiker zu. Manche spitzten ihre in Details durchaus zutreffende Kritik an Berichten von Zeitzeugen des Völkermords und ähnlichen Dokumenten in dem Sinne zu, dass sie behaupteten, diese wären Fälschungen. Es gäbe kein einziges Dokument mit Echtheitsanspruch, dass die Behauptung stütze, die ottomanische Regierung sei 1915/16 in eine systematische Auslöschung der Armenier verwickelt gewesen. Ein Ereignis, das nicht stattgefunden habe, könne auch kaum durch Dokumente belegt werden. (Vgl. zum historischen Kern solcher Positionen Dok. 10.06 und Dok. 10.07) Rassistische Aussagen wie die des jungtürkischen Führers und Arztes Dr. Reschid Bey gegenüber dem Generalsekretär des jungtürkischen Komitees „Einheit und Fortschritt“ werden als Auswüchse und untypische Einzelfälle dargestellt. Reschid Bey, der für die brutale, öffentliche Auslöschung der Christen u. a. in der Provinz Diarbakir verantwortlich war, hatte erklärt: „Die armenischen Banditen waren eine Masse gefährlicher Mikroben, die den Körper des Vaterlandes infizierten. Ist es nicht die Pflicht des Arztes, Mikroben zu töten?“ (Vgl. Dok. 10.10)

Die Frage, ob das, was den Armeniern angetan wurde, der Absicht der Regierenden entsprach, diskutierten ausländische Zeitzeugen wie der amerikanische Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau sen., bereits während des I. Weltkrieges wiederholt mit dem führenden Jungtürken und amtierenden Innenminister Talaat Bey. (Vgl. Dok. 10.11.) In dem Werk „Ambassador Morgenthaus´s Story“ werden diese Gespräche prägnant resümiert: „Er (Talaat) teilte mir mit, das Komitee ´Einheit und Fortschritt´ habe die Angelegenheit in allen ihren Einzelheiten sorgfältig untersucht. Die Art und Weise, wie vorgegangen würde, entspräche dem, was sie offiziell beschlossen hätten. Er sagte, ich sollte nicht glauben, über die Deportationen sei in Eile entschieden worden. Diese wären in Wirklichkeit das Ergebnis langer und gründlicher Beratung.“ In einem ähnlichen Gespräch mit dem Kriegsminister Enver Pascha versuchte H. Morgenthau, diesem eine Brücke zu bauen und äußerte, das Komitee könne sicherlich nicht für all die schrecklichen Übergriffe gegen die Armenier verantwortlich gemacht werden, zweifellos würden dabei Untergebene ihre Befugnisse überschreiten.

Enver antwortete, hier irre Morgenthau sich: „Wir haben dieses Land völlig unter unserer Kontrolle. Ich habe nicht die Absicht, Verantwortung auf Untergebene abzuschieben. Ich beabsichtige, die Verantwortung für ausnahmslos alles zu übernehmen, was geschah. Das Kabinett hat die Deportationen angeordnet, und ich bin überzeugt, dass unsere Maßnahme wegen der feindlichen Einstellung der Armenier gegen das Osmanische Reich hierbei vollkommen gerechtfertigt ist. Wir sind in der Türkei wirklich die Herrscher und kein Untergebener würde bei einer Sache dieser Bedeutung wagen, ohne unsere Befehle zu handeln.“

(Das Werk ist in engl. und türkischer Sprache komplett im Internet verfügbar. www.wikipedia.org. External link: Ambassador Morgenthau´s Story)

In entsprechender Weise antwortete der Kriegsminister Enver Pascha ebenfalls auf die Frage des deutschen Pfarrers Johannes Lepsius, der Anfang August 1915 ein angekündigtes, längeres Gespräch über die Behandlung der Armenier mit der Frage begann, ob das, was im Inneren Anatolien vor sich gehe, wirklich mit Envers Wissen und Willen geschehe: „Ich übernehme die Verantwortung für alles.“ Dann begründete der Pascha die Vorgänge wiederum mit militärischer Notwendigkeit, die in Kriegszeiten ein konsequentes Vorgehen gegen revolutionäre Elemente unumgänglich gemacht hätte.

Hinweise für die Beantwortung der Frage nach Zielen und den Verantwortlichen des Vorgehens gegen die armenische Bevölkerung gibt es in großer Zahl in Berichten europäischer und amerikanischer Augenzeugen. Deutsche, Schweizer und amerikanische Missionare sowie deutsche, österreichische, amerikanische Konsuln und Botschafter hielten ihre Wahrnehmungen in einer Vielzahl unabhängig voneinander entstandener Dokumente fest. (Vgl. Dok 10. bis Dok. 10.22 sowie Kapitel 5)

Ein besonders gutes Beispiel für die Gruppe jener, die Anfang 1915 den Darstellungen der türkischen Regierung glaubten und Berichte über Massaker zunächst für Hirngespinste hielten, ist der Missionar Hans Bauernfeind in Malatia. (Vgl. Dok.10.11 und Dok. 12.10) Die Klagen und Ängste der Armenier seiner Umgebung erschienen ihm als hysterisch und dermaßen erlogen und bösartig, dass er bald die gesamte armenische Nation verabscheute. Erst als nach Verhaftungen und Folterungen von Armeniern immer mehr Leichen selbst auf dem Gelände seiner Missionsstation gefunden wurden und der örtliche Bürgermeister ihm insgeheim verriet, dass sämtliche rüstigen Männer umgebracht wurden, bevor die Deportationen begannen, durchschaute er das System der „Deportationen“ und trug am 2. Juli 1915 in sein Tagebuch ein: „Woanders hin geschickt“ das scheint nach dem jetzigen Sprachgebrauch zu bedeuten „töten“, während „gehen“ sterben, das heißt auf gewaltsame Weise, bedeutet. … Übrigens soll es in Mesereh, Sivas, Erzerum, Ersinghan, Cäsarea usw. gerade so zugehen wie hier. Es ist ein Befehl von oben, natürlich reiflich vorbereitet. Wie entsetzlich hat man uns betrogen…“ (Vgl. Dok. 10.13. Der komplette Text ist auf www.aga-online.org/texte verfügbar).

Während Zeitzeugen im April 1915 nur die einzelnen Massaker und Morde in ihrem Umfeld sahen und notierten, gelangten sie bereits im Juni zu anderen Einsichten. (Vgl. Dok. 10.22 und Dok. 10.23) Anlässlich zahlreicher in Konstantinopel einlaufender Meldungen über Deportationen notierte der deutsche Generalkonsul in Konstantinopel, Mordtmann, am 30. Juni eine persönliche Mitteilung des entscheidenden jungtürkischen Führers, die gar nicht zu dessen offiziellen Stellungnahmen passte: „Das lässt sich nicht mehr durch militärische Rücksichten rechtfertigen; es handelt sich vielmehr, wie mir Talaat vor einigen Wochen sagte, darum, die Armenier zu vernichten.“ (www.armenocide.net 1915-06-30-DE-001)

Berichte, die der offiziellen türkischen Version über die Behandlung der Armenier widersprachen, kamen im Jahr 1915 aus den verschiedensten Teilen des Osmanischen Reiches. Aus Samsun telegraphierte am 4. Juli der deutsche Konsul Kuckhoff: Es handele sich um nichts weniger als „die Vernichtung oder gewaltsame Islamisierung eines ganzen Volkes, dessen Angehörige zum größten Teil … unschuldige Opfer sind. Die Art der Ausführung des Verbannungsbefehls droht Formen anzunehmen, die nur in der Judenverfolgung Spaniens und Portugals ein Gleichnis finden.“ Der deutsche Botschafter Wangenheim berichtete am 7. Juli aus Konstantinopel: „ …die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeig(t), dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse zu vernichten.“ Am 9. Juli schrieb – unabhängig davon – der deutsche Konsul in Trapezunt, Bergfeld, an den Reichskanzler, er könne sich „des Eindrucks nicht erwehren, dass das jungtürkische Komitee als treibende Kraft für das Vorgehen gegen die Armenier anzusehen (sei). Das Zentralkomitee scheint auf diese Weise der armenischen Frage endgültig ein Ende machen zu wollen.“ Am 27. Juli kam aus Aleppo vom dortigen Konsul, Walter Rößler, die Meldung: „Über die Ausrottung der Armenier im Osten hier eintreffende zuverlässige Nachrichten sind grauenerregend. Den Euphrat treiben von neuem und in verstärktem Maße Leichen herunter, diesmal hauptsächlich Frauen und Kinder.“ Am 28. Juli teilte der Vizekonsul in Erzerum, Erwin von Scheubner-Richter, dem Botschafter in Konstantinopel mit: Von lokalen Anhängern des Komitees „Einheit und Fortschritt“ werde „unumwunden zugegeben, dass das Endziel ihres Vorgehens gegen die Armenier die gänzliche Ausrottung derselben in der Türkei sei.“ In einem ausführlichen Schreiben vom 10. August notierte er folgende Überlegung: „ Ich will hier davon absehen, dass diese Regierungsmaßnahmen in einer Form ausgeführt wurden, die einer absoluten Ausrottung der Armenier gleichkam.“ (Vgl. www.armenocide.net 1915-08-10-DE-001) Am 23. August fasste der deutsche Oberstleutnant Stange in einem detaillierten Geheimbericht an die deutsche Militärmission seine Beobachtungen im Bereich Erzerum zusammen: „Die Austreibung und Vernichtung der Armenier war vom jungtürkischen Komitee in Konstantinopel beschlossen, wohl organisiert und mit Hilfe von Angehörigen des Heeres und Freiwilligenbanden durchgeführt. Dazu befanden sich Mitglieder des Komitees hier an Ort und Stelle.“ ( Vgl. www.armenocide.net 1915-07-28-DE-015) Am 24. Juli übermittelte der amerikanische Konsul L. Davies aus Harput einen Bericht: „Dass die Verordnung offiziell und nominell lautet, die Armenier aus diesen Provinzen zu verschicken, könnte die Welt draußen für einige Zeit täuschen, aber die Maßnahme ist tatsächlich nichts anderes als ein Massaker der grausamsten Art. Das würde sie auch sein, wenn man den Leuten erlaubt hätte, am Straßenrand zu krepieren. Da der größere Teil jedoch ermordet wurde, und es keinen Zweifel gibt, dass dies auf Anordnung der Regierung geschah, kann nichts darüber hinwegtäuschen, dass diese Aktion nichts anderes ist als ein unbegrenztes Abschlachten.“

10a Die Version der jungtürkischen Führung
Dokumente 10.01 bis 10.11



10b Kritik an der türkischen Version von zeitgenössischen Beobachtern
Dokumente 10.12 bis 10.23



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